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Jede Münze ist willkommen bei Odilón Jardines. Von wegen Hinterhof: Der Mann orgelt vor der Kathedrale in Mexiko-Stadt.

© Del Regno

Berliner Drehorgeln in Mexiko: Ein paar Pesos in die Mütze

Nostalgische Klänge: Die Leierkastenmänner von Mexiko-Stadt.

Als Azteken verkleidete Musiker trommeln sich in Trance, Straßenhändler preisen schreiend billige Souvenirs, Spielzeug und Wäsche an, die Dieselmotoren der vorbeifahrenden Busse dröhnen, wenn nicht gerade der Verkehr wieder einmal stockt und die unzähligen Taxis ihr tägliches Hupkonzert veranstalten. Der Zócalo ist nicht nur geografischer Mittelpunkt von Mexiko-Stadt, hier vereinen sich auch sämtliche Geräusche der Millionenmetropole zu einer lautstarken Kulisse. Und doch mischen sich auf dem größten Platz des Molochs auch ganz andere, ungewohnte Klänge in das infernalische Getöse. Sie muten hier allerdings so fremd an wie Salsa in Sibirien: Drehorgelmusik. Seit Jahrzehnten gehören die Klänge der Leierkästen zum historischen Zentrum der mexikanischen Hauptstadt wie einstmals zu den Hinterhöfen Berlins.

Vor der prächtigen Kathedrale steht Odilón Jardines mit seinem Leierkasten. So wie schon sein Vater und dessen Vater. Aus seinem Instrument ertönt Émile Waldteufels „Schlittschuhläufer-Walzer“, der hier „Walzer de los patinadores“ heißt. „Jede Münze ist willkommen“, ruft Jardines unablässig, während er kurbelt, was das Zeug hält. Er schaut durch eine schwarze Sonnenbrille, auf seinem braun gebrannten Gesicht glänzt Sonnencreme. Seit 20 Jahren macht er seinen Job, ein hochgewachsener, athletisch anmutender Mann, in seiner khakifarbenen Uniform, deren Farbe und Schnitt auf die Truppen der mexikanischen Revolution zurückgehen. Heute ist sie die Arbeitskleidung der Drehorgelspieler und ihrer Organisation mit 70 Mitgliedern.

„Frati & Co. Berlin“ steht auf Jardines’ Drehorgel. Sie sei etwa 50 Jahre alt, sagt er, nur etwas älter als er selbst. Das ist erstaunlich, erlosch doch die Firma Frati bereits 1923. Zehn der prächtigen Instrumente seien in Familienbesitz, überall in der Innenstadt stünden Verwandte, die wie er jeden Tag musizieren. „Es ist etwas Besonderes, in einer Tradition stehen zu dürfen“, erklärt Jardines stolz.

Begonnen hat sie im Jahre 1884, als das preußische Königshaus dem für seine Grausamkeit bekannten Diktator Porfirio Díaz ein Geburtstaggeschenk machte: fünf Berliner Drehorgeln. Die Mexikaner fanden Gefallen am Geleier und brachten im Laufe der kommenden Jahre immer mehr Drehorgeln nach Zentralamerika – aus ganz Europa, aber vornehmlich aus der Schönhauser Allee, Sitz des italienischen Instrumentenbauers Frati.

Schließlich ließ ein deutscher Fabrikant in den beiden Großstädten Puebla und Guadalajara Drehorgeln bauen – die Werkstätten wurden jedoch schon kurz nach der Jahrhundertwende wieder geschlossen. Die Instrumente verschwanden nach und nach, wurden ins Ausland verkauft oder nicht mehr repariert, weil Ersatzteile fehlten. Bis auf ungefähr jene 70, die heute in den Straßen von Mexiko- Stadt dudeln.

Den wenigsten gehört das Instrument, auf dem sie spielen

Drehorgeln für Mexiko und die Welt stellten Frati & Co. in Berlin her.
Drehorgeln für Mexiko und die Welt stellten Frati & Co. in Berlin her.

© Werner Baus

„Die Leute mögen uns und unsere Musik“, sagt Jardines, als ihm eine alte, gebückt gehende Frau ein Fünf-Peso-Stück in die Schirmmütze wirft. Er verbeugt sich, wünscht einen schönen Tag und „viel Glück“. Man sieht ihm an, dass er seinen Job gern macht. Er wendet sich voller Elan den Passanten zu, lächelt, grüßt, winkt.

Ob sich das rentiert? Darüber spricht der Musiker nur zögerlich. Angeblich 200 bis 300 Pesos, umgerechnet knapp 12 bis 18 Euro, landen am Tag in seiner Mütze. Er sei zufrieden, sagt Odilón Jardines, bevor er wieder seinen Spruch mit den willkommenen Münzen schmettert.

Nicht jeder Organillero, wie die Drehorgelspieler hier genannt werden, kann das von sich behaupten. Denn den wenigsten gehört das Instrument, auf dem sie spielen. Wie die Leierkastenmänner im alten Berlin müssen auch sie dafür täglich Miete zahlen: rund 200 Pesos, so viel wie Jardines an schlechten Tagen verdient.

Tomas Chavez steht an der Drehorgel, um überhaupt über die Runden zu kommen. Er ist 72. Sein Haar unter der Offiziersmütze ist weiß, sein Gesicht faltig. Er steht auf dem schmalen Gehweg vor einem geschlossenen Metallrollladen und kurbelt stoisch vor sich hin. Seit fast 50 Jahren, von 9 bis 19 Uhr, jeden Tag, auch sonn- und feiertags.

Hier in der „Straße des 16. Septembers“ ist die Fahrbahn kopfsteingepflastert, sind die Fassaden stuckverziert, die Balkongeländer schmiedeeisern. Eine Konditorei bietet feines Gebäck, ein Modegeschäft teure Herrenanzüge an. Die Gerüche aus einem Parfumladen verdrängen kurzzeitig die Abgase der vorbeiholpernden Taxis. Daniel, der Sohn des Drehorgelspielers, hält den Passanten auf der gegenüberliegenden Straßenseite seine Kappe hin. Er ist Mitte 40, sein schwarzes Haar ist streng gescheitelt, sein Schnurrbart akkurat gestutzt. Früher habe er in einer Textilfabrik gearbeitet, erzählt er. Seit er seinen Job verloren hat, begleitet er seinen Vater, der ebenfalls erst durch die Arbeitslosigkeit zum Drehorgelspielen gekommen war.

Ein hoher Gewinn bleibe von den Einnahmen nicht, wenn man die tägliche Miete für den hölzernen Kasten abziehe. „Zum Essen reicht es gerade“, sagt Daniel und schaut sehr ernst. Zu mehr nicht, sonst müsse sein alter Vater seine Zeit nicht mehr auf der Straße verbringen. Lange würde das ohnehin nicht mehr gehen. „Die Drehorgel hat keine Räder wie bei euch in Deutschland, und wir müssen sie jeden Tag eine halbe Stunde auf dem Rücken schleppen. Sie wiegt einen Zentner – viel zu schwer für einen 72-Jährigen“, sagt Daniel. Bald werde er also allein arbeiten – bis seine Kinder groß genug seien, um zu helfen. Obwohl er eigentlich hoffe, dass sie einen „richtigen Beruf“ lernen. Er selbst, sagt Daniel nachdenklich, habe wohl keine andere Wahl mehr.

Im Gegensatz zum Organillero vom Zócalo. Er sei eigentlich Chemielaborant, sagt Odilón Jardines, aber er habe sich damals entschlossen, die Familientradition fortzusetzen. Viele studierte Menschen sähen es ähnlich und seine vier Kinder, allesamt Akademiker, vielleicht ja auch eines Tages. „Und wenn nicht sie, dann bestimmt meine Enkel.“ Den Schlittschuhläufer-Walzer jedenfalls mögen sie sehr.

Alexander Del Regno

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