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Gent, einst eine europäische Metropole, wird geprägt von Kanälen, Wasserstraßen und Flussläufen – und mehr als 200 Brücken.

© imago

Flusskreuzfahrt: Sanfte Schleifen bis zur Schleuse

Belgiens Wasserstraßen führen zu stolzen Städten, schmucken Dörfern und verwunschenen Auen.

Die Begrüßung ist freundlich. „Goeden dag!“, wünscht uns Gwen Steeman. Er nimmt die Koffer, führt uns die Gangway des Anlegers hinunter und bleibt vor einem schneeweißen Kabinenkreuzer stehen. „Das ist euer Schiff“, sagt er. „Eine Countess, zehn Meter lang, mit Flybridge, vier Kojen, zwei Bädern und kompletter Küche. Bettzeug ist an Bord. Gasflaschen, Wasser- und Dieseltank sind voll.“ Wir erledigen noch schnell die Formalitäten, verstauen unsere Sachen und lassen uns dann die Törnroute erklären. „Ihr fahrt bis zur Schelde, dort durch die Brusselsepoort-Schleuse, weiter über die Innenstadtkanäle von Gent zum Jachthaven Snepdijk und dann die alte Leie talwärts nach Deinze. Veel plezir, viel Spaß!“

Gent, die im Mittelalter nach Paris zweitgrößte Metropole nördlich der Alpen, wird am Zusammenfluss von Schelde und Leie vom Wasser bestimmt. Kanäle, Wasserstraßen und Flussläufe – und deshalb mehr als 200 Brücken. Die ersten Kilometer tuckert unsere schwimmende Ferienwohnung an einer Schöner-Wohnen-Parade aus modernen Lofts und historischen Backsteinpalais entlang. Am Ufer Angler, flanierende Pärchen und mit viel Geld und Sachverstand zu cool gestylten Residenzen aufgepeppte Frachtkähne.

Mit dem Belfried, dem 91 Meter hohen, von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärten Glockenturm, setzt sich die Sint-Bavo-Kathedrale in Szene. Auf dem Weg zum Schiff haben wir einen Blick in die gotischen Prachtkirche geworfen und einen der großartigsten Kunstschätze des christlichen Abendlandes, den Genter Altar, bestaunen dürfen.

Nach etwa 20 Minuten verabschiedet sich die stolze Stadt; Wiesen, Fleckvieh, verwunschene Flussauen und luxuriöse Landhausvillen bestimmen nun das Bild. Schleife um Schleife windet sich die alte Leie schmal durch die beschauliche Natur. Das wohl augenfälligste Bauwerk am Weg ist das Kasteel Ooiddonk, ein wasserumspültes Zuckerbäckerschlösschen mit bauchigen Backsteintürmchen und Treppengiebelzierrat.

„Das kostet euch ein Bier“

Vor der Schleuse von Astene heißt es dann „Maschine stop“. Zwar sind die Schleusentore offen – wir könnten also einfach durchfahren –, doch leider, leider ist das Brückchen über dem Schleusenbecken für unsere „Countess“ zu niedrig. Also einmal kräftig aufs Schiffshorn gedrückt… Und schon öffnet sich die Tür des alten Schleusenwärterhäuschens. Ein Mann kommt auf uns zu, murmelt etwas, spuckt in die Hände und kurbelt die betagte Eisenbrücke hoch. „Das kostet euch ein Bier“, sagt er grinsend und deutet auf die Kneipenreklame am Haus. „Sorry, heute nicht. Wir müssen weiter.“ Kurs: Jacht Club in Deinze. Für 15 Euro gibt es einen komfortablen Liegeplatz mit Strom, gepflegten Sanitäranlagen und eine Großfamilie schnatternder Enten.

Schleuse marsch, bitte
Schleuse marsch, bitte

© Gerald Penzl

Der nächste Tag steht im Zeichen des Gent-Oostende-Kanals. Wir hatten mit starkem Berufsverkehr gerechnet – und werden angenehm enttäuscht. Der ach so verrufene Brückenschlag zur Nordsee zeigt sich von seiner beschaulichsten Seite, sprich: Es kommen uns nur wenige Frachtschiffe entgegen. In Steenbrugge ändert sich das Bild. Der historische Fleck mit seinem mittelalterlichen Kloster ist ein neuralgischer Straßenverkehrsknoten. Vor der Hebebrücke der N 50 wird die Geduld zur Mutter aller Tugenden; wir warten. Zehn Minuten, zwanzig Minuten, eine halbe Stunde. Irgendwann hat der Brückenwärter Erbarmen, die Straßenschranken senken sich, die Brücke geht hoch und gibt uns die Fahrt ins Zentrum von Brügge frei.

Es war wohl ein Wunder, als 1134 eine gewaltige Sturmflut durch das Wattenmeer fegte, der Stadt einen schiffbaren Zugang zur Nordsee bescherte und damit die Weichen für ihren kometenhaften Wirtschaftsaufstieg stellte. Rund 200 Jahre später zählte Brügge zu den reichsten Städten der damals bekannten Welt. Ende des 15. Jahrhunderts versandete ihr Zugang zur Nordsee jedoch, Brügge verlor an Bedeutung, verkam gar zum Armenhaus Flanderns. 1892 hüllte der Schriftsteller Georges Rodenbach die Stadt mit seinem Roman „Bruges-la-Morte“ in literarische Leichentücher. Damit läutete er – gewollt oder nicht – ihr Comeback ein. Heute präsentiert sich Brügge als bilderbuchschönes, gern besuchtes Weltkulturerbe.

In der Kutsche durch Brügge fahren - und genießen

„Braucht ihr einen Liegeplatz?“ Heftiges Nicken. „Okay“, sagt Jaques, „ich hab’ noch was frei.“ Sagt’s, stellt sich als Hafenmeister der Coupure Stadtmarina vor, kassiert zehn Euro und drückt uns eine Plastiktüte in die Hand. „Die ist für den Müll. Strom und Wasser gibt’s umsonst.“ Zehn Minuten später sitzen wir in einer offenen Pferdekutsche und nehmen Brügge von den bequemen Ledersitzen des Fiakers aus in Augenschein. Höhepunkt ist, wir geben es zu, weder die Grachtentour noch der Blick vom 83 Meter hohen Belfried, sondern die altehrwürdige Brauerei De Halve Maan (der halbe Mond). In der einzigen Familienbrauerei der Stadt zapft Braumeister Xavier Vanneste höchstpersönlich.

Wo Licht ist, ist auch Schatten. Das gilt auch für die Wartezeiten vor den Schleusen der Stadt. Wir folgen Jaques’ Rat, heften uns an das Heck eines Frachtschiffs und flutschen so in dessen Windschatten durch die Schleusen. Drei Stunden später gurgelt bereits der Plassendale– Nieuwpoort Kanal unter unserem Kiel. „Wo wollt ihr hin?“, fragt uns der Schleusenwärter der Sint-Joris-Schleuse, „nach Nieuwpoort oder Diksmuide?“ „Diksmuide.“ Er kratzt sich am Kopf. „Okay, es ist zwar schon spät.

Aber ich ruf meinen Kollegen an der Tervatebrücke an. Der soll warten und euch die Brücke öffnen.“ Bedankt! Wir schleusen durch den 124 Meter langen und 20 Meter breiten Schiffslift und sind ein paar Zündtakte später auf der Ijzer. Was für ein Unterschied zu dem Plassendale-Nieuwpoort-Kanal! Während das wie mit dem Lineal gezogene Wassersträßchen ziemlich unspektakulär an der N 358 entlangplätschert, wartet die Ijzer mit hübschen, wind- und wettergeföhnten Polderlandschaften auf.

Die letzte Perle der flämischen Renaissance

Doch auch in dieser beschaulichen Landschaft wütete der Erste Weltkrieg. Hunderttausende Soldaten fielen hier zwischen 1914 und 1918 in der Hölle der Stellungskriege.

Erfreulich wenig Bootsverkehr auf der Ijzer
Erfreulich wenig Bootsverkehr auf der Ijzer

© Gerald Penzl

Entsprechend schlägt das Kriegsmuseum im Ijzerturm gleich neben dem Stadthafen von Diksmuide schwer auf den Magen. Auf 22 Etagen regiert der Tod in Wort und Bild, heulen Granaten, schreien Verwundete. Auch im nahen Vladslo, wo allein 25 644 deutsche Soldaten begraben liegen, krampfen Herz und Verstand. „Trauerndes Elternpaar“ heißt die lebensgroße Figurengruppe von Käthe Kollwitz auf dem Friedhof, wo ihr Sohn Peter begraben wurde. Er hatte sich als 18-Jähriger zu Kriegsbeginn freiwillig gemeldet und war wenige Wochen später bei einem Angriff auf Diksmuide ums Leben gekommen. Die Obstwiesen und Weizenfelder entlang des friedlich dahingluckernden Lokanals helfen, die düstere Stimmung zu verdrängen.

Die letzte Perle der flämischen Renaissance auf unsere Tour trägt den Namen Veurne. Am späten Nachmittag machen wir in der kleinen Marina des 12 000-Einwohnerstädtchens fest, schauen uns die Giebelhäuser am Grote Markt an – für den französischen Schriftsteller Victor Hugo übrigens „einer der schönsten Plätze auf Erden“ – und lassen die Sonne bei einer XXL-Portion goldgelber belgischer Fritten und schokoladenbraunem Trappistenbier in der nahe gelegenen Nordsee versinken.

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