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Reise: Die Glocke im See

Zwischen Bergwildnis und Seepromenade: Warum im Norden von Slowenien Wanderer und Flaneure glücklich werden

Fast unbemerkt sind die Felswände zu beiden Seiten immer höher geworden. Die stille Waldlandschaft wirkt wie verwandelt. Statt Verbindungsglieder zum Licht des Himmels sind die schlanken Buchen nun Mammutgewächse im Biotop eines schattigen Canyons. Man fühlt sich unbedeutend und klein, als zwergenhafter Eindringling in ein Reich, das mit Farnen, Lungenkraut und stängellosem Enzian geschmückt ist – ein Reich, das sich den Elementargewalten des Wassers verdankt.

Zu sehen ist freilich nicht das kleinste Rinnsal. In Karstlandschaften verschwindet das Regenwasser nämlich in den Spalten und Höhlen, die es sich in den löslichen Kalk gegraben hat. Geformt wurde die Pokljuka-Soteska in grauer Vorzeit – durch das Abschmelzen der Gletscher. Irgendwann fand das Wasser einen unterirdischen Weg und das Tal fiel trocken – es verkarstete.

Pokljuka hört sich nach Finnland an. Wir sind jedoch im Herzen Sloweniens, jenem Teilstaat Ex-Jugoslawiens, der schon vor Jahren den Sprung in die EU geschafft hat. Das Hochplateau mit dem seltsamen Namen ist hierzulande allenfalls aus dem Fernsehen bekannt – als Austragungsort internationaler Biathlon- Wettbewerbe. Es sei hier wahrscheinlicher auf einen Braunbären zu treffen als auf einen Menschen, hatte unser slowenischer Führer heute Morgen augenzwinkernd angemerkt. Doch das ist natürlich übertrieben, denn die etwa 400 Bären, die jedes Jahr durch Slowenien ziehen, sind so scheu, dass man sie eigentlich nie zu Gesicht bekommt, schon gar nicht, wenn man in einer Gruppe unterwegs ist.

Die Slowenen teilen sich das Land freiwillig mit den Bären. Wie sehr sie sich mit ihrer Natur identifizieren, sieht man daran, dass der höchste Gipfel, der fast dreitausend Meter hohe Triglav, den Weg ins Staatswappen gefunden hat. Erstaunlich naturnah präsentiert sich aber auch die bäuerliche Kulturlandschaft. Zumindest im alpinen Norden wurde und wird das Land eindeutig schonender bearbeitet als etwa jenseits der Karawanken in Kärnten. Fast überall wird das Heu noch an den typischen Holzgestellen, den sogenannten Heuharpfen, getrocknet, und es gibt kaum ein Bauernhaus, das keinen liebevoll gepflegten Gemüsegarten hätte.

Obwohl Slowenien einen Streifen Adriaküste und mit Ljubljana eine sehenswerte urbane Metropole hat, steht der alpine Norden traditionell im Mittelpunkt des touristischen Interesses. Naturfreunde finden das europäische Hochgebirge rund um den Triglav-Nationalpark noch in einer Ursprünglichkeit vor, die anderswo längst verschwunden ist – ohne geteerte Alpstraßen, Zweitwohnungsareale, Riesenparkplätze und Skistationen. Selbst vor den Zwängen der Kommunikationsgesellschaft ist man sicher. Zwischen den kahlen Giganten Triglav, Krn und Mangart funktioniert das Handy fast nirgendwo. Nicht ohne Schadenfreude beobachten wir abends einen Landsmann, der auf der Suche nach einem Netzsignal vor der Hütte verzweifelt auf- und abläuft.

In den stillen Landschaften des Nationalparks trifft man vor allem Einheimische, in der Regel freundliche, hilfsbereite und bescheidene Menschen. Auf die Idee, im Hochgebirge nach einer warmen Dusche zu fragen, kämen sie nicht – im Gegensatz zu manchen Touristen. Ebenso klaglos begnügen sich die Einheimischen mit den Standardangeboten der Alpenvereinsküche: Es gibt Juha, eine gewöhnungsbedürftige Sauerkrautsuppe oder Ricet, eine Art Minestrone, die überaus schmackhaft sein kann. Die spartanischen Angebote auf den Hütten sind Ausdruck der Philosophie des einfachen Lebens, die unter Bergfreunden des ehemaligen Ostblocks noch ganz selbstverständlich ist.

Auch wenn die Gäste wegen der unverdorbenen Landschaft nach Slowenien kommen, ist es vielen im Hinterland doch etwas zu ruhig. Der beliebte Kompromiss besteht darin, sich die Sehenswürdigkeiten der Natur von Bled aus zu erschließen. Der bekannteste Ferienort Sloweniens, der unter den Habsburgern Veldes hieß, zog schon im 19. Jahrhundert Reisende aus ganz Europa an.

Touristisch erschlossen wurde das Postkartenidyll mit See, Inselkirche und der hoch über dem Wasser thronenden Burg vom Schweizer Arzt Arnold Rikli. Um 1860 ließ er drei Dutzend einfache Wohnhütten und ein Badehaus ans nördliche Seeufer stellen – die historisch erste Kuranstalt für Naturheilverfahren. Die Therapie bestand aus einer Kombination von See- und Sonnenbädern mit Jogging und ausgiebigen Spaziergängen in frischer Luft, bei der ein genau festgelegter Zeitplan eingehalten werden musste. Alkohol war streng verboten, und Fleisch gab es nur gegen drastische Sonderzahlungen. Die wohlhabenden Patienten kamen nicht nur aus dem Kaiserreich, sondern auch aus Deutschland, England, Russland und der Schweiz.

Weil viele Kurgäste sich in Bled wohlfühlten, sich allerdings dem strengen Regiment von Doktor Rikli kein zweites Mal unterwerfen wollten, entstand schnell ein großer Bedarf an normalen Unterkünften, der durch den Bau zahlreicher Pensionen prompt gedeckt wurde. Als Veldes 1903 zum schönsten Kurort des Kaiserreichs gekürt wurde, hatte es längst den Bekanntheitsgrad von Meran und Bad Ischl. Um das Image der Internationalität zu festigen, wurden in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts dann einige große Hotelkästen aus dem Boden gestampft, die (leider) noch heute das Ortsbild prägen. Inzwischen können sich zahlungskräftige Touristen sogar in der Villa Bled einmieten. Der Prachtbau am Südufer war während der kommunistischen Ära Jugoslawiens der Sommersitz von Staatspräsident Tito. Man sagt, er habe diesen nicht gerade zentral gelegenen Ort gewählt, um bei einem Einmarsch der Russen sofort über den Wurzenpass nach Kärnten verschwinden zu können.

Unverzichtbarer Bestandteil eines Bled-Aufenthalts ist die Überfahrt zur Insel Blejski Otok, die Tito stets vor Augen lag. Weil Motorboote auf dem See seit jeher verboten sind, bedarf es bei einer Bootsfahrt ordentlich Muskelkraft, gottlob aber nicht der eigenen. Denn am Ufer warten kräftige Fährmänner wie Gondolieri mit ihren schmucken Holzbooten. Solange die zwanzig überdachten Plätze nicht komplett besetzt sind, lassen sie ihre Hände aber in den Hosentaschen stecken. Die Überfahrt dauert rund eine halbe Stunde – Zeit, in der man das unvergleichliche Panorama genießt oder ins glasklare und fischreiche Wasser schaut.

Spätestens im 7. vorchristlichen Jahrhundert besiedelt, war die Insel bereits zu heidnischer Zeit ein kultureller Mittelpunkt. Vermutlich stand hier ein altslawisches Heiligtum, das irgendwann durch eine christliche Kapelle verdrängt wurde. In späteren Zeiten zu einer dreischiffigen Basilika erweitert, zieht sie weit mehr Touristen an, als das vergleichbare Gotteshäuser tun. Sie verspricht dem Besucher nämlich die Erfüllung eines beliebigen Wunsches – wenn es ihm gelingt, drei Mal hintereinander die Glocke zu läuten, die der Papst im Jahre 1534 höchstpersönlich gestiftet hat. Das Wunder wirkende Geschenk sollte den Verlust einer gespendeten Glocke ersetzen, die der Überlieferung zufolge wenige Jahre zuvor bei der Überfahrt zur Insel vom Boot gekippt und versunken war. Auf diese Weise gelang es dem Papst, in einem zunehmend reformierten Umfeld wieder eine kirchliche Attraktion zu schaffen – ein Marketing-Coup, von dem seine weltlichen Nachfolger noch heute profitieren.

Gerhard Fitzthum

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