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Reise: Bergklee schmeckt besser

Zwischen hohen Gipfeln und tiefen Tälern besinnen sich Tiroler auf ihre Naturschätze. Was sie daraus machen, darf probiert werden.

„Das hier ist der wichtigste Partner“, erklärt Hansjörg Haag und lächelt verschmitzt. Er deutet auf eine Zeichnung, die eine keck blickende Kuh zeigt. „Ohne das Tiroler Grauvieh ginge nichts.“ Denn die Rinderrasse, die seit mehr als 3000 Jahren auf den Hochalmen Tirols weidet und nie mit anderen gekreuzt wurde, ist nicht nur besonders gut ans Leben im Gebirge angepasst. Vor allem im Sommer, den sie auf den kräuterreichen Bergwiesen verbringt, gebe diese Kuh auch eine köstliche Milch, die einfach mit keiner anderen zu vergleichen sei, schwärmt Haag. Da macht es gar nichts, dass sie weniger – kaum mehr als die Hälfte – produziert als andere Rassen. Die reine Rohmilch des Grauviehs wird, auf 80 Grad erhitzt, für Milchpulver und -rahm der mehr als 60 Schokoladensorten verwendet, die Haag von Hand schöpft. Ihr liebevoll gezeichnetes Porträt ziert alle Schachteln seiner „Tiroler Edlen“.

Chocolatier Haag, der sein Handwerk in der Schweiz erlernte, sitzt in dem Café in Landeck, das seine Familie seit vier Generationen führt. In der Konditorei werden Kuchen, Torten und Schokolade verkauft, im Café schauen die Gäste aus großen Fenstern und trinken Melange.

In dem Städtchen, über das seit dem 13. Jahrhundert das gleichnamige Schloss wacht, sind vier Generationen kein sonderlich langer Zeitraum. Das Tal, in dem sich drei wichtige Alpenpässe treffen, war bereits in prähistorischen Zeiten besiedelt. Und schon bevor das Schloss erbaut wurde, zählte es mehr als 150 Höfe. Traditionsbetriebe wie jener der Familie Haag beweisen dennoch, dass die schmalen Täler im Westen der Ostalpen mit ihren knappen landwirtschaftlich nutzbaren Flächen nach wie vor Menschen hervorbringen, die Beständigkeit mit Kreativität und Innovationslust verbinden.

In zwei Räumen im Keller stellt Haag seine Schokoladen her. Allein. Nur das Einpacken erledigen zwei Mitarbeiter. 200 000 Tafeln pro Jahr umhüllen sie von Hand mit Folie, bevor sie die Schokolade in die Schachtel packen – und sie dabei einer letzten optischen Qualitätskontrolle unterziehen.

Mit leuchtenden Augen spricht Haag über seine große Leidenschaft: die Herstellung der besten denk- und machbaren Schokolade. „Kakao ist mir ein irrsinniges Anliegen“, erklärt er ernst und berichtet von seinen alljährlichen Verkostungen auf der Hacienda San José in der Paria Peninsula, dem besten Anbaugebiet Venezuelas. Denn jedes Jahr schmeckt der Kakao anders, und die Qualität muss stets gleich bleiben. Seit sieben Jahren entsteht in Folge seiner vergleichenden Studien seltener Kakaosorten die Schokolade „Purissima“. Sie besteht ausschließlich aus Kakaobohnen, Zucker und – natürlich – Grauviehmilch; die „Purissima Maxima“ mit 70 Prozent Kakaogehalt kommt sogar ohne Zucker aus. Für die übrigen „Edlen“ verwendet Haag Couvertüre aus dem italienischen Turin und dem Schweizer Kanton Schwyz.

„Wichtig sind auch die Brände vom Kössler“, sagt Haag. Mit dem Kopf deutet er in die Richtung des Brennerdorfs Stanz, das sich über Landeck auf halber Höhe an den Berg klammert. Berühmt ist es für seine Brände aus der Stanzer Zwetschke, einer Unterart der Pflaume. 60 Brennereien auf 150 Haushalte – das ist selbst für einen Alpensprengel, in dem es langen, kalten Wintern zu trotzen gilt, viel. Ein altes Bauernrecht machte aus Stanz eine Hochburg der Schnapsherstellung. Die vielfach ausgezeichneten, hochprozentigen Spezialitäten, mit denen einige „Tiroler Edle“ gefüllt sind, sind so eng mit der Region verbunden wie die beiden Hersteller selbst. Für den 48-jährigen Brenner Christoph Kössler, der in Stanz im Geburtshaus eines Ahnen, des Barockbaumeisters Jakob Prandtauer lebt, dreht sich ebenso wie für den ein Jahr jüngeren Schokoladenhersteller alles um Qualität und Herkunft der Zutaten. Die 300 Jahre alte Probierstube allein ist schon einen Besuch wert. Dort entkorkt Kössler naturbelassene Liköre, die je nach Zutaten Lust aufs Essen machen oder ein Dessert angenehm begleiten.

„In meiner Familie wurde immer schon gebrannt“, erklärt er. Er aber war der erste, der die Sache professionell anging, sich daran machte, so unterschiedliche Spezialitäten zu produzieren wie Himbeerlikör, der duftet wie ein Sommergarten, oder Edelbrand aus Bier, ein härteres Geschütz, für dessen Genuss man bereits eine Hauptmahlzeit im Magen haben sollte.

Kössler hat Preise im ganzen Land eingeheimst. Und er wurde auch dafür belohnt, dass er alle möglichen Gewächse untersuchte, die in der Nähe wurzelten. Dazu gehört der Spenling, eine Wildpflaumensorte, die im Umkreis von 25 Kilometern seines Hauses in Stanz wächst. Am besten sei ihr Aroma, wenn sie so reif ist, dass sie von selbst vom Baum falle, heißt es. Nach Gärung, Destillation und Lagerung verlässt der Spenling seine Heimat in der Flasche.

Etwas höher am Hang ist die Zirbe der dominierende Baum. Ihre Zapfen sind, fein geschnitten und mit Schnaps aufgesetzt, auf Skihütten beliebt. Früher legte man sie auch in Kinderwiegen. Denn der Harz der Zirbe erfüllt nicht nur Zimmer mit Wohlgeruch, er soll auch Babies und Kleinkinder beruhigen.

Allzu leichtfertig neigt der Flachlandbewohner zur Annahme, jenseits der ersten Liftstation gedeihten in den Bergen nurmehr Immergrünes und Moos. Doch braucht es einen geschulten Blick, um inmitten eindrucksvoller Panoramen die kleineren Wunder der Bergwelt wahrzunehmen. Dass jedes einzelne der meist recht unscheinbaren Pflänzchen, die hier wachsen, eine besondere Wirkung besitzt, weiß der 67-jährige Christian Strobl.

Gemächlich wandert er über Gipfelpfade und Wanderwege des 2208 Meter hohen Krahbergs im Venetmassiv. In der Ferne läuten die Glocken des Grauviehs, die Sonne scheint, jetzt am Nachmittag, vom tiefblauen Himmel. Am Horizont ragen die Wände des Piz Buin drüben in der Schweiz auf, näher liegen die Lechtaler Alpen. Strobl zeigt, erklärt und sammelt nebenbei Zutaten für Tees und Kräutermischungen, die er zu Weihnachten und Geburtstagen verschenkt. Der passionierte Bergwanderer öffnet Urlaubern, aber auch ganzen Schulklassen die Augen für die zarten Pflänzchen, die auf den Bergwiesen blühen.

Strobl wuchs mit sieben Geschwistern in Zams auf. „Bei uns galt: Niemand geht mit leeren Händen heim“, erzählt er. Jedes Kind brachte etwas mit, wenn es nach Hause kam, und war es nur ein Zweig fürs Feuer. Häufiger noch aber hatten die Sprösslinge Blüten und Blätter in den Taschen, denn die Mutter kannte sich mit Heilkräutern aus. Ihr Wissen gab sie an die Kinder weiter.

Christian Strobl bewahrt damit Kenntnisse, die auch in den Tälern Tirols rar geworden sind. Kaum jemand weiß noch, dass Moschus-Schafgarbe ebenso wie die Bergwollblume entschlackend wirkt, aber auch Erkältungssymptome lindert, dass Bergthymian bei Husten, Lungenentzündung und Magenverstimmung Erleicherung verschafft, Goldrute den Stoffwechsel anregt und Bergklee ein probates Mittel gegen Müdigkeit und Unterzuckerung von Bergsteigern ist. Und längst nicht jeder ist imstande, diese Kräuter auch zu identifizieren.

Die meisten der Pflanzen, die auch dem Grauvieh auf der Sommeralm so gut schmecken, blühen im Juni und Juli. Am 8. September endet der Kräutersommer, die Nächte werden kälter. Dann sammelt man Wurzeln: Blutwurz und Enzianwurzel, Alpenmutterwurz, das die Gefäße frei macht, und Meisterwurz: „Das ist die Mutter aller Wurzeln“, behauptet der Experte. Im Mittelalter hängte man sich das Universalmittel zum Schutz vor Flüchen und Verwünschungen um den Hals. „Aber es hilft als Stärkungsmittel auch sonst bei fast allen Beschwerden“, versichert Strobl.

„Möglichst wild müssen die Zutaten wachsen“, weiß auch Chocolatier Haag. „Die Walnüsse kommen von da drüben“, präzisiert er, die Bergminze von einem Hang in der Nachbarschaft. Einzig bei der Rezeptur seiner Schokoladen bleibt er im Ungefähren: „Da probiert man eigentlich immer herum.“ Exaktes Temperaturmanagement sei wichtig, so ist zu erfahren, denn Schokolade sei nun mal eine Diva, launisch und sensibel.

Das Herumprobieren führt ihn indessen zu neuen Ideen, von jahreszeitlichen Spezialitäten wie Weihnachtsschokoladen mit Bratapfel- oder Glühweinfüllung über Osterschokolade mit Karotte oder Eierlikör bis zu Kooperationen mit Whiskybrennern aus dem Westen Schottlands. Haag freut sich, dass große Schokoladenhersteller immer wieder Tafeln bei ihm anfordern.

Doch sein Unternehmen in vergleichbare Dimensionen auszuweiten, kommt nicht in Frage. Viel wichtiger ist ihm, seine Grauvieh-Bauern vernünftig bezahlen zu können. Wenn er von den Preisen spricht, die Milch vielerorts erzielt, gerät er in fast in Rage. Zwanzig, dreißig Cent pro Liter – davon könne niemand Tiere halten und außerdem noch etwas leben oder gar eine Familie ernähren. Haag schüttelt den Kopf. „Es ist ein Unding, dass die Bauern im Winter als Skilehrer schaffen müssen, um zu überleben, statt auf dem Hof zu bleiben.“

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