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Auftakt nach Maß. Gleich zu Beginn der Tour finden sich nahe Elster-Quelle auf tschechischem Gebiet lauschige Plätzchen für eine kurze Rast.

© Gerhard Fitzthum

Elster-Radweg: Im Tal des neunzehnten Jahrhunderts

Von Bad Brambach bis Halle: Der Elster-Radweg führt durch Märchenwälder, wilde Naturlandschaften und idyllische Dörfer.

Im kleinsten Gang geht es den Waldweg hinauf, der Puls hat sich auf hohem Niveau eingependelt, der Kopf ist angenehm leer. Das Vogtland zählt noch zu den weißen Flecken auf der Landkarte des Reiseradlers. Da nimmt es nicht Wunder, dass am Bahnhof von Bad Brambach nur ein Einziger sein beladenes Rad aus dem Zug hievt und auf der Terrasse der Eisdiele niemand in buntem Radleroutfit sitzt. Dass das in Sachen Einsamkeit nur ein kleines Vorspiel ist, wird also schnell klar. Hier oben, im Schönberger Forst, ist es wahrscheinlicher, auf ein Rudel Wölfe zu treffen als auf eine Touristengruppe. Ein paar zirpende Grillen, ein paar zwitschernde Vögel, ansonsten atemberaubende Stille.

Zwischen zwei Pedaldrehungen ist der Radler dann plötzlich in Tschechien und wenig später am eigentlichen Ausgangspunkt der Tour – der Elsterquelle. Die opulente Quellfassung stammt von 1889, also noch aus k. u. k. Zeiten. Auf Tschechisch heißt das Bächlein Bily Halstrov. Das Eigenschaftswort „Bily“ macht deutlich, dass es sich hier um die „Weiße“ Elster handelt, die längere der beiden sächsischen Flussgeschwister.

Bei der Abfahrt ins Tal beseelt den Radler das Gefühl, ins 19. Jahrhundert zurückzurollen. Der Märchenwald ist in eine pastorale Kulturlandschaft übergegangen, wie man sie hierzulande kaum noch findet. Wiesen und Weiden so weit das Auge reicht, am Horizont scheint ein Kirchturm im Gegenlicht zu schweben, die moderne Zivilisation Lichtjahre entfernt.

In einem anderen Sternensystem fühlt sich der Reisende auch in Bezug auf das Preisniveau: In der böhmischen Provinz einzukehren heißt, nicht nur gut, sondern auch sensationell preiswert zu essen. Für eine deftige Portion Gulasch mit Hefeknödeln zahle ich nicht einmal vier Euro und bekomme den Palatschinken dazu fast geschenkt. Das köstliche tschechische Bier gibt es ebenfalls einfach zu günstig, als dass sich selbst ein Radler in völliger Entsagung üben könnte.

Wo Natur war, soll Gartenbaukunst werden

Das Landschaftsbild hat eine nicht minder berauschende Wirkung: Klein-Bily mäandert durch ein wild verwachsenes Tal, in dem es lediglich staubige Naturstraßen gibt. Das Verkehrsaufkommen ist minimal, die Menschen sitzen vor ihren Datschen und genießen den sonnigen Sonntag. Es sind einfache Ferienhäuser, oftmals aus Holz, aber auch aus unverputztem Bruchstein – Symbole des einfachen Lebens.

Den Gegenentwurf bietet Bad Elster, der erste Ort am Fluss auf deutschem Boden. Hier reihen sich Belle-Epoque-Villen aneinander, die als Privatdomizile, Hotels oder Pensionen genutzt werden. Die breite Flussaue ist schon vor 150 Jahren in einen Landschaftsgarten verwandelt worden – nach der Devise, wo Natur war, soll (Gartenbau-)Kunst werden. Damals kurten hier Mitglieder des Sächsischen Königshauses – und hinterließen beeindruckende Baudenkmäler: das Albertbad aus dem Jugendstil, das alte König-Albert-Theater und zwei prachtvolle Tempel, in denen Heilwasser sprudelt.

Wie es aussieht, ruht das renommierteste sächsische Staatsbad noch in seiner jahrhundertealten Tradition. Moderne Aktivurlauber liegen jedenfalls unter der Nachweisgrenze, das Fahrrad scheint noch gar nicht erfunden. Die meist aus Thüringen und Sachsen stammenden Gäste flanieren gemächlich durch den Kurpark, um schließlich bei Kaffee und Kuchen einzukehren. Nur wenige folgen den rustikalen Wanderwegtäfelchen in die weitere Umgebung – hinauf zu schönen Aussichtspunkten auf den waldigen Höhen. Der typische Kurgast pflegt allem Anschein nach ohnehin nicht sehr mobil zu sein. Die Sanatorien sind auf Rehabilitation bei Unfall- und Gelenkschäden spezialisiert, Menschen an Gehstöcken und Krücken gehören zum Ortsbild wie in anderen Mittelgebirgsorten die grell kostümierten Mountainbiker.

Herrlich verspielte Renaissance in Plauen

Zwischen Bad Elster und Oelsnitz wird der Radweg eben erst ausgebaut. Das ist auch nötig, denn allzu oft hat der Radwanderer nur die Wahl, sich fern des Flusses über die Berge führen zu lassen oder auf der Bundesstraße zu bleiben – wobei weder das eine noch das andere vergnüglich ist. Insgesamt sind in den zurückliegenden Jahren etliche Millionen Euro verbaut worden, finanziert von klammen Gemeinden, der Landesregierung in Dresden und der EU. Ob das Geld sinnvoll eingesetzt wurde, ist nicht ganz klar. Denn während am Oberlauf jetzt regelrechte Fahrradautobahnen in die Talauen gefräst werden, bleibt es andernorts bei schmalen, holprigen Pfaden. Maßvollere, dafür aber flächendeckende Verbesserungen wären hier angemessener gewesen.

Das erste urbane Zentrum ist Plauen – eine durch Textilindustrie und Maschinenbau reich gewordene einstige Großstadt, in der vor dem Ersten Weltkrieg noch 120000Menschen lebten. Die Hälfte der Einwohner ist seither abgewandert, auch die Stadtarchitektur kam nicht ungeschoren davon – bei insgesamt 14Bombenangriffen wurden in den Jahren 1944 und 1945 dreiviertel aller Häusern zerstört oder wenigstens beschädigt. Trotzdem sind atmosphärische Altstadtquartiere erhalten geblieben, allen voran der Altmarkt mit seinen beiden Rathäusern – dem herrlich verspielten Renaissancebau und seinem zwischen 1912 und 1923 errichteten Nachfolger, der mit seinem 64 Meter hohen Turm wahrlich Maßstäbe setzt.

Nach Plauen taucht der Radler immer wieder in intakte Naturlandschaften ein, die man im Deutschland des 21. Jahrhunderts eigentlich nicht mehr erwartet. Kilometerlang geht es den ungebändigten Fluss entlang durch ein enges Tal, das frei geblieben ist von Siedlungen und Autostraßen. Besonders idyllisch sind die letzten Kilometer vor Weischlitz, die weltferne Strecke von Berga nach Wünschendorf und die Passage zwischen Plauen und Elsterberg – Letztere allerdings nur für den, der es wagt, direkt am Fluss zu bleiben, statt sich von der Markierung ins Vogtländer Hügelland schicken zu lassen.

Stadtrand von Halle - der Blick fällt auf einen Dschungel

Zwar heißt es hier, sich über das ein oder andere steinige Wegstück zu quälen und gelegentlich sogar abzusteigen. Dafür wird man jedoch durch die Begegnung mit der gewaltigen Elstertalbrücke belohnt. Sie ist die nur unwesentlich kleinere Schwester der Göltzschtalbrücke, die mit einem längeren Umweg auch zu bestaunen wäre – das höchste Ziegelsteinviadukt Europas, das viele hierzulande allenfalls von der Briefmarke kennen.

Nach dem thüringischen Gera nehmen die technischen Schwierigkeiten ab und die wasserwirtschaftlichen Verbauungen zu. Oftmals geht es jetzt kilometerlang auf dem Damm entlang, besonders im Schlussteil zwischen Leipzig und Halle. Diese eher eintönige Passage ruft einem schmerzhaft in Erinnerung, wie abwechslungsreich es zwischen Quelle und Leipzig war, abhängig von den drei Bundesländern, durch die die Weiße Elster fließt: Im kurzen thüringischen Teil dominierten modern ausgebaute Trassen, in Sachsen-Anhalt behaglich schmale Asphaltwege, auf denen einem ganz sicher kein Auto entgegenkommt, und Sachsen überrascht mit einer wilden Mixtur aller möglichen Ausbauformate.

Nach vier einsamen und schweißtreibenden Tagen erreiche ich einen letzten Aussichtspunkt am Stadtrand von Halle. Laut Karte liegt einem hier die Mündung der Elster in die Saale direkt zu Füßen. Doch der Hang ist völlig verwachsen, der Blick fällt auf einen grünen Dschungel, in den nur kleine Pfade hinunterführen. Ein schönes Sinnbild für den verwegenen Elsterradweg: Auf seinen 250 Kilometern bietet er viel ursprüngliche Natur und berührt selten moderne Gewerbegebiete und Straßengeflechte.

Wer breit ausgebaute Rollbahnen erwartet, täglich mindestens 100 Kilometer schaffen und sich sein Rad nicht schmutzig machen will, sollte das Niemandsland zwischen Thüringer Wald und Erzgebirge unbedingt meiden. Reiseradler, die sich auf die Abenteuer einer sich entvölkernden Region einlassen wollen, werden hingegen begeistert sein.

Gerhard Fitzthum

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