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Brocken: Das ist der Gipfel

Seit Ende 1989 bezwingt Benno Schmidt den Brocken, den höchsten Berg im Harz. Fast täglich, auch bei Sturm oder Schnee.

Ist der Mann dem Gipfel näher oder dem Wahnsinn? Noch zweihundert Meter, dann hat es Benno Schmidt, bald 77 Jahre alt, wieder einmal geschafft. Etwas, das schier unglaublich klingt, wenn es wie selbstverständlich über seine Lippen kommt: „Heute bin ich zum 5604. Mal auf dem Brocken“, erzählt er. Zweifeln ist zwecklos, der Mann kann jeden Aufstieg mit einem Stempel in seinem Brocken- Pass belegen.

Seit die innerdeutsche Grenze am 3. Dezember 1989 auch auf dem Brocken fiel, stiefelt Benno täglich auf den Berg. Von seiner Heimatstadt Wernigerode aus steigt der aktive Wanderführer die 900 Höhenmeter hinauf auf den „Mount Everest des Nordens“. Hier oben in 1142 Metern kennt ihn jeder als „Brocken- Benno“. Für seine Bewunderer hat er sogar eine eigene Internetseite eingerichtet (www.brocken-benno.de). Darauf ist zu lesen: „In der Regel treffen Sie mich zwischen elf und zwölf Uhr auf dem Brocken an und können auf Wunsch Autogrammkarten erhalten.“ Eine etwas beschwerliche Anreise zur Autogrammstunde.

Dafür werden heute alle Brockenwanderer mit Kaiserwetter belohnt. Selten hatte Benno in den vergangenen zwanzig Jahren so eine Fernsicht, mehr als 100 Kilometer weit, bis zum Thüringer Wald. Dabei zieht er bei jedem Wetter los. Sogar als der Orkan „Kyrill“ vor zwei Jahren über die Bergkuppe fegte, stemmte sich Benno gegen den Sturm und stieg hinauf. Sogar Reinhold Messner hat er hier oben schon getroffen. Quasi ein Kollege, für den der Harzberg jedoch allenfalls ein alpiner Aperitif sein dürfte.

Dabei ist der Brocken klimatisch vergleichbar mit Zugspitze oder Watzmann: Gerade mal 2,9 Grad Celsius beträgt die Jahresdurchschnittstemperatur – es ist sehr frisch oberhalb der Baumgrenze. Für die ist nicht etwa ein DDR-Rodungswahn verantwortlich, sondern die Eiszeit. Und die scheint an diesem Tag bei arktischen Temperaturen von minus 14 Grad nicht weit. Vielleicht schreckt das auch die Prominenz ab, die Benno hier durchaus öfter sieht. Dafür ist er auf halber Höhe flott an drei Schulklassen vorbeigezogen: „Junge Leute, in dem Alter schon übergewichtig, klarer Fall von Bewegungsmangel!“, knurrt er.

Die Mehrheit der zwei Millionen Brockenbesucher im Jahr nehmen den Bewegungsmangel bewusst in Kauf: Sie fahren mit der Harzer Schmalspurbahn hinauf zum Gipfel. In neunzig Minuten. Viel länger braucht Benno auch nicht. Durchs Winterwunderland stampft die Dampflok von Wernigerode (234 Meter über Normalnull) über Drei Annen Hohne (540 Meter) und Schierke (685 Meter) hinauf zum Brockenbahnhof. „Schöner als im Engadin“, schwärmt eine Touristin aus Hamm beim Blick auf die verschneiten Tannen, die der Zug auf der Strecke passiert. Bereits 1899 fuhr die erste Lok auf den Brocken, drei Lokomotiven aus der Gründerzeit sind noch immer im Einsatz. Lokführer Ronny Schenkel lässt seinen Heizer Steinkohle feuern, nur so kann die Schmalspur-Bahn ihre 700 PS entfalten. Und die wird sie auch heute wieder brauchen.

Zur Zeit der sowjetischen Besatzung wurde die Bahn stillgelegt, der Brocken zum Sperrgebiet erklärt. Er fungierte fortan als Horchposten der Staatssicherheit, die mit modernsten Funkssystemen vom Gipfel in den Westen horchte. DDR-Staatsoberhaupt Walter Ulbricht ließ um die Brockenkuppe eine mehr als drei Meter hohe Mauer bauen, inklusive Stacheldraht. Berliner Logistik, eine leichte Übung. Seit Juli 1992 gibt es nun wieder einen fahrplanmäßigen Zugverkehr auf den Brocken, der heute zum Nationalpark Harz gehört. Allerdings: Skisport ist hier tabu. Wer wedeln will, muss auf den Wurmberg bei Braunlage ausweichen.

Gänzlich ohne Infrastruktur ist das Brockenplateau jedoch nicht: Am höchsten Punkt steht der 123 Meter hohe Sendemast, den vor allem der öffentlich-rechtliche MDR nutzt – der Brocken gehört zu Sachsen-Anhalt. Neben dem Mast steht das Museum im Brockenhaus. Die Geschichte der Brocken-Hexen im Mittelalter kann genauso erlebt werden wie die Zeit, als der Brocken Sperrgebiet war.

Beliebtester (weil einziger) Treffpunkt ist der Brockenwirt, die höchste Hütte Norddeutschlands, direkt am Brockenbahnhof. Der erste Brockenwirt bediente hier oben bereits im 18. Jahrhundert seine Gäste. Damals waren es vor allem Torfarbeiter, heute sind es Touristen. Die werden von April an mit dem „Mephisto-Express“ hinauffahren, einem Sonderzug der Schmalspurbahn. Auf dem Plateauprogramm steht dann „Faust – die Rockoper auf dem Brocken!“ Gespielt wird im Goethesaal des benachbarten Brockenhotels. Die ersten Aufführungen sind schon ausverkauft – wann kann man schon mal auf dem Brocken rocken?

Dichter Goethe selbst war dreimal oben, erstmals am 10. Dezember 1777. Auch Goethes Nachfolgern hatte es der Berg angetan. „Viele Steine, müde Beine, Aussicht keine, Heinrich Heine“, soll der Dichter einen nebligen Tag beschrieben haben. Eher eine Anekdote. Als sicher gilt, dass Heinrich Heine im alten Brockenhotel übernachtet hat. Wanderer, die heute die letzte Schmalspurbahn ins Tal verpassen, quartieren sich auch in der Brockenherberge ein: Einzelzimmer gibt es ab 70, Doppelzimmer ab 120 Euro.

In klimatisch so exponierter Lage steht natürlich auch eine Wetterwarte des deutschen Wetterdienstes. Die liefert entsprechend extreme Werte: An 306 Tagen des Jahres ist der Brockengipfel vernebelt, an 176 Tagen verschneit und an 100 Tagen vereist. Aber was sind das schon für Daten, solange es Brocken- Benno gibt. Am heutigen Sonntag wird er wieder einen neuen Rekord aufstellen, denn dann ist er erneut auf dem Gipfel: zum 5618 Mal! Wahnsinn.

Brocken-Tipps

Bahnfahrt: Die Harzer Schmalspurbahn fährt täglich mehrmals von Wernigerode über Drei Annen Hohne und Schierke auf den Brocken. Preis für die Hin- und Rückfahrt: 24 Euro. Fahrzeit: 90 Minuten. Auskunft: Harzer Schmalspurbahnen, Telefon: 039 43 / 55 80, Internet: www.hsb-wr.de

Fußweg: Wer mit Benno Schmidt wandern will: Am 21. Februar, Treffen: 8 Uhr 30 in Wernigerode am Floßplatz (Fahrgemeinschaften). Einkehr auf dem Brocken, Rückkehr zirka 14 Uhr. Mehr unter: www.brocken-benno.de

Unterkunft: Die Lage macht’s: Im Brockenhotel kostet die Übernachtung im Mehrbettzimmer stolze 60 Euro inklusive Frühstück (Brockenplateau, 38879 Schierke; Telefon: 03 94 55 / 120, im Internet unter: www.brockenhotel.de).

Uwe Bahn

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