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Reise: Entscheidung in Kings Cross

Den Ort des Schreckens betritt der Suchende in der fünften Etage. Von dort fährt er mit einem schmuddeligen, ratternden Aufzug in den Untergrund.

Den Ort des Schreckens betritt der Suchende in der fünften Etage. Von dort fährt er mit einem schmuddeligen, ratternden Aufzug in den Untergrund. In die Backpacker-Hölle von Sydney, ins etwas andere „down under“. Hier, auf der zweiten Etage des unterirdischen Parkhauses im Stadtviertel Kings Cross, begegnen sich Rucksackreisende, die ein Auto kaufen wollen, das sie mehrere Wochen oder gar Monate durch Australien begleitet. Und sie treffen auf die, die diese Reise bereits hinter sich haben und nun vor der Heimreise ihr Vehikel unbedingt verkaufen müssen. Reisende aus der ganzen Welt sitzen hier, verbrüdern sich im Elend des Wartens, wünschen sich nichts sehnlicher als den Verkauf ihres Wagens – und freuen sich trotzdem, wenn der Nachbar endlich einen Abnehmer für seine Karre gefunden hat.

Sie stehen in Reih und Glied. Campervans beherrschen eindeutig die Szenerie. So richtig zuverlässig sieht allerdings keiner aus. Alle haben mindestens 300 000 bis weit über 500 000 Kilometer auf dem Tacho. Beulenfrei, gibt’s nicht. Nun ja, das neueste Modell ist bereits ein Dutzend Jahre alt. Meistens sind es ehemalige Lieferwagen, hinten drin schon mal ein aus Holzbrettern grob zusammengeschraubtes Bett. Mitsubishi L 300 Express, Toyota Hiace, Ford Econovan. Dazu eine Handvoll Kombis, die meisten vom Typ Ford Falcon mit fettem Vierliter- und Achtzylindermotor. Auch ein paar Geländewagen stehen herum. Eine komplette Campingausrüstung ist bei allen im Preis inbegriffen: Stühle und Tisch, Kocher, Besteck, Töpfe, Geschirr, Bettzeug – alles, was man halt unterwegs so braucht. Oft sogar Schnorchelsets, manchmal Surfbretter und Fahrräder.

Eins haben alle Vehikel gemein: Sie tropfen. Der Boden ist bedeckt mit tausenden dunkler Flecken – ausgelaufenes Motoröl, Kühlwasser, hie und da wahrscheinlich auch Bremsflüssigkeit. So mancher Verkäufer wischt morgens erst mal diskret die Lache unter seiner Kiste weg.

Die Stimmung hier unten ist eine Mischung wie aus den Büchern von Edgar Allan Poe und Franz Kafka. Der düstere Ort wird nur ein wenig von kalt-grünlichem Neonlicht erhellt. Nach Motorenstarts wabern blaugraue Schwaden stinkender Abgase über dem Boden. Die Verkäufer haben das Gefühl, gefangen zu sein – gekettet an das eigene Auto. Das man auf der Fahrt geliebt hat, in dem man geschlafen und geschwitzt hat, das auf Tausenden von Kilometern ein mehr oder oft minder zuverlässiger Gefährte durch Australien war. Und nun steht es hier, und keiner will es haben. Deshalb muss man hier unten ausharren. Man beginnt, die Kiste zu hassen.

Am ersten Tag will niemand meinen Campervan kaufen, obwohl er ganz offensichtlich weniger Beulen als die anderen aufweist. Der zweite Tag vergeht, ohne dass in acht Stunden auch nur ein einziger potenzieller Käufer auftaucht. Und auch am dritten Tag in der Hölle tut sich nichts, weil keiner der blöden Touristen aus Europa weiß, dass Autogas in Australien ungefähr halb so teuer ist wie Benzin. Auch meine Erklärungen können die drei vage Interessierten nicht überzeugen. Dabei hat mein Mitsubishi Express als Einziger aus dem gesamten Angebot hier die Möglichkeit, neben Benzin auch mit dem billigen Gas zu fahren.

Der vierte Tag kommt und geht, der Mitsubishi bleibt. Der einzige Campervan, der verkauft wird, geht an ein Pärchen im Look „hip-alternativ“. Es kauft ein Gefährt von einem anderen Paar, ebenfalls Typ „hip-alternativ“. Meinen Japaner haben sie sich nicht mal näher angesehen, obwohl der besser in Schuss ist, weniger Kilometer drauf hat und fast das Gleiche kostet. Ist mein sauber gebügeltes Oberhemd schuld?

Zwischen zehn Uhr morgens und fünf Uhr nachmittags sitzen wir Verdammten jeden Tag hier herum. Deutsche (wie oft im Ausland die größte Gruppe), Holländer, Tschechen, Franzosen, Engländer, Iren, auch zwei Frauen aus Finnland sind dabei. Die Sekunden tröpfeln am fünften und sechsten Tag langsamer als so mancher Motor hier. Die Zeit scheint stehen zu bleiben. Die lahmen Gespräche drehen sich meist um Autos. Um Vor- und Nachteile, um Mängel. Die haben alle, von der defekten Glühbirne über den bei 354 793 Kilometern stehen gebliebenen Tacho bis zum schweren Motorschaden. Und um die Hoffnung, dass doch endlich, endlich, endlich, bitte, bitte, bald, möglichst bald ein Käufer kommen möge.

Und die meisten potenziellen Kunden sind der Grund dafür, warum es hier kafkaesk, auf rätselhafte Weise bedrohlich zugeht: Welches Autos zuerst weggeht, ist so wenig vorhersehbar wie Börsenkurse. Die einen wollen ein Auto für höchstens 3000 Dollar (rund 1800 Euro). Andere einen Van, der weniger als 300 000 Kilometer drauf hat. Und dann gibt es die, die sich auf ein „Pop-Top“ versteift haben – ein hochklappbares Dach. Vorteil: Man kann im Van stehen. Aber eigentlich, da sind sich alle in der Verkäuferbrüderschaft hier unten einig, völlig unnötig. Wer in Australien unterwegs ist, benutzt den Wagen eigentlich nur zum Fahren und Schlafen. Man sitzt oder liegt drin – aber man steht nicht. Wichtig ist vor allem, dass die Kiste technisch in Ordnung ist. Eine Panne hunderte Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt ist der Albtraum jedes Fahrers.

Ab und zu verkauft jemand sein Auto. Oft völlig überraschend: Da kommt einer, der vor zwei Tagen eine Probefahrt unternommen hat und von dem man dachte, dass er nie wieder auftaucht. Und – zack – ist die Karre plötzlich weg. Dann gibt es meist eine Runde Freibier für alle Anbieter in der tristen Parkhausetage. Ungeschriebenes Gesetz: Wer sein Auto verkauft hat, gibt einen aus. Hält sich natürlich nicht jeder dran – oft sogar die nicht, die vorher jedes Bierchen, das sie abstauben konnten, weggezischt haben.

Der siebte Tag. Halleluja – der Mitsubishi ist verkauft. Ich bin so glücklich wie seit Jahren nicht mehr. Ein schlauer Australier hat zugeschnappt. Der weiß, wie viel Geld man mit Autogas auf den langen Strecken spart.

In Perth hatte ich den Wagen gekauft, knapp 1000 australische Dollar in Inspektion und kleinere Reparaturen investiert.

Den Süden von Western Australia habe ich gesehen, bin dann an der Küste hinauf bis nach Darwin gefahren, war im Kakadu-Nationalpark und in vielen anderen, habe den Ayers Rock bestaunt, die Opal-Metropole Coober Pedy besucht und bin schließlich hier in Sydney gelandet. Nach drei Monaten und gut 18 000 Kilometern geht der Mitsubishi weg. Mit Verlust, nun ja. Insgesamt zahle ich 1000 Euro drauf. Doch das ist keine schlechter Schnitt für drei Monate fahrbaren Untersatz. Heilfroh streiche ich also die 3950 Dollar ein und überreiche dem Rentner feierlich die Schlüssel.

Im Überschwang schwöre ich: Die „Hölle von Sydney“ wird mich nicht wiedersehen! Doch gemach. Vielleicht zieht es mich noch einmal nach Australien. Dann werde ich ein Auto brauchen. Muss es kaufen – und wieder verkaufen. Na dann, auf ein Wiedersehen im etwas anderen „down under“.

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