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"Nach Hause" heißt das Aquarell des Malers Fidus von 1908.

© Archiv der deutschen Jugendbewegung, Witzenhausen

Brandenburg: Nackte Anarchie

Auf den Spuren der „Lebensreform“-Bewegung. Die Ausstellung über Visionäre eines einfachen Lebens auf dem Lande ist noch bis 22. November in Potsdam zu sehen.

Die Sehnsucht der Städter nach einem naturnahen Leben ist (mal wieder) riesengroß. Und voll im Trend. Aber wie neu ist der Traum vom gesunden Landleben eigentlich?

Im Grunde genommen ist er uralt. Das zeigt die Ausstellung „Einfach. Natürlich. Leben. Lebensreform in Brandenburg 1890–1939“, die derzeit im Potsdam zu sehen ist. Sie stellt Orte und Personen vor, die im Zusammenhang mit der Lebensreformbewegung in Brandenburg eine zentrale Rolle gespielt haben. Skurrile Persönlichkeiten wie Gustav Nagel, den „Wanderprediger und Tempelwächter vom Arendsee“, der sich von Rohkost ernährte, barfuß lief und die Abkehr vom bürgerlichen Leben predigte.

Oder Karl Vanselow, der 1903 die Zeitschrift „Die Schönheit“ begründete und darin neben Artikeln über Körperpflege, Tanz oder Kleidung auch zahlreiche Freilichtakte aus seinem „Garten der Schönheit“ in Werder publizierte. „Wenn wir nicht schön genug sind, um nackt zu sein – gut, so wollen wir nackt sein, um wieder schön zu werden“, lautete seine Devise. Nach der lebten auch die Mitglieder der Freikörperkulturvereine, die sich um 1920 am Motzener See ansiedelten – noch heute gibt es an der „nassen Wiege der deutschen Freikörperkultur“ die eine oder andere FKK-Badestelle.

In Steglitz wurde Wandervogelbewegung gegründet

Bezeichnenderweise waren es vor allem Akademiker, Künstler und Intellektuelle, die es von 1880 an aufs Land hinauszog, um Brandenburg in ein Labor für alternative Lebensformen zu verwandeln. Neben der 1901 in Steglitz gegründeten Wandervogelbewegung, deren Mitglieder ins Nuthetal ausschwärmten, entstanden in allen Himmelsrichtungen Landkommunen, Genossenschafts- und Künstlersiedlungen, Nacktkolonien und Gartenstädte.

Während der Zimmermeister Georg Heyer am Ruppiner See sein Konzept der genossenschaftlich organisierten Kunsthandwerkerstadt Gildenhall verwirklichte, erbaute der Geistheiler Joseph Weißenberg in den Glauer Bergen die christlich geprägte Friedensstadt.

Gustav Nagel auf einer Postkarte 1901
Gustav Nagel auf einer Postkarte 1901

© Copyright: Christine Meyer, Arendsee

Am Müggelsee fand sich der Friedrichshagener Dichterkreis zu einer teils sozialdemokratisch, teils anarchistisch geprägten Gemeinschaft zusammen, in der Ostprignitz entstand die völkische Siedlung Heimland nach Ideen von Theodor Fritsch, der dazu aufrief, in ländlichen Reformgemeinden körperlich und moralisch gesunde Menschen zur rassenbiologischen Erneuerung heranzuziehen.

"Berlin war der geistige Durchlauferhitzer"

So bunt schillernd die Palette an Akteuren und Konzepten ist – alle wollten sich jenseits der Großstadt verwirklichen.

„Wobei Berlin der geistige Durchlauferhitzer war“, erklärt Kuratorin Christiane Bartz. „Von hier kamen nicht nur die Ideen. In der rasant wachsenden Industriemetropole mit Europas größter Ansammlung an Mietskasernen war auch das Bedürfnis nach Licht, Luft, Natur und Freiheit besonders groß.“ All das wird in der Ausstellung anschaulich aufbereitet. Doch wüsste man gern, wie es in der Praxis aussah. Was ist aus den Reformsiedlungen geworden? Gibt es davon noch etwas zu sehen? Es lohnt, sich auf Spurensuche zu begeben.

Die Friedensstadt im Fläming existiert heute noch

Der Hof Marienhöhe auf einer Kreidezeichnung von Alfred Dondé aus den 1920er Jahren.
Der Hof Marienhöhe auf einer Kreidezeichnung von Alfred Dondé aus den 1920er Jahren.

© privat

Von der Handwerkergenossenschaft bei Neuruppin ist nicht viel geblieben. Auch die anarchistische Boheme-Siedlung im Roten Luch bei Rehfelde ist verschwunden. Doch die Friedensstadt im Fläming wird noch heute von den Mitgliedern der Johannischen Kirche, einer offenen christlichen Gemeinschaft, weitergeführt.

So unscheinbar die Straßenzüge im Naturpark Nuthe-Nieplitz auf den ersten Blick wirken – mithilfe eines Besucher-Leitsystems erschließen sich die Zusammenhänge von Gebäuden und den Ideen Josephs Weißenbergs. Auch der Gutshof Sauen, wo der prominente Berliner Mediziner und Waldpionier August Bier einen vorbildlichen Mischwald anlegte, steht noch. Seit der Hof von Berliner Hochschulen als Begegnungsstätte genutzt wird, weiht ein elektronischer Wanderführer Interessierte in die Geschichte des Orts ein.

Außerdem hat sich mit dem Hof Marienhöhe bei Bad Saarow Deutschlands erster Demeter-Betrieb erhalten. Gut versteckt zwischen Wald und Wiesen lädt er an jedem letzten Sonnabend im Monat zu Hofführungen ein. Mal liegt der Akzent auf Ackerbau und Garten, mal auf Milchvieh, Bäckerei oder heilenden Bäumen. Wer will, kann sich anschließend im Hofladen mit Bioquark, Ökobrot und Zitronenverbene eindecken. Auch in Karl Foersters denkmalgeschütztem Reformgarten bei Potsdam-Bornim lässt sich wunderbar das ganze Jahr hindurch zwischen Frühlingsweg, Herbstbeet, Stein- und Senkgarten wandeln.

"Plaue steht zu Unrecht im Schatten der Bundesgartenschau"

Besonders interessante Zeugen der Reformbewegung sind die Gartenstädte, die sich rund um Berlin erhalten haben. Vor allem die von Plaue, die in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen feiert. „Ganz zu Unrecht steht sie im Schatten der Bundesgartenschau“, meint Architektin Celina Kress. Zusammen mit zwei Kulturwissenschaftlerinnen macht sie durch eine Open-Air-Ausstellung auf das innovative Siedlungsmodell aufmerksam.

Zurück zur Natur: Gemeinsame Nackheit unter freiem Himmel gehörte dazu. Das Bild entstand um 1926 am Motzener See.
Zurück zur Natur: Gemeinsame Nackheit unter freiem Himmel gehörte dazu. Das Bild entstand um 1926 am Motzener See.

© Gerhard Riebicke / courtesy Bodo Niemann, Berlin / picture perfect GbR

Wer um das noch immer nicht restaurierte Barockschloss von Plaue herumgeht, erfährt nicht nur, dass die Gartenstadt 1915 von Paul Schmitthenner für die Arbeiter der Pulverfabrik von Kirchmöser entworfen wurde, sondern auch, wo sie liegt: Zum Ärger der Anwohner wird sie durch die B 1 vom Rest Plaues abgeschnitten. Umso überraschender ist die Idylle aus pastellfarbenen Häusern samt Fledermausgauebn und von Linden gesäumten Straßen, die einen dort erwartet. Mittendrin steht das Lädchen der kommunikativen „Kräuterhexe“ Doreen Landeck. Viel verdienen tut sie nicht. „Jedes Brötchen zählt“, sagt sie lachend, „aber ich liebe es, hier zu leben.“

Eine Institution ist auch die „Bräuhaus Kneipe Pur“ von gegenüber. Nicht allein, dass hier verschiedene Sorten Plauer Stadtquellbier serviert werden und immer wieder Bands die Stimmung anheizen. Selten hat man eine sympatischere Küche gesehen als die der resoluten Karola Dröske, bei der man in den Kochtopf schauen muss, ehe man seine Bestellung aufgibt. Was hatte Bernhard Kampfmeyer 1906 doch geschrieben? „Die Gartenstadt nimmt dem Lande, was es an Eintönigkeit und Einsamkeit zu viel hat.“ Wohl wahr.

Die günstigen Grundstücke der Genossenschaft sind heute stark nachgefragt

Auch die Eden Gemeinnützige Obstbau-Siedlung eG in Oranienburg ist nach wie vor eine kleine, grüne Oase. Hier leben etwa 1500 Menschen auf gut 500 Gartengrundstücken. Rund um die Sandwege gruppieren sich eine preisgekrönte Kindertagesstätte, eine Schule, ein Heilpraktiker, der Salon Kriegel und eine Beauty World. „Unter Gleichgesinnten wohnen, den eigenen Bedarf an Obst und Gemüse in bester Qualität selbst anbauen, die Kinder recht gesund und frei aufziehen können“ – mit diesen Zielen hatten sich Großstadtmüde um den Kaufmann Bruno Wilhelmi geschart und 1893 eine genossenschaftlich organisierte Siedlung gegründet.

Zwar erwiesen sich die Böden als eher schlecht, die Parzellen als zu klein für die gewerbliche Nutzung – doch dann wurde hier erfolgreich Obst angebaut, Most, Eden-Sauerkraut, Pflanzenbutter und anderes für das neu geschaffene Reformhaus produziert. „Die Säuglingssterblichkeit betrug schon um 1900 in Eden nur 3,8 Prozent, draußen waren es bis zu 18 Prozent“, berichtet Rainer Gödde.

In Eden geboren und nach der Wende dorthin zurückgekehrt, betreut der Ruheständler mit großer Leidenschaft die Ausstellung in der ehemaligen Mosterei, die anhand von Fotos, Gemälden und dem Edener Kochtopf für schonendes Garen die Geschichte des Experiments aufrollt. „Früher machte man sich in Oranienburg über den freien Marmeladen-Staat lustig. Aber heute möchte man sich mit ihm schmücken“, meint der überzeugte Edener.

Die günstigen Grundstücke der Genossenschaft seien stark nachgefragt. Gewiss, reine Selbstversorger gibt es hier nicht mehr. Und vegetarisch sind auch nur die wenigsten. Oder sollte es Zufall sein, dass dort, wo einst preisgekrönter Fleischersatz entwickelt wurde, die Spezialität des einzigen Restaurants ausgerechnet aus Steaks besteht?

Die Ausstellung "Einfach. Natürlich. Leben – Lebensreform in Brandenburg von 1880–1939" im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte am Neuen Markt in Potsdam ist bis zum 22. November zu sehen und wird von einem anspruchsvollen Vortrags- und Filmprogramm begleitet. Eintritt: sieben Euro, Sonderführungen für Schulklassen. Informationen unter Telefon: 03 31 / 620 85 50, Internet:

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