zum Hauptinhalt
Tongeber. Jeden Mittag, pünktlich um zwölf, gibt’s ein Trompetenständchen von Felix Weickelt. Hoch oben vom Turm natürlich.

© Uli Schulte-Döinghaus

Grenzstadt: Multikulti hat einen Platz

Im Südosten Sachsens liegt Zittau. Hier wird nicht gegen Ausländer gepöbelt. Am (einstigen) Handelsweg ist man weltoffen, überall sind polnische und tschechische Sprachfetzen zu hören.

Wenn die Zittauer wissen wollen, wie das Wetter so ist, dann haben sie zwei Möglichkeiten. Entweder sie schauen sich einfach um. Oder sie hören Felix Weickelt (26) zu, dem trompetenden Türmer von St. Johannis. Als es neulich überraschend schneite, da blies Weickelt „Es ist ein Schnee gefallen“ über die Stadt, gefolgt von „Ach bitterer Winter, was bist Du so kalt“. 60 Meter unter ihm applaudierte eine Rentnertruppe frenetisch und trampelte sich die Füße warm.

Jeden Mittag, kurz vor zwölf, hält der Türmer von St. Johannis ein Trompetenständchen, meist ein Potpourri aus Volksliedern und frommen Kantaten. Dazu umkreist der studierte Schulmusiker den Turmumgang vor seiner erhabenen Wohnung und bläst Richtung Süden, wo das Zittauer Gebirge die Grenze zu Tschechien markiert. Östlich richtet er dann das Blech zur Neiße hin, hinter dem die Konturen und Rauchschwaden des polnischen Kraftwerks Turów auszumachen sind.

Um Publikum braucht er nie zu buhlen – direkt unter der Johanniskirche sind Rathaus, Cafés, Restaurants, Innenstadtgeschäfte und der Marktplatz. Über dessen endgültige Ausgestaltung stimmten die Bürger am vergangenen Wochenende ab. Soll, wie bisher, ein bisschen Autoverkehr an der südlichen Platzbegrenzung erlaubt sein? Oder soll der Marktplatz Fußgängern und Radfahrern vorbehalten bleiben?

Türmer war anfangs ein schlecht angesehener Job

„Nu?“ und „No!“ war darüber in den Tagen vor der Abstimmung häufig zu hören, wenn es um das politische Schicksal des Marktplatzes ging. „Nu“ oder „No“, eigentlich egal, denn beides bedeutet „ja“. Ohne diesen seltsamen sächsischen Wechselgesang scheint hier im Südosten nichts zu gehen, nicht einmal der kommunikationsselige Verkauf eines simplen Brötchens, wie wir es zum Beispiel unten in der Bäckerei Lust am Marktplatz belauscht haben. „Nu?“ „No!“ „Nu.“

Über dem Platz, oben auf der Empore des Turms, ist wunderbar auszumachen, um was es beim Volksbegehren geht. Noch begrenzt am eindrucksvollen Markt eine Reihe von Pylonen einen Fahr- und Parkstreifen, den es womöglich bald nicht mehr gibt. Die Warnkegel bilden eine hässliche Sichtachse vom Marsbrunnen bis zum Rathaus. Das ist ein ansehnlicher Bau mit ziemlich nutzlosem Turm, der Mitte des 19. Jahrhunderts in der nostalgischen Formensprache eines „Palazzo grande“ über einer Stadt gebaut wurde, der es damals so gut ging, dass ihr Rathausbau ein wenig großkotzig geriet.

Türmer gibt es in Zittau seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Sie sollten nach Brandherden Ausschau halten und gegebenenfalls alarmieren. „Das war anfangs ein schlecht angesehener Job“, sagt Felix Weickelt, „weil er nur kostete und keinen Mehrwert schuf.“ Das berühmte Goethegedicht („Zum Sehen geboren ...“) sei deshalb eine romantisierende Verklärung, glaubt der Zittauer Türmer.

Mit anderen engagierten Zittauern hat er die Türmerstube, 266 Stufen hoch, zuletzt so auf Vordermann gebracht, dass er in zwei Räumen überraschend komfortabel arbeitet und wohnt, Dusche, Kaminofen und W-Lan inbegriffen. Damit gehört er zu den beiden (von sechs) deutschen Türmern, die ihren Arbeitsplatz auch bewohnen.

"Zegida"-Demonstrationen hat es bisher nicht gegeben

Wenn der Zittauer Türmer nicht gerade Touristen herumführt, dann unterrichtet er Musik, vertritt den Kantor der Kirchgemeinde oder mischt sich in die Jugendarbeit ein. Er sorgt sich sachverständig um andere Türme der Stadt, kümmert sich engagiert um marode Glockenstühle oder Uhrwerke, die nicht mehr läuten. Somit ist der junge Türmer ein buchstäblich „fischelanter“ Sachse: Das sächsische Traditionsadjektiv wurzelt schließlich im französischen „vigilant“ (wachsam).

Und wie tickt seine Stadt im äußersten Südosten Sachsens? Dass Asylbewerberunterkünfte in Zittau vom Mob verschont geblieben seien, sei zunächst mal ein glücklicher Zufall, sagt der Türmer. Garantieren könne er aber für nichts. Auch „Zegida“-Demonstrationen habe es bisher nicht gegeben – vielleicht, weil die Bürgergesellschaft in zahlreichen „fischelanten“ Initiativen sehr gut vernetzt und bereit sei, den Anfängen zu wehren.

Ähnlich vorsichtig argumentiert auch Kai Grebasch (41), der im Rathaus unmittelbar unter der Johanniskirche für Stadtmarketing und Tourismus zuständig ist. „Die Zittauer waren schon immer ein bisschen weltoffener. Unsere Stadt blühte im Mittelalter auf, weil sie an wichtigen europäischen Handelswegen lag.“ Mit Fremden sei man schon immer lieber ins (Tuch-)Geschäft gekommen als sie zu schmähen oder zu verfolgen. Auch heute sind in Zittau überall polnische und tschechische Sprachfetzen zu hören, unter anderem auf dem Campus der Hochschule Zittau/Görlitz, wo Multikulti quasi Pflichtfach ist.

Das "Große Zittauer Fastentuch" deckte einst eine Feldsauna der sowjetischen Besatzer

Die Zittauer Klosterkirche wird zum Museum. Nach der Innensanierung bis zum Frühjahr 2017 bekommen im Gotteshaus 80 Gedenktafeln für Zittauer Persönlichkeiten ihren Platz.
Die Zittauer Klosterkirche wird zum Museum. Nach der Innensanierung bis zum Frühjahr 2017 bekommen im Gotteshaus 80 Gedenktafeln für Zittauer Persönlichkeiten ihren Platz.

© Sebastian Kahnert/dpa

Die wirtschaftlich aufstrebende tschechische Großstadt Liberec (Reichenberg) ist kaufkräftiges Einzugsgebiet für das fast benachbarte Zittau. Dem deutschen Städtchen ist bis heute anzumerken, dass es zu DDR-Zeiten am Rande lag. Schöne alte Stadthäuser drohen als Leerstand und im Restitutionsverhau zu verfallen. Ehemalige Prachtbauten wie das „Schauburg-Kino“ oder die kolossale Mandau-Kaserne rufen zwar rührige Bürgerinitiativen auf den Plan. Aber leider keine millionenschweren Investoren.

Okkulten Geheimmotive auf dem frommen Tuch

Wie es sich für erfolgreiche Tuchmacher gehört, schufen Zittauer Bürger 1472 ein Fastentuch aus Flachs und Leinen mit dem gewaltigem Ausmaß einer Zwei-Zimmer-Wohnung von 56 Quadratmetern: 8,20 Meter Höhe mal 6,80 Meter Breite. Die frommen Zittauer ließen den gewaltigen Lappen auf 90 Einzelfeldern mit Szenen aus der biblischen Geschichte bemalen, teilweise aber auch mit okkulten oder gar satanischen Geheimmotiven.

Fastentücher wie das in Zittau verhüllen von Aschermittwoch bis Ostersonnabend die Pracht der Altäre. Seinerzeit hing das Leinen in St. Johannis.

Heute ist das „Große Zittauer Fastentuch“ im Museum „Kirche zum Heiligen Kreuz“ ausgestellt, wo die 90 Bilder wie ein mittelalterlicher Comic zu lesen sind, wie ein textiles Manga mit Passionsmotiven. Lange war das Werk verschollen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es von ahnungslosen sowjetischen Besatzungstruppen als Zeltplane über einer Feldsauna genutzt und ziemlich ramponiert. Erst Mitte der 1990er Jahre konnte das „Große Fastentuch“ restauriert und präsentiert werden. Heute ist es eines der touristischen Anziehungspunkte in Stadt und Region.

Bis zum Kurort Oybin fährt eine dampfgetriebene Schmalspurbahn

Wer die südliche Umgebung Zittaus erkunden will, muss abdampfen. Bis zum Kurort Oybin zischt und stampft eine dampfgetriebene Schmalspurbahn – so bedächtig, dass man fast den kleinen Jungen, der auf dem Radweg nebenan gestürzt ist, aufrichten könnte. Aber: Je behäbiger die Dampflok 99749 ins Gebirge ruckelt, umso entschlossener schaut ihr Lokführer durchs Fahrerhaus.

Im Zielort Oybin gibt es eine Art Schneegarantie. Vereinzelt mühen sich noch in diesen Tagen Skilangläufer durchs klamme Nass, vorbei an wunderschöner rosa-schwarzer Fachwerkpracht, zum Beispiel beim Gasthof Almanka. Darüber reckt sich auf knapp 750 Metern der Aussichtsturm Hochwald, der in diesen letzten Wintertagen wie mit Puderzucker eingestäubt zu sein scheint.

Die Burgruine Oybin – sie hat Caspar David Friedrich im Bild „Der Träumer“ verewigt – schenken wir uns. Erstaunliche sechs Euro Eintritt kostet das Anschauen eines Gemäuers, für dessen Restauration wir längst jede Menge Steuern bezahlt haben. Kostenlos ist hingegen die Faszination der Bergkirche am Fuß der Burg. In Jahrhunderten krumm getreten und -gekniet wurden die Stufen, über die sich Besucher dem Barockaltar nähern. Für Alteingesessene sind die hölzernen Sitze in den Bankreihen reserviert – buchstäblich ganz unten, unmittelbar im Angesicht des Altars, darf die Familie Keller singen und beten. „Nu?’“ – „No!“ – „Nu.“

Mit Dampf ins Zittauer Gebirge

Solide gebaut, versieht die Dampflok noch immer ihren Dienst.
Solide gebaut, versieht die Dampflok noch immer ihren Dienst.

© imago/Hohlfeld

ANREISE

In rund dreieinhalb Stunden fährt die Ostdeutsche Eisenbahngesellschaft (Odeg) von Berlin-Hauptbahnhof mit Umstieg in Cottbus bis Zittau. Hin und zurück rund 70 Euro.

HOCH HINAUS
Turmbesteigung von St. Johannis täglich von 10 bis 16 Uhr. (sonntags ab 12 Uhr).

SCHMALSPURBAHN

Hin- und Rückfahrt von Zittau nach Oybin ins Zittauer Gebirge: 16 Euro.

ATTRAKTION

Das „Große Zittauer Fastentuch“ ist ab April täglich in der „Kirche zum Heiligen Kreuz“ zu besichtigen. Ticket: fünf Euro.

AUSKUNFT
Tourist-Information Zittau, Tel: 035 83/ 752 200.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false