zum Hauptinhalt
Nichts für die Berge. Flach muss das Land sein, wenn man boßeln will. Aber selbst im Norden geht’s mal ein paar Zentimeter hoch und runter. Dann gerät die Kugel außer Kontrolle – und rutscht schon mal in einen Graben.

© picture alliance / dpa

Boßeln: Regelheft im Bollerwagen

Boßeln ist ein norddeutscher Sport. Besonders im Winter rollt die Kugel – und zur Belohnung gibt’s am Ende Grünkohl für alle.

„Weiter nach links, links, links, links,… Ach, Schiet.“ Alles Anfeuern und Brüllen nützt nichts mehr, wenn die Boßel einmal rollt, diese sture norddeutsche Kugel. Rechts runter von der glatten, aber offensichtlich nicht ganz ebenen Straße zwischen Oldenburg und dem Örtchen Tungeln, mit kleinen Hopsern über das bereifte Gras am Straßenrand und mit einem satten Plumpser in den Chausseegraben. Ein bisschen weiter nach links, wie es sich Werner – Mitte 40, Ingenieur und sonst eher der ruhige Typ – lautstark und wild mit den Armen fuchtelnd gewünscht hatte, dann wäre die Boßel noch gut und gerne 50 Meter weiter gerollt.

Oder mindestens 40, jedenfalls wäre seine Mannschaft bei diesem fünften Wurf in Führung gegangen. So kullert sein Team dem anderen weiter hinterher. Aber bis zum Ziel sind es ja noch fast vier Kilometer, da kann noch eine Menge passieren. Jetzt sind erst mal wieder die anderen dran, können mit dem nächsten Wurf ihren Vorsprung ausbauen. Und Werner kramt aus dem Bollerwagen den Kraber, eine Art Kescher an einem langen Besenstiel, mit dem er den Boßel aus dem trüben Wasser des Straßengrabens fischt.

Für eine feste Eisdecke, die die rund anderthalb Pfund schwere Kugel getragen hätte, war es dann leider doch noch nicht kalt genug gewesen. Ein paar ordentliche Nachtfröste hatte es aber schon gegeben – und damit war die Zeit reif für die Kohltour raus aufs Dorf.

Denn es mag zwar sein, dass moderne Grünkohlsorten gar nicht mehr unbedingt Frost brauchen, um den vollen, typischen Geschmack zu entfalten; es mag auch sein, dass eine Nacht im Gefrierschrank dem Grünkohl genauso gut hilft wie ein ordentlicher Nachtfrost auf dem Feld – worüber Kenner heftig streiten. Tatsache jedenfalls ist: Nie und nirgends schmeckt der Grünkohl besser als in fröhlicher Gesellschaft auf dem Lande nach einer Kohltour durch Frost und frische Luft.

Das weiß man hier nicht erst seit gestern: Der Oldenburger Turnerbund, gegründet 1859, gilt als Erfinder der Kohltour in ihrer heutigen Form: 140 solcher Fahrten mit Boßeln und Bollerwagen sind in der akribisch verfassten Vereinschronik dokumentiert. Eine längere Geschichte dieser an der gesamten Nordseeküste gepflegten Tradition konnte bisher noch niemand nachweisen. „Und deshalb ist Oldenburg auch die Kohltourhauptstadt“, sagt Bettina Tammen, Sprecherin der Tourismus Marketing Gesellschaft voller Stolz.

Etwas andere Ausflüge zum Grünkohlschmaus auf dem Lande gibt es freilich noch viel länger. So sind schriftliche Berichte aus dem 18. Jahrhundert erhalten über die Pferdeschlittenfahrten der wohlhabenden Oldenburger. Die Stadtoberen ordneten an, dass der Schnee auf die geräumten Straßen zurückgeschippt werden müsse, dann wurde angespannt und los ging’s. Damals hatte Oldenburg einen Großherzog, heute gibt es einen Kohlkönig, der allerdings jährlich wechselt.

Helmut Kohl und Gerhard Schröder als Kohlkönige?! - Lesen Sie mehr auf Seite zwei...

Watt mutt, datt mutt: Grünkohl, deftig.
Watt mutt, datt mutt: Grünkohl, deftig.

© Promo

Derzeit amtiert Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie. Zu seinen Vorgängern zählen unter anderem Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Otto Schily und Christian Wulff. Gekürt werden die Majestäten jeweils im Februar beim „Defftig Ollnborger Gröönkohl Äten“ in Berlin, seit Jahrzehnten die zentrale Veranstaltung der politischen Lobby-Arbeit der Kohltourhauptstädter in der Bundeshauptstadt. Schade nur für die Prominenz: Eine Kohltour vor dem rustikalen Bankett gibt es für sie nicht.

Dem Oldenburger ist die Kohltour seit Jahrhunderten das, was dem Rheinländer der Karneval ist: Gesellschaftlicher und geselliger Höhepunkt des Jahres und eine komplette Auszeit vom Alltag. Den Unterschied freilich macht das Wie: Die Nordlichter brauchen keine riesigen Prunkwagen für einen Umzug, alles Nötige passt in einen Bollerwagen: Boßelkugeln, Getränke und der Kraber, den Werner später noch mal braucht.

Niemand muss am Rande stehen, zuschauen und auf Kamelle hoffen, in Oldenburg ziehen alle mit. Und es müssen für die Umzüge keine kompletten Innenstädte umständlich gesperrt werden – hier und da wartet mal ein Autofahrer, bis die Boßelkugel ausgerollt ist oder im Graben landet, dann geht’s schon weiter.

Weiter in Richtung des Gasthofs, in dem am frühen Abend nach und nach die verschiedenen Kohltour-Gruppen zum Après-Boßeln eintrudeln. Seit den ersten Nachtfrösten im November bis Ende Februar sind in und um Oldenburg die Gaststätten mit den großen Sälen an jedem Wochenende ausgebucht. Musik gibt’s da und Tanz und selbstverständlich Grünkohl mit Pinkelwurst, bis der Gürtel spannt. Und obendrein ein bisschen Spott für die Verlierer beim Boßeln, den diese in aller Regel gelassen ertragen.

Wer gewinnt, wird Kohlkönigin oder Kohlkönig. Und zu den vornehmsten Pflichten des Souveräns gehört es, die nächste Kohltour zu organisieren – eine verantwortungsvolle Aufgabe. Wehe, es reichen die Getränke nicht. Und wehe, es ist der Boßelkurs schlecht gewählt, so dass die Kugel dauernd in den Graben kullert.

Thomas Sell

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false