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Der Gooseberry Falls State Park in Minnesota lockt Tagesausflügler, die mal eine Pause brauchen vom Lake Superior. Foto: Christian Röwekamp

© picture alliance / dpa-tmn

Reise: Der See ist der Boss

Der Lake Superior in Nordamerika ist riesig wie ein Meer, unberechenbar – und perfekt für herrliche Abenteuer

Kurz vor der Teufelsinsel muss die „Island Princess“ wenden. „Sorry, Leute“, knarzt die Stimme von Kapitän Brian Edelmann aus dem Lautsprecher, „aber der Wind ist zu stark und die Dünung zu hoch.“ Brian will nichts riskieren auf seinem Ausflugsschiff – nicht auf diesem See. Im kleinen Ort Bayfield ist er aufgebrochen, um seine Passagiere durch die Apostle Islands zu schippern, eine Inselgruppe vor der Südküste des Lake Superior. Die Tour soll bis nach Devil’s Island führen, zum nördlichsten Punkt auf der Karte des US-Bundesstaates Wisconsin – für die nach Superlativen verrückten Amerikaner ein lohnendes Ziel. Aber heute erscheint das Risiko zu groß.

„Sorry nochmals“, entschuldigt sich der Käpt’n. „Aber so ist hier eben – der See ist der Boss.“ Lake Superior, Oberer See: Was für eine Untertreibung steckt in diesem Namen. Kein See – ein richtiges Meer ist das! Wer an seinen Ufern steht, blickt auf eine endlos erscheinende Weite hinaus. Flächenmäßig ist der Superior das größte Süßwasserreservoir der Welt (vom Volumen her allerdings vom Baikalsee übertroffen). Eine wuchtige Welle nach der anderen rauscht heran, entlang der 4385 Kilometer langen Küstenlinie gibt es vor allem eines: wilde Natur.

Metropolen? Fehlanzeige. Und zum Baden ist das Wasser zu kalt. Dennoch lohnt es sich, in den Norden des Mittleren Westens aufzubrechen, wo Schwarzbären durch die Wälder streifen und Hinweisschilder auf Schneemobil-Routen die Sommergäste verwirren.

Hier öffnet sich dem Besucher ein typisches Kleinstadt-Amerika, für das die Sorgen der Welt und auch nur die Washingtons weit entfernt scheinen. Besucher können sich auf die Suche nach Schiffswracks begeben oder stundenlang durch Naturparks wandern, ohne anderen Menschen zu begegnen. Und immer wieder hören sie den Satz: Der See ist der Boss.

Ein guter Ausgangspunkt für die Erkundung ist Duluth in Minnesota. Hier endet der rund 3700 Kilometer lange Sankt-Lorenz-Seeweg, der die Weizenfarmen und Rohstofflager des Mittleren Westens mit dem Atlantik und damit den Weltmärkten verbindet. Die Stadt war einst reich, aber als Industriestandort verlor sie in den 60er Jahren an Bedeutung. Nun hat sie sich als Touristenziel neu erfunden.

Attraktion Nummer eins neben der Uferpromenade am Canal Park mit ihren Bars und Läden ist die gewaltige Stahlkonstruktion der Aerial Lift Bridge aus dem Jahr 1905: Bis zu 6000-mal pro Jahr hebt sie eine Straßenfahrbahn um 40 Meter an, um Jachten und Ausflugsboote in den Hafen zu lassen.

Im Winter ruht die Schifffahrt oft, weil der See zufriert. Und auch wenn nicht, ist ein Besuch alles andere als gemütlich: „Wir haben manchmal Wellen, die fünf Meter hoch sind“, erzählt Gene Shaw vom Tourismusamt der Stadt Duluth. „Es sind 160 Meilen bis nach Kanada, und dazwischen liegt nichts außer Wasser. Wenn dann der Wind aus Nordosten bläst ...“ – Gene Shaw bricht den Satz ab, aber das Mantra der Menschen vom Lake Superior klingt unausgesprochen mit. Auch und besonders in den kalten Monaten ist der See der Boss.

Wie schnell das Wetter umschlagen kann, erfahren Reisende, die von Duluth nach Nordosten fahren, der kanadischen Grenze entgegen. Lockt zunächst noch der Gooseberry Falls State Park mit seinem pittoresken Wasserfall im Sonnenschein zum Wandern, so schlägt wenige Autokilometer weiter am Split Rock Lighthouse das Wetter unvermittelt um. Dichter Nebel legt sich plötzlich über den See. Früher hätte jetzt alle 20 Sekunden ein Nebelhorn ein dumpfes Tuuuuut erschallen lassen, doch schon seit mehr als 40 Jahren hat moderne Navigationstechnik diese Warnfunktion überflüssig gemacht.

Die Historische Gesellschaft von Minnesota präsentiert die Anlage so, wie sie bis 1924 ausgesehen hat: Touristen können sich anschauen, wie die Leuchtturmwärter lebten und wie sie alle zwei Stunden das Antriebssystem aus Zahnrädern und Gewichten für die 2,5 Tonnen schwere Leuchtfeuer-Linse aufdrehen mussten – damit sich der Lake Superior hier keine weiteren Opfer holen konnte.

Bei einer Fahrt in den Osten von Duluth liegt Minnesota bald im Rückspiegel – und der Lake Superior selten vor der Nase. Denn der Highway 2 verläuft nur an wenigen Stellen in Ufernähe. Wer mehr von der Südküste erleben will, muss Abstecher machen – zum Beispiel nach Bayfield. In dem Ort voller schmucker Holzhäuser haben sich viele Einwohner dem Anbau von Bio-Obst und -Gemüse verschrieben. Auf den Farmen dürfen Besucher Himbeeren, Blaubeeren und Äpfel aus lokaler Produktion probieren.

Bayfield ist jedoch vor allem das Tor zu den Apostle Islands. Wer wegen des Namens auf zwölf Inseln tippt, liegt falsch – es sind sogar 22. Die meisten bilden heute einen Nationalpark, nur Madeline Island gehört nicht dazu. „Es wäre zu teuer gewesen, dort das ganze private Land aufzukaufen und die Menschen umzusiedeln“, erzählt Kapitän Brian Edelmann auf der „Island Princess“-Tour.

Etwa 250 Einwohner leben auf Madeline Island, im Sommer steigt die Zahl durch die vielen Ferienhausbesitzer auf bis zu 3000. Angezogen werden sie von dem entspannten Lebensgefühl – viele Menschen lassen abends nicht nur die Autos offen, sondern sogar den Zündschlüssel stecken. Wer einen Wagen stehlen würde, käme ja ohnehin nur bis zur Fähre nach Bayfield, und die verkehrt nachts nicht. Touristen können sich Fahrräder ausleihen – und bekommen an einem halben Tag mehr Wildwechsel zu sehen, als deutsche Autofahrer in einem Jahr.

Auch Schwarzbären leben auf Madeline, wenn auch nicht so viele wie auf der Nachbarinsel Stockton Island. „Es gibt dort etwa 40, das ist die größte Populationsdichte in Nordamerika“, erzählt Käpt’n Brian, als er noch guten Mutes ist, bis Devil’s Island zu kommen. Als ihn der starke Nordostwind zum Umdrehen zwingt, sind viele Passagiere froh, eine warme Jacke mitgenommen zu haben.

Weiter geht es mit dem Auto nach Michigan, in den nächsten US-Bundesstaat. Um den Menschen hier einen Gefallen zu tun, spricht man besser von „UP“. Das Kürzel steht für Upper Peninsula (Obere Halbinsel), wie dieser Teil des Staates genannt wird. Die „Yooper“ gelten in den USA als Hinterwäldler – und sind stolz darauf.

Ein schöner Abstecher vom Highway 2 zum See führt durch die Wälder der Porcupine Mountains, durch die sich auch mehrere Wanderwege ziehen. Zum Beispiel am Lake of the Clouds, der mit seiner Lage inmitten grüner Hügel jeden Hobbyfotografen entzückt.

Unterwegs gibt es oft meilenweit keinen Gegenverkehr, vor vielen Häusern am Seeufer zwischen Silver City und Ontonagon ist das Schild „Zu verkaufen“ in den Boden gerammt. Auch nach der Finanzkrise wollen zahlreiche Amerikaner ihren Zweitwohnsitz am See loswerden – nicht immer mit Erfolg. Die Gegend könnte bald noch einsamer werden – die langen Sandstrände, an die der kräftige Wind schon wieder hohe Wellen wirft, sind es schon jetzt sehr oft.

Hunderten von Seeleuten ist der unberechenbare Lake Superior zum Verhängnis geworden, die Südküste gilt als „Schiffsfriedhof“. Wer sich ein Bild davon machen möchte, kann in Munising weiter östlich auf der „UP“ eine Wracktour mit einem Glasbodenboot unternehmen.

„Käpt’n Dano“ und Pepper VanLandschoot steuern es unter anderem zu den Überresten der „Bermuda“, einem 1870 gesunkenen Eisenerzfrachter, der zum Teil nur drei Meter unterhalb der Wasseroberfläche liegt. Schon steuert das Schiff die nächste „Grabstelle“ an, wo dereinst ein Holzschiff auseinanderbrach. „Wir wissen nicht, wie es hieß und wann es sank. Es muss in der Zeit zwischen 1770 und dem späten 19. Jahrhundert gewesen sein“, erzählt Pepper. „Es ist eines jener Schiffe, die einen Hafen verließen, aber nie am Ziel ankamen.“ Pepper VanLandschoot überlegt, als wolle er noch etwas hinzufügen. Doch dann sagt er ihn nicht, jenen Satz vom See, der hier der Boss ist. Doch das wissen seine Gäste ja längst.

 Christian Röwekamp

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