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Reise: Die klugen Köpfe von Boston

Fast wär dem Gast das Häppchen im Hals stecken geblieben. „Liegt Dublin eigentlich in Deutschland?

Fast wär dem Gast das Häppchen im Hals stecken geblieben. „Liegt Dublin eigentlich in Deutschland?“, fragt der junge Mann arglos, während er hinter dem Buffet eines Bostoner Hotels ein Stück von einem gewaltigen Fleischbrocken absäbelt. Uff, willkommen in Amerika! Fleischaufschneider Wayne ist mit dem deutschen Besucher ins Plaudern geraten und prahlt ein wenig mit seinem Irland-Trip im vergangenen Jahr. Wie ihm jetzt die Geografie so durcheinanderkommen kann, bleibt ungeklärt. Klar hingegen ist: Selbst Boston, das Hirn und somit wirtschaftliche Kraftwerk der USA, hat kleine Wissensunfälle zu beklagen. Die sind hier im Vergleich zu Rest-Amerika eher selten, obwohl auch für die meisten Bostonians der Zugang zu den grandiosen Bildungsstätten der Hauptstadt von Massachusetts – allen voran Harvard und MIT – so weit entfernt ist wie der Mars. Na, sagen wir: wie der Mond. Doch der Blick der Stadt und ihrer Bürger richtet sich traditionell eher gen Europa denn Richtung Prärie. Entsprechend weiter ist der Horizont, was sich auch im Lebensgefühl in dieser Stadt am Atlantik spiegelt.

John Irving mag voreingenommen sein. Doch was der Schriftsteller („Hotel New Hampshire“) über seine Heimat Neuengland sagt, kann man bei einer Reise nach Boston gut verstehen: „Neuengland ist so, wie der Rest der USA sein möchte.“ Nicht nur der Rest der Vereinigen Staaten, möchte man rufen. Da gäbe es noch einige Aspiranten auf der Welt, die sicherlich nichts dagegen hätten, unter kulturellen, wirtschaftlichen und touristischen Aspekten auch nur ein Scheibchen des Potenzials der sechs Staaten im Nordosten der USA für sich abzuschneiden.

Boston also. Tor nach Neuengland. Gehaltvolle Geschichte, viel altes Geld, sehr viel neues Geld, Dutzende Denkfabriken, Zukunftsindustrie, Medizingurus, europäisches Flair und freundliche Menschen, Heimat des Kennedy-Clans. Und läge nicht dieser merkwürdige Fluch über der prominentesten Familie der USA, möchte man meinen: Boston, Hort der Glückseligen. Doch so einfach ist es nicht.

Nun läge die Stadt nicht in Amerika, gäbe es nicht auch hier die Geißel, die den Metropolen des Kontinents so zu schaffen macht: das Auto. Doch wo noch vor wenigen Jahren unvorstellbar hässliche Schnellstraßen auf Stelzen die Innenstadt zerschnitten, wurden in einem einzigartigen Kraftakt die Autobahnen unter die Erde verlegt. Rund 15 Milliarden Dollar verschlang „the Big Dig“, das große Graben, dessen Planung bereits 1982 begonnen hatte. Nun ist das Projekt fertiggestellt – die Stadt hat ein neues Gesicht bekommen. Und die über Jahre aufgerissenen Wunden sind bereits verheilt. Wo einst auf den Stelztrassen der Verkehr rauschte, dann gewaltige Baugruben gähnten, Einwohner und Touristen gleichermaßen verzweifelt in endlosen Staus standen, kleben jetzt große, grüne Pflaster: der Rose-Kennedy-Greenway und weiterer Parks. Zur Freude von Hundebesitzern (mit Tüte!) und Joggern.

Schon beginnt Boston, neues Potenzial für seine Entwicklung anzuzapfen. Das Verschwinden der furchtbaren Schnellstraßen öffnet die Stadt jetzt zum Hafen, bringt Licht, Luft und Sonne. Überhaupt ergeben sich schöne Aussichten. Auf mehr als drei Millionen Quadratmetern entsteht ein neues Viertel, ähnlich der Hafencity in Hamburg, wo auch die Brachen am Wasser neu belebt werden.

Nicht nur die Bostonians sollen vom neuen Leben im alten Hafenviertel profitieren, wo in den historischen Lagerhäusern und frühindustriellen Produktionsstätten aus roten und gelben Ziegeln Modernität Einzug hält. Bisher wanderten Touristen vor allem auf den Pfaden der Pilger- und anderer Gründerväter entlang den historischen Sehenswürdigkeiten der 1630 etablierten Stadt. Heute und in naher Zukunft können sie hier auch ein Amerika erleben, das die Augen öffnet für das, was möglich ist, wenn beste akademische Ausbildung für viele in eine wirtschaftliche Kraft mündet, die hoch qualifizierte und entsprechend dotierte Arbeitsplätze, letztlich Kaufkraft entstehen lässt.

Schließlich weist Boston nicht nur die Harvard-Universität und das Massachusetts Institute of Technology (MIT) auf. Nicht weniger als 86 Colleges und Universitäten sind in der Stadt mit etwa 600 000 Einwohnern sowie der unmittelbaren Umgebung angesiedelt. „Boston wächst aus sich heraus, hier gibt es wenig Zuwanderung“, sagt Young Park, Präsident von Berkeley Investments, Stadtplaner und Architekt mit Abschlüssen in Harvard und am MIT (und verheiratet mit einer Potsdamerin). Er ist treibende Kraft und gemeinsam mit dem Architekten David Hacin kreativer Kopf hinter einem der Hauptprojekte im Hafenviertel.

Mit ins Boot geholt haben sie sich auch Barbara Lynch, eine Ikone der Bostoner Gastroszene, die sich mit solidem Können am Herd und sehr ausgeprägtem Geschäftssinn ein Gourmet-Imperium aufgebaut hat, dessen Keimzelle das „No. 9 Park“ ist, ein Restaurant, das immer voll ist, wo man jedoch angeblich nie einen Tisch bekommt. Nun, mit etwas Glück und Warterei gelingt es schon – allein, hohe Erwartungen angesichts saftiger Preise (Hauptgerichte in Portionen, die man fast einatmen kann, ab 32 Dollar) werden arg enttäuscht. Während das Kulinarische geschmacklich als „ordentlich“ durchgehen mag, ist das Drumherum schlicht eine Katastrophe: Bis auf den letzten Quadratzentimeter ist das Lokal zugestellt, Ellbogenfreiheit, die auch viele Harvardabsolventen beim Essen mit Messer und Gabel anscheinend immer reichlich benötigen, gibt es nicht. Dazu das Personal, das vom arroganten Empfangschef bis zu den sich an Türpfosten lümmelnden, am Entkorken von Flaschen scheiternden, bestenfalls angelernten Kellnern, eher an ein drittklassiges Nachtlokal in Moskau erinnert, denn dem angesagtesten Restaurant des noblen Boston angemessen ist.

Doch auch im neuen Hafenviertel wird Barbara Lynch reüssieren, da darf man sicher sein. Neben neuen trendigen Läden auch der Lynch-Konkurrenz, schicken Büroetagen und pfiffigen Designer-Lofts – bei deren Besichtigung nicht nur angesichts des Preises der Atem stockt –, Hotels, Bars und Geschäften wird auch Kultur in reichem Maß geboten. Das Institute of Contemporary Art (ICA) empfängt bereits mit oft wechselnden Ausstellungen Besucher. In bester Lage am Wasser ist ein spektakulärer Bau entstanden, der in dieser puritanischen Stadt schon außergewöhnlich wirkt und neugierig macht auf das, was im neuen Hafenviertel noch entstehen wird.

Hier „angelandet“ ist auch das Children’s Museum, das es seit mehr als 90 Jahren in Boston gibt. Ein Bildungstempel, in dem das „Handanlegen“ für die jungen Besucher oberstes Prinzip ist. Eben steht die achtjährige Kyla am Dirigentenpult, hebt den Taktstock, und schon tönt das Boston Pops Orchestra exakt in dem Tempo, das die Kleine vorgibt. Wunder der Elektronik! Währenddessen steht ihr Bruder – angetan mit Schürze und Schutzbrille – eine Etage tiefer an der Werkbank. Hier hobelt und sägt er gemeinsam mit anderen Kindern, was das Zeug hält.

Boston ist vor allem eine Stadt für Touristen, die gut zu Fuß sind. Solides, gut eingelaufenes Schuhwerk wird sie über den „Freedom Trail“ vorbei an alle historisch interessante Punkten tragen. Wer mag und keine Höhenangst spürt, kann sich im 94. Stock des Hancock Towers einen Überblick verschaffen. Das Boston Tea Party Ship darf man als „Muss“ betrachten. Beacon Hill, das Viertel, wo der Geldadel wohnt und jedes geparkte Auto diesseits von S-Klasse und Porsche Cayenne übel auffällt, kann der Besucher nicht schlendernd durchstreifen, ohne Gefahr zu laufen, von den Bewohnern argwöhnisch beäugt zu werden.

Wer sich den Bummel entlang feudalen Einkaufsstraßen wie der Newbury Street sparen und sich das europäisch anmutende Flair mit amerikanischem Einschlag entgehen lassen möchte, nimmt die U-Bahn. Gut und günstig bringt sie einen beispielsweise auf die andere Seite des Charles River nach Cambridge, wo dann so mancher auf dem imposanten Campus von Harvard unter altem Baumbestand davon träumt, was wäre, wenn ...

Zu einer Zeitreise gerät der Besuch der John-F.-Kennedy-Library, die ein paar U-Bahn-Stationen vom Stadtzentrum entfernt liegt. Kein Geringerer als Ieoh Ming Pei hat das Gebäude geplant, das wie ein Solitär an der Boston Bay steht. In China geboren und aufgewachsen, hat übrigens auch Pei am MIT und in Harvard Architektur studiert, unter Walter Gropius, dem Bauhaus-Theoretiker. Von allen zwölf „Presidential Libraries“ die es in den USA gibt, dürfte das Haus, das ausschließlich John F. Kennedy gewidmet ist, das spektakulärste sein. Die Bibliothek und das nationale Archiv des Hauses ziehen vor allem akademisch arbeitende Besucher an, Touristen strömen ausschließlich in den Museumsteil.

Sehr amerikanisch, sehr patriotisch, in manchen Teilen etwas spießig, aber eben authentisch ist die Ausstellung. Den Machern geht es darum, nicht nur den Menschen und Politiker Kennedy darzustellen, sondern auch den Zustand der amerikanischen Gesellschaft von der Nachkriegszeit bis zum Tod des Präsidenten 1963. Das Schaufenster von „Smith’s Home Appliances“, ein Elektroladen irgendwo in Amerika, ist nachgebaut. Die historischen Fernsehgeräte zeigen Wahlkampfspots der Kennedy-Kampagne gegen Richard Nixon. Ein junger Harry Belafonte ist zu sehen: „Als Neger in den USA habe ich viele Fragen. Doch ich stimme für den Typ. Was ist mit euch?“ Tusch, Abspann.

Hier findet keine politische Aufarbeitung des politischen Lebens von JFK statt. Dass überwiegend Positives gezeigt wird, ist an diesem Ort legitim. Auch wenn man die Schattenseiten des bis heute strahlenden Präsidenten kennt. Der übrigens wusste, dass Dublin nicht in Deutschland liegt. Nicht nur, weil seine Urgroßeltern aus Irland stammten.

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