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Kreidefelsen

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Dänemark: Wo Andersen seine schönsten Märchen erfand

Die dänische Insel Møn hat viele Künstler inspiriert. Aber sie hat sich die Stille bewahrt. Große Ferienhaussiedlungen fehlen.

Die Dänen sind die glücklichsten Menschen Europas. Das jedenfalls behaupten die Meinungsforscher der Europäischen Union. Wenn man ihren Untersuchungen Glauben schenken will, dann liegt das Glück für Urlauber aus Norddeutschland quasi vor der Haustür – am Rande der dänischen Ostsee, rund hundert Kilometer nordöstlich von Fehmarn und nur einen Brückenschlag neben der Vogelfluglinie Richtung Kopenhagen.

Die Insel Møn ist ein Urlaubstraum aus Licht und Farbe unter dem hohen Himmel der Ostsee, ein Bauernland voller Schönheit und Harmonie. Und von einer Gelassenheit, wie man sie nur in einer Gegend finden kann, in der die Menschen mit sich und der Natur im Einklang sind. Wiesen und Weiden ziehen sich über sanft gerundete Kuppen, gelb leuchtet jetzt im Frühling das Patchwork der Rapsfelder aus dem satten Grün, und wenn man sich auf die Zehenspitzen stellt, kann man von beinahe jedem Punkt der Insel die Ostsee sehen – tiefblau und überzogen von einem Netz silbern glitzernder Wellen.

Zugegeben: Unter den mehr als 400 (!) großen und kleinen Inseln der dänischen Ostsee gibt es sicher so manche, in die sich der Urlauber verlieben kann – in Bornholm zum Beispiel, wo das milde Klima selbst Orchideen zum Blühen bringt und wo die feinen Sandstrände einen Vergleich mit der Karibik nicht zu scheuen brauchen. Oder in Ærø, einem Inselwinzling in der „dänischen Südsee“ zwischen Fünen und Langeland, mit bunten Fachwerkhäusern und mittelalterlichem Kopfsteinpflaster. Und doch: Wer einmal auf Møn war, fühlt sich immer wieder angezogen. Møn – das ist, als würden sich auf diesem Eiland alle Düfte, Farben und Eindrücke eines dänischen Inselsommers vereinen. Kornblumen, Klatschmohn und wilde Margeriten säumen die Straßen. Stille Alleen ziehen sich hügelauf und hügelab, vorbei an kleinen Dörfern mit schneeweiß getünchten Kirchen, deren hohe Türme einst den Fischern und Seefahrern als Orientierungspunkte dienten. Und überall hinter den schlanken Baureihen schimmern die bunten Fassaden der Bauernhöfe.

Mut zur Farbe haben sie, das muss man den Einwohnern dieser Insel lassen: goldgelb und rot, violett und leuchtend weiß, durchzogen von den Mustern schwarz glänzenden Fachwerks – jedes Haus wie ein Puppenheim. Malven und Stockrosen ranken an den Wänden, und vor der Haustür wartet meist ein wackliger Holztisch oder eine alte Schubkarre, auf denen die Inselbauern den Vorbeikommenden anbieten, was Natur und Landwirtschaft ihnen beschert haben: Äpfel und neue Kartoffeln, Erdbeeren und junge Karotten, Eier und Honig. Daneben eine verrostete Blechdose oder eine Zigarrenkiste, in die der Kunde seinen Obolus legt und sich selbst mit dem Wechselgeld bedient. Niemand würde auf die Idee kommen, das Geld nachzuzählen, denn – so erzählen die Einwohner Møns stolz – noch nie sei jemand auf ihrer Insel betrogen oder bestohlen worden.

Es ist eine stille Insel, auf der Urlauber lieber das Auto stehen lassen und aufs Fahrrad umsteigen. Nur eine große Straße durchquert die Insel der Länge nach. Sie führt von der Miniinsel Bogø im Westen bis zur Ostküste mit den Kreideklippen von Møns Klint, Wahrzeichen und größte Touristenattraktion der Insel. Mehr als hundert Meter hoch schieben sich die Kalkfelsen senkrecht aus dem Meer – sie bilden das dänische Pendant zu Stubbenkammer auf Rügen, nur knapp siebzig Kilometer gegenüber vor der mecklenburgischen Küste.

Wellen und Meeresbrandung haben in Jahrtausenden bizarre Skulpturen aus dem Kalk gewaschen, Regen und Stürme das weiche Gestein zu Zinnen und Türmen modelliert – ein Stück gewaltiger Natur, entstanden, als die Eiszeiten ihre mächtigen Gletscher durch die Ostsee schoben und dabei die Sedimente des Kreidemeeres hoch pressten, das vor mehr als siebzig Millionen Jahren weite Teile des heutigen Nordeuropas bedeckte.

Ein schmaler Weg führt durch einen Buchenwald am Rande der Klippen. Stürme haben die Bäume zerzaust, schief und verwachsen stemmen sie sich gegen den Wind, suchen wie verzweifelt Halt in den Abbruchkanten, von denen immer wieder Teile ins Meer stürzen. Efeu und Farne hängen wie grüne Bärte an den Ästen, und unten, am Fuße der Steilküste, stöbern Fossiliensammler nach den Zeugen der Erdgeschichte, die das Meer aus dem Kalkschlamm spült, nach versteinerten Seeigeln und Donnerkeilen, nach Austernschalen und Seelilien.

Immer schon hat Møns Klint dänische Künstler inspiriert – ebenso wie die Kreidefelsen von Rügen den Maler Caspar David Friedrich. Der wohl berühmteste und häufigste Klippenbesucher war der Märchendichter Hans Christian Andersen (1805–1875). „Immer, wenn ich vor dieser großartigen Kulisse stehe, bin ich so fasziniert, als wäre es das erste Mal“, schwärmte er in seinen Reisenotizen.

Andersen, vom dänischen Adel des 19. Jahrhunderts hofiert und herumgereicht wie ein Ikone, verfasste auf dem kleinen Empire-Schlösschen Liselund, nur einen Steinwurf von den Kreidefelsen entfernt, zwei seiner schönsten Märchen. Erbaut hatte das pittoreske Miniaturschlösschen ein französischer Edelmann als Liebesgabe für seine Frau – Baron Antoine de la Calmette, der als Rittmeister in der Leibgarde des dänischen Königs diente und immer davon träumte, auf Møn einen romantisch verspielten Park nach dem Vorbild englischer Gartenkunst zu schaffen, mit künstlichen Wasserfällen, einem chinesischen Teepavillon und einer Pyramideninsel mitten im Schlossparksee.

Das alles ist so liebevoll in die Landschaft hineinkomponiert, dass man nur die Augen zu schließen braucht, um den Park mit den Bildern von einst zu beleben – mit vornehm gekleideten Herren in Puderperücken und eleganten Damen im Reifrock. Doch ein Blick ins Innere des Schlosses zeigt: Die illustre Tafelrunde ist längst aufgehoben. Baron Rosenkrantz, der neue Hausherr, hat Liselund in ein Museum verwandelt, und auch das neuere, größere Schloss am Rande des Parks, 1887 erbaut, dient heute als nobles Schlosshotel und Restaurant.

Es ist eins der wenigen Hotels der Insel. Noch gilt Møn fast als Geheimtipp unter Dänemarkurlaubern. Noch kommen die meisten Feriengäste im Campmobil, noch gibt es keine großen Ferienhaussiedlungen wie in zahlreichen anderen Urlaubsgebieten Dänemarks, in denen ein Haus dem anderen gleicht. Schöne Badestrände warten auf die Urlauber. Bei Ulvhale zum Beispiel, eine Landzunge, die sich nördlich der Inselhauptstadt Stege weit ins Meer erstreckt. Schnurgerade führt die schmale Straße an der Küste entlang. Gleichmäßig rollen die Wellen an den weißen Strand, kleine Holzhäuschen am Rande der Dünen sind die einzigen Behausungen.

Plötzlich ändert sich die Landschaft: Knorrige Bäume türmen sich kreuz und quer übereinander, so wie die Ostseestürme sie entwurzelt haben. Seit Jahrzehnten hat der Mensch hier nicht mehr in die Natur eingegriffen. Aus gutem Grund: Denn der Urwald von Ulvhale bildet die natürliche Barriere zu einem der größten Naturschutzgebiete Dänemarks. Jedes Jahr im Frühling ziehen Tausende von Wasservögeln über Ulvhale hinweg, lassen sich in den seichten Gewässern nördlich der Halbinsel nieder und stärken sich für den Weiterflug – Kampfläufer und Säbelschnäbler, Rotschenkel und Brachvögel. Ein Eldorado für Naturliebhaber und Ornithologen. Vor einiger Zeit hat die Naturschutzbehörde Hochstände im Unterholz des Urwaldes aufstellen lassen. Von diesen erhöhten Plätzen aus können nun Urlauber dieses einzigartige Naturschauspiel beobachten.

Martin Dziersk

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