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Stilvoll. 90 Meter lang ist die Wandelhalle des Kurbades und damit die größte Europas.

© Karl-Josef Hildenbrand/p-a/dpa

Bad Kissingen: Erst ein Tänzchen, dann die Torte

In Bad Kissingen kuren die Wohlhabenden der Generation 60 plus. Nun wirbt man um jüngeres Publikum, mit Salsa und Partys.

Wer zum ersten Mal nach Bad Kissingen kommt, hat so seine Vorurteile im Kopf. Irgendjemand meinte gar, für junge Leute sei der bekannteste Kurort Deutschlands so etwas wie der Vorhof zur Hölle. Der erste Eindruck auf dem Weg vom Bahnhof zum Hotel scheint das zu bestätigen. Der Ort ist eine Mischung aus repräsentativen Bauten und schmucklosen Bausünden, mondän und profan zugleich. Hier wirbt ein „Sanatorium“ um Kundschaft, dort ein „Solarium“. Kaum eine Menschenseele ist unterwegs.

Keine zehn Fußminuten später: Siehe da, das Staatsbad lebt. Am Ufer der Fränkischen Saale herrscht reges Treiben an diesem sonnigen Tag. Flanieren, so hat es den Anschein, gehört zum Tagwerk des Gastes von Bad Kissingen. Überall, wo auch nur ein paar Sonnenstrahlen hinfallen, gibt es sogar draußen Kaffee und Kuchen. Zum Beispiel unter den Palmen beim Arkadenbau im Kurgarten. Hier ist Bad Kissingen mehr Rom als südlicher Ausläufer der Rhön.

Wer unbedingt seine Vorurteile bestätigt sehen möchte, begebe sich zum Tanztee im Kurgarten-Café. An diesem Tag zuständig für das musikalische Programm: „Kay’s One Man Band“. Hier trifft sich ein gut situiertes Publikum, die Herren mit goldenen Manschettenknöpfen, akkuratem Einstecktuch und geradem Rücken. Einige Damen sind, man sieht’s, geliftet.

60 plus - das ist noch immer das Publikum

Punkt 15 Uhr bittet Kay Lehnert zum Tanz: „Rote Lippen soll man küssen“. Drei Stücke nur, dann ist Pause. Dann wieder drei Stücke. „Hier muss ich das so machen“, sagt Lehnert. Damit die Tänzer zwischendurch zur Ruhe kommen und – nicht zuletzt – auch mal was verzehren. Die legendäre Rakoczy-Torte zum Beispiel, eine feine Backware aus Nougat und Pistaziensahne, umhüllt von Marzipan.

„60 plus, das ist noch immer das Publikum“, sagt Lehnert. Es sind viele Stammgäste da, aus Fulda, aus Würzburg, ergänzt Geschäftsführer Jochen Wehner. Und Zugezogene, mit Zweitwohnung. „Kurlaub“ im klassischen Sinn gibt es in der Form allerdings nicht mehr. Morgens Fango, abends Tango, das war einmal.

Nur gut hundert Meter Luftlinie entfernt, in der Wandelhalle, spielt fast zeitgleich das Kurorchester auf, vor überwiegend älterem Publikum. Das Kurorchester von Bad Kissingen ist nicht irgendein Kurorchester, sondern mit 13 Musikern das größte deutsche in Festanstellung. Und ganz nebenbei noch Weltrekordhalter: 727 Auftritte wurden in einem Jahr gezählt, das reicht für einen Eintrag ins „Guinness-Buch der Rekorde“. Dort ist es nun als „meistspielendes Ensemble der Welt“ verzeichnet.

Würden die Musiker ihr gesamtes Repertoire am Stück präsentieren, kämen sie drei Wochen lang nicht mehr runter von der Bühne. Übrigens: Seit 2010 wird das Orchester von einer Frau geleitet, zum ersten Mal in der 175-jährigen Geschichte. Soll also keiner sagen, es täte sich nichts in Bad Kissingen.

Russen sind mit Trinkkuren gut vertraut

Am nächsten Morgen um sieben Uhr: Nicole Rössner steht in der Wandelhalle hinter glänzenden Armaturen aus Phosphorbronze, die jeden Tag poliert werden müssen, damit sie nicht oxidieren. Rössner ist eine der sogenannten Brunnenfrauen, die zwei Mal am Tag Heilwasser ausschenken. Der erste Gast heute, eine Russin, reicht ihr ein Glas und dazu ein Rezept. Die Zahl der Russen, die sich hier ein alkoholfreies Wässerchen gönnen, hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen.

Trinkkuren sind schließlich vielen Russen vertraut. In Bad Kissingen sprudelt das Nass aus sieben unterirdischen Quellen, drei Bade- und vier Trinkquellen. Wer seinen Körper „entgiften“ will, dem empfiehlt Rössner lauwarmes Wasser aus der Rakoczy-Quelle. Das mildeste Wasser stammt aus der Luitpold-Quelle. Es hat wenig Salz, dafür mehr Eisen. Zu viel Heilwasser zu kalt genossen, das führt zu Durchfall, warnt Rössner.

„Alle unsere Quellen sind homöopathische Heilmittel“, sagt Gerhard Wulz. Der pensionierte Berufsschullehrer ist Gästeführer und trotz seines profunden Wissens in der Lage, die wesentlichen Dinge pointiert zu vermitteln. Und zu den wesentlichen Dingen zählen für Wulz die Wandelhalle und der Regentenbau. Beide wurden von dem Münchener Architekten Max Littmann im Auftrag des bayrischen Prinzregenten Luitpold errichtet, „unter Einhaltung der Zeiten und Kosten“, wie Wulz ausdrücklich betont und Berliner Besucher eindringlich anschaut. „Der hat bis hin zur Türklinke alles geplant.“

„Bismarck war zu dick und musste abspecken“

Wasser marsch. Die Trinkkur verhilft zum Wohlbefinden.
Wasser marsch. Die Trinkkur verhilft zum Wohlbefinden.

© Sascha Rettig/dpa

Nach nur 33 Monaten Bauzeit konnten sie im Mai 1913, also vor gut hundert Jahren, Einweihung feiern. Auch Kurgäste mit großen Vorbehalten gegen monarchische Prunkbauten sollten wenigstens einen kurzen Blick in den Grünen Saal des Regentenbaus mit seinem Jugendstilambiente werfen. Oder in den Konzertsaal mit edler Verkleidung aus Kirschholz und Ebenholzeinlagen. Oder in den Schmuckhof, erbaut nach dem Vorbild römischer Säle.

All diese Zeugnisse deutscher Bäderarchitektur konnten die wohl berühmtesten Gäste von Bad Kissingen noch gar nicht kennenlernen. Denn bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts gaben sich hier Kaiser, Zaren und Könige die Klinke in die Hand. Allein die Gästeliste des Jahres 1864 liest sich wie das „Who’s who“ des europäischen Hochadels. Vor allem Kaiserin Elisabeth von Österreich, kurz Sisi, und Reichskanzler Otto von Bismarck begegnen einem heute noch auf Schritt und Tritt.

„Bismarck war zu dick und musste abspecken“, sagt Gästeführer Wulz. Offenbar ohne großen Erfolg, denn der Reichskanzler weilte insgesamt vierzehnmal in Bad Kissingen. Wer sich allerdings schon zum Frühstück kalte Rebhühner auftischen lässt, darf sich auch nicht wundern. Und Sisi? „Die wollte ihre – heute würde man sagen – psychosomatischen Krankheiten auskurieren.“ Womöglich war die Kaiserin magersüchtig, jedenfalls stellte sie sich dreimal am Tag auf die Waage und wanderte oft auf den 284 Meter hohen Altenberg.

Wer heute auf ihren Spuren wandelt, kommt vorbei an einer Klinik für Burn-out-Patienten, die meist ausgebucht ist. Es sind unter anderem Manager und auch Lehrer, die hier neue Kraft schöpfen.

Die älteren Gäste sollen nicht vergrätzt werden

„Das Thema Gesundheit, Kur und Reha war in der Vergangenheit ein Selbstläufer“, erinnert sich Kurdirektor Frank Oette. „Heute müssen wir das Thema Gesundheit schon anreichern.“ Weltweit erstmalig wird zum Beispiel in Bad Kissingen die Chronobiologie auf kommunaler Ebene wissenschaftlich begleitet. Erste Hotels nehmen bereits Rücksicht auf die innere Uhr ihrer Gäste. Für Frühaufsteher ein Zimmer, das nach Osten liegt? Für Langschläfer verlängerte Frühstückszeiten und einen sogenannten Late Check-out? All das ist im Gespräch. Die „Feldforschung“ beginnt gerade erst, das Projekt, das von Wissenschaftlern der Universität Groningen und der Ludwig-Maximilians-Universität München begleitet wird, steht noch am Anfang.

Bad Kissingen sei im „Umbruch“, sagt Kurdirektor Oette. Das brauche seine Zeit. Denn die älteren Gäste sollen ja nicht vergrätzt werden. „Wir dürfen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten“, meint auch Oberbürgermeister Kay Blankenburg und nennt als Beispiel das Spielcasino: „Früher plüschig, heute loungig und cool.“ Ihm habe das gefallen, der Mehrzahl der Besucher hingegen nicht.

Bad Kissingen lebt von der Vergangenheit für die Zukunft. Wenn alles so läuft, wie der Oberbürgermeister sich das wünscht, dann wird das Staatsbad sogar Unesco-Weltkulturerbe, gemeinsam mit zwölf weiteren großen europäischen Bädern. Auf die Vorschlagsliste Deutschlands hat es Bad Kissingen bereits geschafft. Nur lassen solche Entscheidungen eben meist doch ein paar Jahre auf sich warten.

Den Tanztee wird es auch weiterhin geben. Geschäftsführer Wehner wirbt jetzt sogar bei Facebook. Sein Angebot für Jüngere: der Salsa-Schnupperkurs mit anschließender Party.

Wolfgang Stelljes

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