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© dpa-Zentralbild

Alte Tradition: Büfetts auf Weltniveau

Zu DDR-Zeiten galt Oberhof als „sozialistisches St. Moritz“. Nun will der thüringische Ort seine Traditionen wiederbeleben.

Die letzte Begegnung mit Oberhof endete im Desaster. Den ganzen Tag lang war der Reporter über den Rennsteigkamm gestapft, manchmal bis an die Hüften in den Schnee gesunken, der zu tauen begonnen hatte. In Schweiß und Matsch gebadet nahm ich Quartier im ehemaligen FDGB-Hotel „Rennsteig“, einem Hochhausklotz. Die klatschnassen Schuhe stellte ich, andere Möglichkeiten gab’s nicht, unter einen grauen Heizkörper im Hotelflur. Am nächsten Morgen waren die Schuhe weg; die Rennsteigwanderung hatte ein jähes Ende gefunden.

Das war vor 16 Jahren. Seither hat sich eine Menge getan im thüringischen Oberhof. Erstens verschwinden keine nassen Wanderschuhe mehr über Nacht – schon deswegen nicht, weil das FDGB-Hotel „Rennsteig“ längst abgerissen ist. Und zweitens, weil hier jetzt das ganze Jahr gilt: „Winter. Wann immer Du willst.“

Um diesem Motto gerecht zu werden, wurde im September eine überdachte Skilanglaufanlage eröffnet. Aus der Vogelperspektive erinnert der 14,4-Millionen-Euro-Flachbau an eine gigantische Rohrzange, im Inneren verbreitet er den Charme einer Tiefkühltruhe. Für einen Euro Eintritt ist der Langlaufbetrieb vom Balkon über dem Eingang zu beobachten; an diesem Oktoberdienstag bemüht sich ein Dutzend Besucher in und zwischen den Loipen.

Wer an Langlauf mit pulvrig verschneiten Wegen denkt, die sich durch lichtdurchflutete Forste winden, assoziiert hier grundfalsch. Das Oberhofer Gebäude ist alles in allem 400 Meter lang und 150 Meter breit, und innerhalb dieses umbauten und beschneiten Raums findet der Skilanglaufbetrieb statt. Den Schnee liefern Beschneiungsgeräte in einer zugleich körnigen und leicht pappigen Konsistenz, den jene Profis für gut befunden haben, für die der Parcours zunächst gedacht war.

Es ist, als glitte man durch ein Kühlhaus ohne Schweinehälften. Etwa 700 000 Euro verschlingt die Halle jährlich an Betriebskosten; zur Hälfte, heißt es, müssen Spontanbesucher und Breitensportler das Geld aufbringen, rechnerisch mindestens 70 Besucher am Tag, einen schneearmen Draußenwinter vorausgesetzt. Den Rest teilen sich Kreis, Stadt und Land Thüringen, das mit Oberhof noch eine Menge vorhat. Als einziges Gemeinwesen landete das Städtchen im schwarz-roten Koalitionsvertrag: „Die Koalitionspartner sind sich einig“, heißt es dort, „die Stadt Oberhof als sportliches und touristisches Zentrum im Thüringer Wald insbesondere durch den Ausbau der touristischen Infrastruktur weiterzuentwickeln.“

Bevor es aber ans Weiterentwickeln geht, plagen sich Obrigkeit und Bürger mit einer Investitionsruine, die sich niemand so zu nennen traut. Inmitten der Stadt steht die Zukunft einer überdachten Badeanstalt namens Rennsteig-Thermen in den Sternen; das Freizeitbad, erst 1996 in Betrieb genommen, erwies sich rasch als energiefressende Spaßbremse zum Platschen und Planschen. Jetzt steht das Werk in der Landschaft herum; manchmal versammeln sich erboste Bürger davor, um mal Abriss und Neuaufbau, mal die sofortige Wiedereröffnung zu fordern.

Ende November, Anfang Dezember geht es für die 1600-Einwohner-Stadt Oberhof in die touristische und (zuschauer)sportliche Wintersaison, und sie hofft, endlich wieder einen Mythos und einen Ruf einzuholen, der ihm zu unterschiedlichen Zeiten vorauseilte, zum Beispiel unter Carl Eduard.

Der letzte thüringische Landesfürst, Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha, war ein repräsentationslüsterner Wintersportfan, was in Oberhof zu hübscher und aufwendiger Bebauung führte und dazu, dass um die Wende zum 20. Jahrhundert kaufkräftiger und Luxus gewöhnter Hochadel im hundserbärmlich armen Waldarbeiterfleck Oberhof Einzug hielt. Heute ist der bauliche Glanz jener herzoglichen Epoche noch gut neben dem Rathaus zu besichtigen, wo die „Robert-Koch-Apotheke“ mit thüringischem Schiefer und fränkischem Fachwerk zu bestaunen ist. Einige Schieferplatten haben Moos angesetzt, das wie Patina aus mondänen Zeiten wirkt.

Damals trug der Wintersportort das Etikett „Deutschlands St. Moritz“, an dem eher noch poliert wurde, als in den 1920er Jahren der Hochadel von der Halbwelt abgelöst wurde. Bob- und Schlittenbahnen, Eishockey, Langlauf, Skisprung – den Gästen stand eine komplette Winterbelustigung zur Verfügung, deren Überbleibsel heute während einer „historischen Sportstättenwanderung“ zu sehen sind. „Zum Fünf-Uhr-Tee kam man im sportlichen Dress, am Abend jedoch in großer Garderobe“, schreibt ein Oberhofer Chronist. Die Nazi-Elite nutzte in den letzten Tagen Region und Stadt Oberhof als Zuflucht vor den Alliierten – im mondänen Golfhotel wurden zuletzt Leitungsstäbe der Reichskanzlei einquartiert.

Weil auch Walter Ulbricht an Oberhof einen Narren gefressen hatte und weil die wintersportliche Elite der DDR von der vorhandenen Infrastruktur profitierte, fand der Ort zum Etikett „St. Moritz der DDR“, aber erst, nachdem in einer Aktion „Oberhof“ die ortsansässigen Gastronomen und Hoteliers kurzerhand enteignet wurden. „Spekulanten-Nest Oberhof ausgeräuchert“, jubelte damals das „Neue Deutschland“. Teils monströse, teils ansehnliche Hotelkomplexe wurden hochgezogen, um eine Million Übernachtungen pro Jahr möglich zu machen. Die meisten Urlauber kamen über den FDGB-Feriendienst nach Oberhof, um zu wandern oder Ski zu laufen oder im gefeierten „Kurort der Werktätigen“ einfach mal saubere Luft zu atmen.

Besonders begehrt waren Zimmer im Interhotel Panorama, das heute noch so ähnlich heißt und in seiner eigenwilligen Bauweise paarungsbereiten Sprungschanzen ähnelt. Nicht nur die Architektur „auf Weltniveau“ war zu DDR-Zeiten die Attraktion, sondern wie man dort logierte. Die Zimmer (nicht nur) im Panorama hatten Bad oder Dusche, sogar Telefon. Von den reichhaltigen Büfetts, teils mit exotischen Häppchen angereichert, schwärmen Zeitzeugen noch heute. Es gab piekfeine Restaurants, urige Bauden für den Après-Skizauber und jede Menge Kneipen, in denen sogar Radeberger, Wernesgrüner und Pilsner-Urquell-Bier ausgeschenkt wurde. Wenigstens für ein paar Tage sollte für den DDR-Urlauber das Märchen vom „sozialistischen St. Moritz“ Wirklichkeit werden. Und das zu günstigen Preisen: 1975 zahlte beispielsweise eine Familie pro Erwachsenen für 14 Tage je rund 120 Mark, pro Kind 29 Mark, Vollverpflegung inklusive.

Winterurlaube waren nicht nur wegen der Sportstätten und der zahlreichen Loipen durch den Thüringer Wald beliebt, sondern weil man hier Tuchfühlung mit den Heroen des DDR-Leistungssports haben durfte, die in jenen Jahren die Medaillen auf Kufen und Langlaufbrettern zuhauf errangen – was heute im Oberhofer Wintersportmuseum stolz nachgefeiert wird. Das Museum in der Crawinkler Straße ist eine wahre Medaillen- und Plakettenablagestelle zur Erinnerung an vergangene Triumphe. Versteckt fallen hingegen die Verweise auf Stasi-Verstrickungen und Dopingmissbrauch aus.

Nach der friedlichen Revolution ging’s mit dem organisierten Tourismus zunächst bergab; seit einigen Jahren mausert sich Oberhof etwas. Was früher als militärisch dominierte Randsportart belächelt wurde – Biathlon –, ist heute zum Publikumsmagneten geworden, der Hunderttausende zu Veranstaltungen nach Oberhof lockt.

In diesen Tagen vor der Saison macht sich Oberhof winterfein und -fest; bevor es so weit ist, müssen Gäste aber mit eingeschränkter Leistungsbereitschaft und gewissen Enttäuschungen rechnen. Wem beispielsweise nach einer richtig guten thüringischen Bratwurst vom Holzkohlerost ist, der muss im Herzen der Stadt mit einem Exemplar aus dem Wärmebehälter rechnen. Wer tagsüber durch den Ort spaziert, wird gern beschallt. Von der Rennschlitten- und Bobbahn im Nordosten hallt regelmäßig ein Lautsprecherklang nebst Ansage herüber, der an Durchsagen in Billigkaufhäusern erinnert. Und durch die Theo-Neubauer-Straße klingen volkstümliche Liedkonserven wie aus einer Endlosschleife des Mitteldeutschen Rundfunks.

Allemal wiegt die Spätherbstlandschaft des nahen Thüringer Waldes solche touristischen Unebenheiten auf. Zahlreiche Wanderwege, exzellent ausgeschildert, führen auf den Rennsteig zu, der südlich an Oberhof vorbeiführt. Eine nicht so bekannte Alternative zum Rennsteig könnte der Wanderweg Rhön–Oberhof sein, der von der hessischen Wasserkuppe bis zum thüringischen „St. Moritz“ führt. Als wunderbare Zehn-Kilometer-Etappe, wo sich frühmorgens die Sonne wie durch ein Kaleidoskop durch die Fichten bricht, bietet sich das Teilstück von Oberhof nach Zella-Mehlis an.

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