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Reise: Die Freiheit des Kondors

Yellowstone, Grand Canyon oder Zion: Die Nationalparks der USA sind grandios. Freundliche Ranger schützen vorm Verlaufen

Auf einer dürren Kiefer über dem Abgrund trällert ein Vögelchen sein Lied. Streifenhörnchen flitzen über die von der Morgensonne beschienenen Felsgrate. Während hier oben am Aussichtspunkt die ersten Besucher angekommen sind, liegt der Colorado River noch im Dämmerlicht. Knapp zwei Kilometer sind es von hier bis zum Fluss, davon eineinhalb Kilometer abwärts. Eine Tageswanderung, sofern man nicht fehltritt und die vom Volksmund mit typisch amerikanischem Witz sogenannte Zwanzig-Sekunden-Tour absolviert. Kein schöner Gedanke. Aber er liegt nahe hier, an der Nordkante des Grand Canyon, in 2600 Meter Höhe über Meeresniveau.

„Guten Morgen miteinander!“, ruft ein freundlicher Schnauzbart in die Ruhe hinein, „hat irgendwer eine Frage?“ Ein drahtiger Mann, Anfang 60, in grünem Hemd und mit einem dampfenden Kaffeebecher in der Hand. „NPS Volunteer“ steht auf seiner Brusttasche. Der Blick über den Canyon hat uns im ersten Moment sprachlos gemacht, aber jetzt hätten wir ein paar Fragen. Was man als Volunteer so tut, ob die großen Vögel da unten im Dunst wirklich Kondore sind und ob es stimmt, dass ein halbes Dutzend davon am Grand Canyon lebt.

NPS, der National Park Service, ist für das zuständig, was sie hier „America’s best idea“ nennen. Nachdem die ersten Weißen über das 2400 Meter hoch gelegene Vulkanplateau im heutigen Wyoming mit seinen dampfenden Schlammlöchern und Geysiren zogen, beschloss der Kongress 1872 eine Weltpremiere: Er erklärte diesen magischen Ort zum Nationalpark. Mit dem Yellowstone war zum ersten Mal eine Landschaft um ihrer selbst willen geschützt worden. Fast 140 Jahre später ist die Nationalparkverwaltung eine Abteilung des US-Innenministeriums mit 20 000 hauptberuflichen Mitarbeitern, die eine ansteckende Begeisterung für ihren Job und die fast 400 von ihnen betreuten Gebiete – davon 58 klassische Nationalparks – eint.

Angesteckt haben sich zum Beispiel Pat, unser Schnauzbart, und seine Frau Nancy, die in ihrem grünen Freiwilligen-Hemd jetzt ebenfalls den Aussichtspunkt erreicht hat. Zwei von 176 000 sogenannten Volunteers-in-Parks, kurz VIPs genannt. Vor ein paar Jahren haben sich die beiden aus ihren Bürojobs im Mittleren Westen verabschiedet, ihr Haus verkauft und die Lebensversicherung kassiert. Das Geld investierten sie in ein Zwölf-Meter-Wohnmobil mit Erkern zum Ausfahren, geräumiger Sofalandschaft und einer Abschleppstange, um den praktischeren Pkw hinterherzuziehen.

Mit dieser Fuhre dürfen sie gratis den Sommer auf dem Campingplatz verbringen. Im Gegenzug fahren sie die Ausflugsrouten ab und wandern die Wege entlang, um – was selten notwendig ist – Müll aufzusammeln, die Beschilderung zu kontrollieren oder von den häufigen Spätsommergewittern ausgewaschene Passagen auszubessern. Und natürlich, um Menschen wie uns zu erklären, dass die kreisenden schwarzen Vögel dort unten keine Kondore sind, sondern Raben. „Die Raben sind so schlau, die kommen bei 50 Grad im Juli genauso zurecht wie bei minus 20 und mehreren Metern Schnee im Januar“, sagt Pat. „Aber ein Kondor ist ein völlig anderes Kaliber.“ Manchmal säßen die Aasfresser den ganzen Tag lang auf einem Ast über dem Abgrund und behielten die Besucherscharen im Auge: „Als ob sie warten, bis einer abstürzt.“

Nancy sagt, die Kondore seien quasi im letzten Moment hier angesiedelt worden: Mit ihren Nahrungstieren hatten sie bleihaltige Munition gefressen, so dass die Schalen ihrer Eier nicht mehr hart genug waren. Jetzt erzieht der Nationalparkservice die Jäger dazu, nur bleifreie Munition zu benutzen. um die Riesenvögel zu retten. „Die gleiten die zehn Meilen von hier bis zur Südkante ohne einen Flügelschlag“, schwärmt Nancy. „Unsereins muss 250 Meilen über die nächste Brücke fahren bis dorthin.“ Dann sagt sie noch, dass wir all das auch von ihrer Enkelin hätten erfahren können. Die nehme mit ihren sechs Jahren in den Sommerferien am Junior-Rangerprogramm teil und assistiere ihrem Großvater, wenn der beim abendlichen „Condor Talk“ auf dem Campingplatz die unglaublich großen Federn herumreiche und den Neulingen erkläre, dass auch ein sehr großer Rabe gegen einen Kondor ziemlich winzig sei.

Ein komfortabler Spazierweg mit dramatischem Ausblick über ein Seitental führt uns zurück zu unserem Wohnmobil. Während die Raben im Grand Canyon überwintern, ziehen die Kondore vor dem ersten Schnee weiter in den tiefer gelegenen Zion Nationalpark. Ein Ort, den seine Entdecker nach dem gelobten Land benannten, weil sie das für angemessen hielten. Keine 300 Kilometer sind es von hier bis dorthin. Ein Glück für Urlauber angesichts der Weite des Landes. Genau wie die ähnlich urlauberfreundlichen Entfernungen zu den anderen Wundern, die Erosion und frühzeitliche Meere am Colorado Plateau vollbracht haben: Capitol Reef, Arches, Canyonlands. Und Bryce Canyon, unser nächstes Ziel.

Dort zahlen wir am Morgen die üblichen 20 Dollar Eintritt fürs Wohnmobil, nehmen das gewohnt perfekt sortierte Infopaket zum Park entgegen und fragen nach einem geeigneten Wanderweg für Flachlandtiroler. Mit Hingabe beschreibt uns der Ranger am Tresen eine Runde, die in der Karte „The world’s best three mile hike“ heißt. Die weltbeste Drei-Meilen-Wanderung. An den ersten Reisetagen hätten wir abgewinkt nach dem Motto: Unterm Superlativ machen’s die Amis eben nicht. Jetzt sehen wir die Sache amerikanisch – also positiv und wohlwollend. So, wie es noch immer erfreulich viele Leute hier mit Unbekanntem tun.

Wie Zuschauerreihen in einem gigantischen Amphitheater stehen die Sandsteinsäulen zu beiden Seiten des Weges. Glühendes Rot neben sanftem Creme und unschuldigem Rosa. Bogen neben Zinnen, Grate neben Rundungen, Miniaturen neben Domen. Jede Kehre eröffnet neue Blickwinkel, weckt neue Assoziationen. Von links schaut E.T., der Außerirdische, auf uns hinab, während rechts die Kathedrale von Palma de Mallorca fast in Originalgröße zu stehen scheint. Als wäre das nicht genug, haben Wind und Wetter noch einzelne Bäume auf die abenteuerlichsten Klippen unter dem tiefblauen Himmel dekoriert: dunkelgrüne Kiefern und goldgelb leuchtende Zitterpappeln. Eine Sinfonie aus Formen und Farben, die dank immer neuer Aus- und Einblicke ihren Zauber über Stunden erhält.

Wieder am Parkplatz stellen wir zufrieden fest, dass dies wohl tatsächlich die weltbeste Drei-Meilen-Wanderung war. Wenn es etwas auszusetzen gibt, dann ihr allzu frühes Ende. Aber wenn wir mehr bekommen möchten, können wir uns an die Ranger im Infocenter wenden und an Leute wie Nancy und Pat – die Idealisten hinter Amerikas bester Idee.

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