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Reise: Das Flüstern der Seelen

Der Nachrichtensprecher brüllt. Das heißt, es ist eigentlich der Fernseher, dessen Volumenregler am Anschlag steht und die Lautsprecher vor Anstrengung zum Krächzen und Kratzen bringt.

Der Nachrichtensprecher brüllt. Das heißt, es ist eigentlich der Fernseher, dessen Volumenregler am Anschlag steht und die Lautsprecher vor Anstrengung zum Krächzen und Kratzen bringt. Und dabei beachtet noch nicht einmal jemand die Flimmerkiste. Zwei Alte sitzen an einem billigen Plastiktisch und spielen Karten. Die Meldungen aus dem Rest der Welt kratzen sie anscheinend nicht. Wie in vielen spanischen Bars lärmt auch in der Casa Acuña der Fernseher grundlos, dafür ohrenbetäubend. Das ist aber so ziemlich die einzige Gemeinsamkeit, die die Isla de Ons und die Bar Casa Acuña mit dem Festland haben.

Die Isla de Ons gehört zu Galicien, jener eigenwilligen Provinz im Nordwesten Spaniens. Die Galicier genießen unter ihren Landsleuten einen besonderen Ruf: eigenbrötlerisch, etwas absonderlich, mitunter weltfremd. In Galicien gelten die Menschen außerdem als extrem misstrauisch. „Fragst du einen Galicier nach der Uhrzeit, kann es passieren, dass er sagt: ‚Warum willst du das wissen?‘“, sagt José und klopft sich vor Lachen auf die Schenkel. Er steht an der Theke und nippt an seinem Café solo, einem Expresso. José stammt aus dem Landesinneren, aus Kastilien-León. Seit 15 Jahren macht er Urlaub auf der Isla de Ons. 14 Tage allein in einer spärlich ausgestatteten Hütte. Ohne Strom und ohne seine Familie. „Ich brauche das, um wieder zu mir selbst zu finden“, sagt José.

Ein fantastischer Platz für einen Rückzug. Von der Zivilisation, von Abgasen und Krach. Der Fernseher in der Casa Acuña ist allem Anschein nach die einzige Lärmquelle der Insel. Es gibt keine Autos, geschweige denn Industriebetriebe. Nicht nur deshalb wirkt die Atlantikinsel wie ausgestorben. Noch vor etwas mehr als 20 Jahren lebten hier 500 Menschen. Heute sind es nur noch fünf, die ganzjährig auf der Isla de Ons zubringen. Und keiner von ihnen ist jünger als 60 Jahre.

Eine des Inselquintetts ist Rosa. Die handfeste Wirtin der Casa Acuña schneidet Tintenfisch, Paprika und Zwiebeln in Würfel. Anschließend hackt sie etwas Knoblauch und Petersilie. Sie bereitet Empanadas, Teigtaschen, zu. Tintenfischgerichte aller Art sind die Spezialität Galiciens. „Wenn ihr zurück seid, sind die Empanadas fertig“, ruft sie uns aus ihrer Kochnische zu.

Salzige Meerluft vermischt sich mit dem Duft von Thymian, Brennnesseln und Salbei. Wir befinden uns auf dem Weg zum Burato do Inferno, einem 40 Meter tiefen Felsschlund. Er ist in rund einer Stunde von der Bootsanlegestelle aus erreichbar. Der galicische Begriff bedeutet auf Deutsch so viel wie „Höllenloch“. Der Burato do Inferno diente früher als Kultstätte. Unter anderem den Kelten, die lange hier lebten. Seit ungefähr 1000 Jahren ist die Insel besiedelt.

Eine Handvoll Häuser stehen am Wegrand. Es ist nicht klar, ob sie bewohnt sind. Die Gemüsegärten wirken gepflegt, erste Blättchen von Kartoffeln, Tomaten und Salat sprießen aus der dunklen Erde. Aber die Fensterläden sind verrammelt. „Viele dienen nur noch als Wochenendhäuser“, sagt Andrea, unsere Wanderführerin.

An Nahrung hat es den Bewohnern nie gemangelt. Das Klima ist günstig. Im Sommer wird es mitunter sehr warm, doch es regnet häufig. Im Dezember öffnet der Himmel durchschnittlich an 27 Tagen seine Schleusen. Wasserknappheit oder gar Hungersnöte waren also nicht der Grund für den Bevölkerungsschwund. Die meisten Bewohner lebten von der Fischerei. Und das nicht unbedingt schlecht, denn die Reviere rund um die Insel sind sehr artenreich. Tintenfische und Muscheln gelten als das Gold Galiciens.

Dennoch setzte im Jahr 1984 die große Flucht ein. „Zuerst ging der Arzt, dann der Pfarrer und dann der Lehrer“, erzählt Andrea. Keine medizinische Versorgung, keine Gottesdienste, keine Schule – die Bewohner der Isla de Ons fühlten sich ihrer wichtigsten Institutionen beraubt. Immer mehr verließen deshalb ihre Heimat Richtung Festland. Die meisten der Emigranten zogen in die nahen Großstädte, nach Vigo oder Pontevedra. Manche auch nach Bueu, einer kleinen Hafenstadt. Von dort aus kann die Isla de Ons per Fähre angesteuert werden. Im Katamaran dauert die Überfahrt eine knappe halbe Stunde.

Auf dem Weg zum Burato do Inferno kommt der Wanderer an kleinen Buchten vorbei. In manchen befinden sich Sandstrände. „Die Buchten sind ideal zum Schnorcheln und Baden“, erklärt Andrea, „auch im Hochsommer ist das Wasser herrlich klar.“ Im Norden der Insel gibt es sogar einen offiziellen Strand für Nudisten, den Playa de Melida. Nacktbaden ist in Nordspanien eher ungewöhnlich.

Auch Taucher schätzten die Gewässer, sagt Andrea. Der Artenreichtum sei erstaunlich, wie auf den Inseln selbst. 2002 wurde die Isla de Ons gemeinsam mit ihren Schwesterinseln Isla de Cíes, Isla de Cortegada und Isla de Sálvora mitsamt den Gewässern drum herum zum spanischen Nationalpark „Atlantische Inseln“ erklärt. Viele seltene Wasservögel haben hier ihr Rückzugsgebiet.

Doch selbst in Spanien sind die vier Eilande zumeist völlig unbekannt. Besucher sind hauptsächlich ehemalige Insulaner, die hier mit ihren Freunden und Verwandten die Sommerferien verbringen. Der Tourismus ist überschaubar, es gibt nur ein paar Dutzend Gästebetten sowie einen kleinen Campingplatz, der hauptsächlich von Individualtouristen genutzt wird. „Kinderlachen hört man nur im Sommer auf der Insel“, sagt Andrea. Wie aus dem Nichts taucht in der Pampa ein holpriger Fußballplatz auf. „In den Ferien kicken hier tatsächlich Jungen“, versichert Andrea.

Am „Höllenloch“ angekommen, gilt es zunächst einmal zu warten. Denn außer einem breiten Loch im Fels ist hier nichts zu sehen. Dass der Brocken, obwohl etwa 20 Meter vom Ufer entfernt, direkt mit dem Meer verbunden ist, kann der unbedarfte Betrachter nur erahnen. Doch dann, nach ein paar Minuten des Wartens, röhrt und grollt es unheimlich durch den Trichter. Wind und Wellen lassen gelegentlich diese Geräusche entstehen. In früheren Zeiten interpretierten die Menschen das Röhren als die Schreie der Seelen all jener, die bei den Schiffsunglücken vor der Insel ihr Leben lassen mussten.

Auf dem Rückweg treffen wir auf Ramiro Otero-Patino. Der 75-Jährige ist der zweitälteste Insulaner. Er hält einen Gehstock und trägt ein ständiges Lächeln im Gesicht. 30 Jahre lang war Ramiro Leuchtturmwärter auf der Isla de Ons. „Die Zeiten haben sich geändert“, sagt Ramiro, „aber ich bin immer noch glücklich.“ Er erzählt von seinen Erlebnissen als Leuchtturmwärter und davon, wie einst in einem Sturm vor der Insel 14 Seeleute ums Leben kamen. „Hier ist es wie überall“, sinniert Ramiro, „manchmal hart, manchmal schön.“

Für die schönen Momente im Leben sorgen die Tintenfischgerichte in der Casa Acuña. Die Empanadas mit Pulpofüllung sind mittlerweile fertig. Rosa schenkt Vino Tinto in dickwandige Gläser und legt die fettigen, aber unwiderstehlichen Teigtaschen auf. „Der Tintenfisch wurde heute Morgen aus dem Meer gezogen“, sagt sie.

Die beiden Alten spielen noch immer Karten. Einer von ihnen ist Rogelio Otero- Otero. Der Senior mit der Schiebermütze ist der älteste Inselbewohner. „Meine Tochter will, dass ich von hier weggehe, sie hat Angst um meine Gesundheit“, sagt Rogelio. „Doch ich bleibe hier.“ Rogelio wurde vor 83 Jahren auf der Insel geboren – und möchte auch hier sterben. Sein Leben lang war er im Atlantik als Fischer unterwegs. Seine einzige Sorge ist, dass er eines Tages seine Netze nicht mehr auswerfen kann. Im Juli und August könnte es wieder soweit sein, denn die Besitzer des Bootsstegs haben die Anlegestelle im Sommer für die Touristenboote reserviert. „Wir sind nur zu fünft, deshalb zählen unsere Interessen nicht“, sagt Rogelio.

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