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Durchaus manierlich schaut dieser Ur-Mensch doch drein. Wer die Nachbildung und mehr bestaunen möchte, muss sich ins Paläon bei Helmstedt aufmachen.

© Julian Stratenschulte, pa

Erlebniszentrum Paläon: Am Fenster zur Steinzeit

Die Vergangenheit wird lebendig: Das Forschungs- und Erlebniszentrum Paläon in Schöningen bei Helmstedt ist ein Magnet.

Das sah zunächst gar nicht gut aus. Rund 15 Millionen Euro schien das Land Niedersachsen mit einem Museum zwar nicht in den Sand, jedoch satt in den Löss zu setzen. Wer bitte schön würde denn wegen ein paar alter Speere in eine kleine Stadt namens Schöningen kommen, unmittelbar an der Grenze zu Sachsen-Anhalt? Alle Unkenrufe sind jedoch jetzt, ein halbes Jahr nach der Eröffnung des „Paläon“, verhallt. Zu dem Forschungs- und Erlebniszentrum – so werden Museen im 21. Jahrhundert eben genannt – sind seither gut 50 000 Neugierige gepilgert. In dem „Spiegelpalast“, als der sich das Paläon präsentiert, werden nämlich keineswegs nur ein paar Speere gezeigt, sondern Besucher können hier in eine längst verschwundene Welt eintauchen, in der Steinzeitmenschen vor sagenhaften 300 000 Jahren mit diesen Waffen Pferde jagten.

Vierbeiner traben auch noch heute auf der Weide gleich vor dem blitzenden Gebäude, in dem sich der blaue Himmel samt Wolken spiegelt. Tatsächlich handelt es sich um nähere Verwandtschaft der Ur-Pferde: Przewalski-Pferde also, die einzigen ihrer Art, die in ihrer Wildform bis heute überlebt haben.

Das Eintauchen in die Steinzeitwelt entpuppt sich zunächst einmal als Aufstieg in das Obergeschoss des Spiegelpalastes, der von innen viel weniger futuristisch als von außen wirkt. Dort oben erfüllen sich gleich die Erwartungen, mit denen viele der Besucher anreisen. Genauso haben sie sich die Steinzeit immer vorgestellt: Vor ihnen steht ein Wollnashorn auf dem Eis. Auch die Mammuts in der Steppe und die Auerochsen im Wald fehlen nicht. Letztere allerdings in Form eines drei Meter langen, ein wenig lädierten Skeletts – ein Horn ist gebrochen.

Ähnliche Exponate wie das Paläon zeigen zwar auch andere Museen dieser Welt, nur stehen deren ehrwürdige Hallen in Metropolen nicht am Grabungsort. Na gut, bis zur Ausgrabungsstätte sind es vorbei an den immer auf Leckerli wartenden Przewalski-Pferden schon noch mal hundert Meter. Und hinunter zum Grabungsleiter Jordi Serangeli von der Universität Tübingen dürfen die Besucher auch nicht. Nur die Studenten und natürlich der Verantwortliche im Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege, Thomas Terberger, sollen schließlich dort unten nach Knochen, Speeren und sonstigen Relikten der Welt vor 300 000 Jahren suchen. Aber immerhin sind die Besucher ganz nah an den Archäologen und deren Funden dran. Genau das ist dann auch der Unterschied, der dem vorher als touristisches Nirwana geltenden Schöningen einen wahren Besucherstrom beschert: Das Museum steht unmittelbar am Tatort.

Der See zog den Homo heidelbergensis magisch an

Dieser jedoch wurde im Laufe der Jahrtausende mehrmals völlig umgekrempelt, erfahren die Besucher im Obergeschoss, in dem die moderne Museumspädagogik alle Register zieht. Vor Augen und in den Ohren der Wissbegierigen taucht eine norddeutsche Tiefebene auf, die die Bewohner bis vor 320 000 Jahren während einer Eiszeit mit durchschnittlichen Temperaturen bis zu 15 Grad unter den heutigen Werten bibbern ließ. Danach wurde es wärmer, ein paar hundert Meter hohe Eisschichten schmolzen und dort, wo Jordi Serangeli heute gräbt, schwappten damals die Wellen eines Sees an ein waldreiches Ufer.

Spiegelpalast. Das Paläon in Schöningen zieht seit sechs Monaten Besucher an.
Spiegelpalast. Das Paläon in Schöningen zieht seit sechs Monaten Besucher an.

© Julian Stratenschulte, pa

Am Ende dieser Warmzeit vor rund 300 000 Jahren kühlte das Klima auf Temperaturen rund drei Grad unter dem heutigen Mittelwert ab, Niederschläge wurden eher selten. Der See lag jetzt in einer trockenen Steppe und zog sowohl Tiere als auch den Frühmenschen Homo heidelbergensis magisch an. Schließlich bot sich der See Mensch und Tier als Trinkquell an und eröffnete den Jägern so die Chance, an dem Gewässer gute Beute zu machen. Genau deshalb hatten die Altsteinzeitmenschen damals auch Speere bei sich, mit denen sie etwa die 600 Kilogramm schweren Pferde jagten.

Aus welchen Gründen auch immer blieben einige Speere zurück. Eine Reihe glücklicher Zufälle retteten diese Jagdwaffen über 300 000 Jahre hinweg, bis sie aus einer Braunkohlegrube wieder auftauchten. „Das war ein absoluter Glücksfall“, freut sich Jordi Serangeli von der Universität Tübingen, der seit Juli 2008 die archäologischen Grabungen in Schöningen leitet. Die 1994 bereits von seinem Vorgänger ausgegrabenen Speere sind eine Sensation von Weltgeltung. Zusammen mit etlichen weiteren Relikten, viele davon aus Holz, öffnen sie nämlich den Archäologen und den Paläon-Besuchern gleichermaßen ein Fenster zum Leben in der Altsteinzeit. „Nach dem Fund dieser Speere musste die Frühgeschichte komplett umgeschrieben werden, weil niemand den Menschen vor 300 000 Jahren solche Jagdwaffen zugetraut hätte“, erklärt Archäologe und Paläon-Geschäftsführer Florian Westphal den Besuchern.

Waffenmacher der Altsteinzeit

Gut bewahrt. Speer Nummer 6 wird mit destilliertem Wasser beträufelt.
Gut bewahrt. Speer Nummer 6 wird mit destilliertem Wasser beträufelt.

© J. Lübke, dpa

Da die Menschen damals sehr wahrscheinlich immer wieder ans Seeufer kamen und dort ihre Beute fachmännisch zerlegten, haben die Archäologen inzwischen mehr als 10 000 Knochen von Tieren gefunden, von denen einige offensichtlich mit Steinklingen zerlegt wurden. Auch von diesen Werkzeugen tauchen immer wieder einige auf. Die meisten Tierknochen stammen zwar von Wildpferden. Offensichtlich erwischten die Steinzeitjäger jedoch auch andere Tiere wie zum Beispiel Rotwild.

Zu sechs fast kompletten Speeren, die im Laufe der Jahre auftauchten, kam noch eine Lanze dazu, mit der vermutlich größere Beute angegangen wurde. Außerdem geschnitzte Wurfhölzer, mit denen die Menschen wie mit einem Bumerang kleine Tiere wie etwa Vögel jagten.

Doch wie hatten die Waffenmacher der Altsteinzeit diese Gerätschäften damals hergestellt? Diese Frage beantwortet den Besuchern das Paläon-Maskottchen Desmond. Dessen Name wiederum kommt von einem „Desman“ genannten Verwandten des Maulwurfs, der heute noch in Sibirien lebt, der aber vor 300 000 Jahren auch am Schöninger See zu Hause war.

Beim Blick aus den Fenstern des Spiegelpalastes sehen die Besucher den Elm, einen Höhenzug, auf dem damals in lichten Buchenwäldern einige Fichten wuchsen, deren Stämme auch nach einem halben Jahrhundert nur drei oder vier Zentimeter Durchmesser hatten. Wegen des langsamen Wachstums war ihr Holz extrem hart und daher ideal für Speere. In Experimenten, in denen sie selbst solche Jagdwaffen hergestellt haben, lernten die Archäologen, wie die steinzeitlichen Waffenmacher arbeiteten. Ganz offensichtlich hatten sie über viele Generationen Erfahrungen in dieser Disziplin gesammelt und an ihre Lehrlinge weitergegeben.

Ähnlich wie ein Biber einen Baum durch Abnagen fällt, hieben auch die Steinzeit-Speermacher mit ihren Feuersteinen kleine Splitter aus einem ausgesuchten Stamm. Nach rund einer halben Stunde hatten sie eine tiefe Kerbe rundum geschlagen und konnten das ausgesuchte Bäumchen fällen. Dann rissen sie die Äste ab und entfernten die Rinde. Danach bearbeiteten sie die Speere so, dass die Archäologen noch heute über ihr ballistisches Verständnis staunen.

Ein Wurfspeer bei den Olympischen Spielen sieht genauso aus

Moderne Wettkampfspeere jedenfalls sind genau wie die Jagdwaffen vor 300 000 Jahren im vorderen Drittel am dicksten und laufen von dort sowohl nach vorne wie auch nach hinten immer schmaler zu. An der dicksten Stelle im vorderen Drittel behielt das Stämmchen daher den Durchmesser von etwa vier Zentimetern. Weiter hinten und auch davor hobelte der Steinzeitmensch in einer weiteren Viertelstunde dann seinen oft mehr als zwei Meter langen Speer langsam dünner. So liegt der Schwerpunkt ungefähr ein Drittel der gesamten Länge von der Spitze entfernt und garantiert so optimale Flugeigenschaften.

Der Przewalski
Der Przewalski

© imago

Eine weitere Viertelstunde war der Speermacher damit beschäftigt, die Astansätze zu entfernen und zu glätten. Am Ende schälte er dann in noch einmal 20 Minuten lang feine Späne ab, bis die Holzoberfläche perfekt glatt war und so der Luftwiderstand besonders gering wurde. Genauso sieht noch heute ein erstklassiger Wurfspeer aus, wie er bei den Olympischen Spielen verwendet wird. Nur die Spitze der Jagdwaffen aus der Altsteinzeit liegt mit gutem Grund nicht im Zentrum des Speerschaftes: Dort befindet sich ja das weiche Mark der Pflanze, das zu schwach ist, um eine dicke Pferdehaut gut zu durchdringen. Daher schnitzten die Altsteinzeit-Waffen „schmiede“ die Spitze asymmetrisch vom Mark weg und verhinderten so, dass die Spitze gleich beim ersten Treffer absplitterte.

Und weil die Besucher nicht nur trockene Theorien sehen wollen, gibt es sogar Kurse, bei denen auch Schulkinder lernen, solche Speere zu werfen. Natürlich nicht die Originale, sondern Nachbildungen. Ziel sind auch nicht die Przewalski-Pferde, die immer noch nach Leckerlis Ausschau halten, sondern tote Zielscheiben, deren Form an Mammuts und andere Tiere der Zeit vor 300 000 Jahren erinnert. Und wer keinen Job als Steinzeitjäger, sondern eine Forscherlaufbahn als Archäologe anpeilt, kann mit ein wenig Glück diesen Wissenschaftlern im gläsernen Labor durch dicke Glasscheiben über die Schulter schauen. Das ist eben der Vorteil eines Forschungs- und Erlebniszentrums gleich am Tatort.

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