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Reise: Beim Waldkönig

Jürgen Bergmann zog aus, um als Einsiedler zu leben – heute besuchen Tausende sein Reich auf der „Kulturinsel“ in Sachsen

Trollpforte heißt der Eingang, dahinter liegen fünf Hektar wild gewordene Fantasie: Kinder reiten auf hölzernen Fabeltieren, bewacht von Baumskulpturen mit aufgerissenen Augen. In den Wipfeln hängen windschiefe Baumhäuser, kleine Jungs klettern Strickleitern hinauf und toben über Hochbrücken. In der Rutsche des Geisterschlosses wimmern gefangene Seelen, im düsteren Zauberwald versinken zwischen schwarz-weiß gestreiften Kiefern Grabkreuze im Boden, und aus den Vogelhäuschen streichen tiefe Geigen.

Der Schöpfer dieser Parallelwelt, Jürgen Bergmann, stapft an einem Frühlingsmorgen in Sandalen durch seinen Wald, die weiße Mähne zum Zopf gebunden, den Blick in die Wipfel gerichtet. Dann bleibt er stehen und nickt. Er reißt am Seilzug seiner Kettensäge, und einen langen Schrei später kracht eine 20 Meter hohe Kiefer zu Boden – sie soll als Blitzableiter auf dem „Krönum“ thronen, einem Theaterrestaurant für 200 Gäste.

Das Krönum ist das neueste Projekt der „Kulturinsel Einsiedel“, einem Freizeitpark im sächsischen Zentendorf an der Grenze zu Polen. Vor drei Jahrzehnten zog Jürgen Bergmann hierher, auf einen verlassenen Waldbauernhof, um als Einsiedler zu leben. Ein Plan, der grandios scheiterte. Heute besuchen ihn mehr als 100 000 Menschen im Jahr.

Der Park hat eine eigene Kunstgalerie, ein Museum, fünf Bühnen, zwei Restaurants, ein Café und 250 Betten – 40 davon zwischen den Baumkronen, in Deutschlands erstem Baumhaushotel: Schmale Stege verbinden die zehn Meter hoch gelegenen Holzhäuser namens „Modelpfutzens Wipfelgipfel“ oder „Thor Alfons Astpalast“. Geduckt tritt man über die knarrende Schwelle, alles hier scheint etwas zu klein, doch auf den zweiten Blick zeigt sich ungeahnter Komfort: Unter der rustikalen Holzbrille offenbart sich statt des erwarteten Plumpsklos eine blitzsaubere Keramikschüssel, aus den glänzenden Armaturen fließt warmes Wasser und hinter einer Eichenwand in der Küche ist ein Surren zu vernehmen: der Kühlschrank.

Auf den Balkons lesen die Gäste zum Sonnenaufgang die parkeigene Zeitung, den „Irrgärtner Boten“, oder das Comicheft „Turi Sede“, in dem sich Bergmanns Familie und Mitarbeiter zu Waldgeistern, Trollen und Elfen verwandeln. Herrscher dieser seltsam realen Märchenwelt ist ein weiser Mann mit Bart und langen weißen Haaren: Bergamo, der Waldkönig.

Mittags steht Bergmann in speckigem Hemd und staubigen Jeans auf der Baustelle des Krönum, für den er am Morgen den Blitzableiter gefällt hat. Noch ist das Gebäude ein Gerippe, eine Großbaustelle ohne rechten Winkel, Bäume statt Balken, Äste statt Bretter. Etwa 50 Arbeiter sägen, hämmern und bohren in diesem Labyrinth aus krummen Treppen und schiefen Brücken. Wo der Bauplan ist? Es gibt keinen.

Bergmanns windschiefe Bauwerke entstehen zuerst als Miniaturen aus Pappe und Holz, die vermessen und – 25 Mal größer – nachgebaut werden. Jedes Werk ist ein Unikat. „Wir arbeiten wie ein Einzelkünstler“, sagt Bergmann, „wir bauen alles nur ein Mal.“ Die Aufträge kommen aus ganz Europa: ein Baumhausdorf in Nizza, eine Westernstadt in Cordoba und einen Spielplatz für das Hilton Hotel an der Algarve. Beim Krönum allerdings gibt es nicht einmal ein Pappmodell. „Eigentlich sollte dies hier nur ein kleiner Frühstücksraum werden“, sagt Bergmann und grinst, die buschigen weißen Brauen hochgezogen. „Wir entscheiden live am Bau.“

Wozu das führen kann, zeigt sich am nächsten Morgen. Drei Tage vor der Einweihung des Krönums ruft Bergmann seine Führungsriege zusammen: Die Bank fordert eine Übersicht der Gesamtkosten. Der Weg ins Chefbüro führt vorbei an einem Gehege mit Hühnern und Graugänsen, ein freilaufender Pfau hat die Federn aufgestellt, aus einem Käfig flüstert Coco, der sprechende Kakadu. Von der Veranda seines Wohnhauses aus gelangt man über eine schmale Holzbrücke ins Büro.

Von einem Wandregal baumeln die Füße der Stofffiguren Modelpfutz und Bodelmutz, zwei Helden des Turi-Sede-Comics, auf der Fensterbank stehen ausgestopfte Fabeltiere, zusammengesetzt aus Hasenfell, Hechtmaul und Hühnerfüßen, daneben stapeln sich Kinderbücher: „10 kleine Zwerge“, „Mama Muh räumt auf“ und „Alles über Piraten“.

Bergmann trägt Socken in seinen Sandalen. Links schwarz, rechts weiß, genau anders herum als gestern. „Wir haben hier eine ernste Sache“, sagt er und schließt die Tür, um das Gekreische der Kettensägen zu dämpfen. Zwei Bauleiter, eine Architektin, eine Buchhalterin und seine Schwester Elke sind gekommen. Vor Bergmann liegen zwei handgekrakelte Zettel: „Ich gehe das jetzt mal durch, ohne direkte Logik.“ Hinter dem Wort Brandschutz steht eine 20. Soll heißen: Er schätzt 20 000 Euro. Keiner der Anwesenden weiß Genaueres. Statikprüfung? Der Bauleiter kann es nicht sagen: „Da müsste ich jetzt ins Blaue schätzen.“ „Na gut“, sagt Bergmann, „tausendfünfhundert.“ Auf seinem Zettel notiert er 1,5. Die Musikanlage kostet 46 000, mit Duftmaschine und Steuerpult, die Küche 167 000. „Wovon reden wir hier eigentlich?“, fragt der Bauleiter, „brutto oder netto?“

Zahlen sind nicht Bergmanns Welt. Er kommt 1957 im ostdeutschen Zittau zur Welt und wächst in der Gärtnerei seiner Eltern auf. Die Wurzeln seiner Naturliebe liegen tief, schon sein Ururgroßvater war Gärtner. Wer den Jungen sucht, findet ihn in der Wildnis zwischen Bäumen, Büschen und Sträuchern. Am dritten Tag im Hort ruft die Kindergärtnerin an: „Den Jungen müsst ihr wieder heimholen. Der redet mit niemandem und läuft den ganzen Tag am Zaun auf und ab wie ein gefangenes Tier.“ Sein Vater holt ihn zurück nach Hause, nach „Kentucky“ – so nennt er das verwucherte Armeegelände, auf dem er Pfeil und Bogen schnitzt und Wachtposten angreift.

Die Schule macht ihm Probleme. Statt zu lernen baut er Baumhäuser und erfindet Spiele. Mit 10 Jahren baut er sein Kinderzimmer aus, mit 14 zimmert er sich eine Hütte im Gebirge. Mit 16, als die Schule endlich vorbei ist, packt er seinen Rucksack und trampt durch Polen und die Tschechoslowakei.

In der Holzfällerlehre ist er der Beste, niemand sägt so geschickt wie er. Während eines Praktikums wohnt er auf einem einsamen Bauernhof in den Wäldern der Neißeaue. Dem alten Mann, dem der Hof gehört, sagt er: Wenn Sie verkaufen, dann nur an mich.

Bei der Armee schnitzt er Indianer für die Offiziere, danach macht er eine Ausbildung zum Holzbildhauer. Er leiht sich Geld vom Vater und kauft für 10 000 Ostmark den Hof des alten Mannes. Jahrelang tingelt er über Volksfeste und Mittelaltermärkte, verkauft selbst gemachte Kerzenständer und Butterförmchen. Wenn er genug eingenommen hat, zieht er sich zurück in seinen Wald und schnitzt Fratzen in knorrige Birken.

Mit der Wende kommen die Probleme. Im Osten gibt niemand mehr Geld aus, weil alle auf ein Westauto sparen; im Westen importieren sie Butterförmchen aus der dritten Welt. Er muss sich etwas einfallen lassen – und ihm fällt etwas ein: Er macht alles eine Nummer größer. Am 1. Juli 1990, dem Tag der Währungsunion, gründet er die „Künstlerische Holzgestaltung Jürgen Bergmann“.

Heute, 20 Jahre später, hat die Firma 130 Mitarbeiter. Am Tag der Generalprobe des Krönums stehen sie mit Turbanen und bunten Kaftans verkleidet vor der Tür des Restaurants, als Testpublikum für das große Rollenspiel, bei dem zwölf Königsanwärter während eines Vier-Gänge- Menüs um die Thronfolge kämpfen.

Drinnen kniet Bergmann in einem goldbestickten Gewand neben drei Elektrikern in Blaumännern und ruckelt an einer Trommelsteckdose. Einige Lampen sind noch dunkel, woanders regnet es rein, ganz oben fehlt eine Tür. Dann, endlich, Bergmann tritt vor sein Volk und ruft: „Folgt mir!“ Und sie folgen ihm, ihrem Herrscher, Bergamo, dem Waldkönig.

Julius Schophoff

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