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Erzgebirge: Warten auf den Kellner

Mitropa-Nostalgie: das Wolkensteiner Zughotel in Sachsen.

Schmerz, lass nach! Das hat richtig wehgetan. Hochgeschreckt, hat sich der Hotelgast mächtig den Kopf gestoßen. Am Bett über ihm. Er hat die untere Koje in einem Schlafwagenabteil des Zughotels Wolkenstein gebucht. Dabei war die Nacht eigentlich ganz friedlich. Es hat weder gerattert noch geschaukelt. Der Zug steht still – doch sonst ist alles stilecht und original in diesem ehemals rollenden Hotel.

Für Ostdeutsche wird der Besuch des Zughotels im Erzgebirge zu einem wahren Nostalgietrip. „Kannst du dich noch erinnern, als wir mit dem FDGB-Reisescheck im Gepäck nach Rügen gefahren sind?“ „Weißt du noch, unsere erste Reise nach Ungarn …?“ So laufen die Gespräche abends im Hotel. Für gelernte Wessis kann so ein Aufenthalt zu einer lehrreichen Geschichtsstunde werden.

Nach dem rüden Erwachen lockt das Frühstück im Speisewagen des Zuges auf dem Abstellgleis. Nach der Wäsche im zeitgemäß aufgemotzten, gleichwohl winzigen Waschabteil sitzen zu früher Stunde nahezu alle Gäste schon am Tisch und erwarten den Kellner. Den Mitropa-Kellner natürlich, der schon früher auf sich warten ließ – und dann nicht eben freundlich auftauchte. Doch der kommt glücklicherweise nicht ... Ulrich Reuter, der Besitzer des Zughotels, will die Authentizität zum Glück so weit nun nicht treiben. Auch wenn er selbst zu DDR-Zeiten viele Jahre als Mitropa-Kellner quer durchs kleine Land unterwegs war. Im Zughotel wird Service heute nämlich großgeschrieben.

Die rote Mütze des Bahnhofvorstehers trägt er nicht, auch Zugschaffner oder Lokführer sind nicht seine Professionen. Ulrich Reuters angestammter Platz ist in der Küche seines Hotelrestaurants. Trotzdem ist er Herrscher über 15 mehr oder minder alte Reisezugwagen der Deutschen Reichsbahn, die nun auf Dauer im Wolkensteiner Bahnhof parken, direkt am Fuß des Schlosses mitten im Zschopautal. „1990 fing das Ganze mit einem Imbissstand am Bahnhof an“, erinnert sich Ulrich Reuter an die Startphase seines Projektes. „Ich besaß zu Wendezeiten ein Gasthaus im Nachbarort. Plötzlich hatten die Menschen kein Geld mehr für Gaststättenbesuche, es kam kaum noch Kundschaft. Wir mussten uns also etwas anderes einfallen lassen.“

Ungewöhnliche Ideen waren gefragt. Dabei war sein Imbissstand am Anfang wahrlich nicht originell. Doch Ulrich Reuter hatte als gelernter Koch nicht nur seine Lehrzeit, sondern auch viele Berufsjahre in den rollenden Restaurants der Mitropa verbracht. Was lag näher, als sich daran zu erinnern?

Es dauert nicht lange und seine Verpflegungsbude zog in einen ausrangierten Reisezugwagen um. Vor dem Fenster wurde eine gemütliche Sitzecke eingerichtet, und im Inneren des Wagens entstand ein kleines Restaurant. Das Fundament für sein Zughotel war gelegt. „Sicher hatte ich am Anfang nicht an die heutigen Dimensionen gedacht“, so der Hotelier, der sich noch gern selbst in der modernen Küche des Hotels auf Rädern um das leibliche Wohl seiner Gäste kümmert.

Es kam, wie es kommen musste – und ein Waggon zum nächsten. Heute sind es 15, die unter seiner Obhut stehen. Da herrscht bei den beiden Haus(zug-)meistern nie Langeweile. Der Wartungsbedarf des ehemals fahrenden Materials ist hoch. Auch die Aus- und Umbauarbeiten in den Waggons hat die Truppe um Ulrich Reuter fast durchweg in Eigenregie ausgeführt. „Zwar lege ich großen Wert auf den Originalzustand, aber besonders im sanitären Bereich mussten wir doch einiges optimieren.“

Im Hotel stehen 62 Betten zur Verfügung – von der Luxusausführung in einem Waggon des ehemaligen Regierungszuges bis zu Standardplätzen in Schlafwagen der zweiten Klasse, die dann freilich Toiletten und Waschräume auf dem Gang hatten und haben. Der Übernachtungspreis schwankt je nach Kategorie zwischen 22 und 30 Euro pro Person inklusive eines kräftigen Frühstücks. „Wir liegen sehr zentral im Erzgebirge. Bis nach Annaberg-Buchholz ist es nur ein Katzensprung, und auch Freiberg, Zschopau und Marienberg sind schnell zu erreichen. Ein idealer Ausgangspunkt, um Traditionen und Natur unserer Heimat zu entdecken.“

Für Gäste, die länger bleiben wollen, bietet das Hotel zusätzlich Ferienwohnungen. Zwei davon stilgerecht in Eisenbahnwaggons und eine dritte, nicht weniger passend, im Bahnwärterhaus. „Aus Erfahrung weiß ich, dass es zwar viele sehr originell finden, einmal in einem Zughotel zu wohnen. Immerhin sind wir in Deutschland einzigartig. Doch nach zwei oder drei Nächten wird es letztlich auch dem hartgesottenen Eisenbahnfan auf den rund fünf Quadratmetern unserer ,Zimmer‘ zu eng.“ Aber: Man muss ja nicht im Abteil bleiben. Früher haben die Leute schließlich auch gern auf dem Gang gestanden.

Auskunft: Wolkensteiner Zughotel, Am Bahnsteig 10, 09429 Wolkenstein/Erzgebirge; Telefon: 037369/5821, Internet: www.wolkensteiner-zughotel.de.

Axel Scheibe

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