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Kennt viele Geschichten. Märchenerzähler Jörn-Uwe Wulf führt Besucher auf seine Weise über den weitläufigen Friedhof.

© Dagmar Krappe

Hamburg: Park der Legenden

Riesig ist der Ohlsdorfer Friedhof – und voller Geschichten. Ein Märchenerzähler führt herum.

„Hielte ich ihn fest, bliebe nichts davon zurück. Zarter Schmetterling.“ Mit diesem kurzen japanischen Gedicht beendet Jörn-Uwe Wulf seinen Rundgang am Grab einer griechischstämmigen Familie. Als Sinnbild der Befreiung aus dem Körper und der Unsterblichkeit der Seele ist in den Stein ein Falter gemeißelt. Seit zehn Jahren zieht der professionelle Märchenerzähler über den Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg und erzählt Geschichten über Leben und Tod. Besinnliche, anrührende, aber auch durchaus humorvolle Texte trägt er an entsprechenden Grabstellen vor. Der Gang über einen Friedhof muss nicht traurig, sondern er kann auch mutmachend und lehrreich sein.

Berühmte Friedhöfe gibt es viele in Europa. Wer in Wien zu den Prominenten zählte, der lässt sich als „schöne Leich’ “ auf dem Zentralfriedhof beerdigen. Beisetzungen in großem Stil mit Prunk und opulentem Leichenschmaus sind keine Seltenheit. Größte Anziehungspunkte sind die rund 1000 Ehrengräber. Dort ruhen Komponisten wie Brahms, Beethoven, Schubert, die Schauspieler Curd Jürgens, Paul Hörbiger und Theo Lingen, österreichische Politiker und Popsänger Falco.

Auch Udo Jürgens hat hier ein Ehrengrab erhalten. Auf den Pariser Friedhof Père Lachaise, den ältesten Parkfriedhof überhaupt, pilgern jährlich tausende Touristen, um die Ruhestätten von Honoré de Balzac, Oscar Wilde, Frédéric Chopin oder Édith Piaf zu sehen. Eine Art Wallfahrtsort ist das Grab von Jim Morrison, Sänger der „Doors“, geworden. Insbesondere am 3. Juli, seinem Todestag, drängen Fans aus der ganzen Welt auf den Friedhof. Père Lachaise wurde bereits Anfang des 19. Jahrhunderts eingerichtet.

Seit der Gründung 1877 wurden 1,4 Millionen Leichname bestattet

Der wohl größte Parkfriedhof der Welt ist allerdings der Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg. Es ist kein Friedhof mit üblichen Reihengräbern, sondern ein Garten, in dem an bestimmten Orten Grabstätten und Kapellen errichtet sind. Es ist Hamburgs größte Grünanlage mit 450 Laub- und Nadelgehölzarten, 36 000 Bäumen und 15 Teichen. Sie zu Fuß zu erkunden, würde Tage dauern. Sie ist so riesig, dass man sie sogar mit dem Auto durchfahren darf. Natürlich ist höchstens Tempo 30 erlaubt.

Durch fast 400 Hektar zieht sich ein 17 Kilometer langes Straßennetz. Zwei Buslinien durchkreuzen die Anlage. Das alles klingt nach Lärm und Unruhe. Doch es ist eine Oase der Ruhe inmitten der Großstadt. Auf dem Ohlsdorfer Friedhof gibt es geführte Themenrundgänge, Radtouren und Jörn-Uwe Wulf, den Märchenerzähler.

Am weithin leuchtenden Christus über dem Althamburger Gedächtnisfriedhof beginnt der Märchenspaziergang. „Hier liegen Hamburger Persönlichkeiten wie Künstler, Architekten und Politiker, die einst auf Friedhöfen am heutigen Dammtor- und Hauptbahnhof beerdigt waren“, erklärt Wulf. „Mit dem Bau der Bahnhöfe wurden die Friedhöfe aufgelassen und die Überreste umgebettet.“ Seit der Friedhofsgründung im Jahr 1877 wurden 1,4 Millionen Leichname bestattet.

Derzeit befinden sich 255 000 Gräber auf der Anlage. Pro Jahr finden zirka 5000 Bestattungen statt. „Der erste Friedhofsdirektor Wilhelm Cordes wollte einen romantischen Park nach dem Vorbild eines englischen Gartens mit vielen Bäumen, Teichen, kleinen Hügeln, Rosen und Rhododendren gestalten“, berichtet Wulf. „In Ohlsdorf sollte nicht nur eine Bestattungsfläche, sondern zugleich auch ein Erholungsort für Trauernde entstehen.“

Fünf Märchen in anderthalb Stunden

Neugotischer Wasserturm von 1898
Neugotischer Wasserturm von 1898

© Dagmar Krappe

Fünf Märchen erzählt Jörn-Uwe Wulf während des eineinhalbstündigen Rundgangs. Er beginnt mit der Geschichte der beiden Bauern Jean und François in der Bretagne. Sie endet damit, dass Jean seinem verstorbenen Freund einen letzten Dienst erweist, um ihm das Loslassen zu erleichtern. Dazu hat Wulf einen sehr alten Grabstein gewählt, der als Patengrab ausgewiesen ist. „Seit 1990 kann man kostbare, weil aufwendig gestaltete Grabmäler erwerben, die nicht mehr im Familienbesitz sind, und sie für neue Bestattungen nutzen. So werden sie vor dem Verfall bewahrt.“ Ein Verfahren, das durchaus auch in Berlin üblich ist.

Etwa 2000 Engel schmückten vor Jahren noch viele Gräber. Heute sind es noch 160. Meist Galvanoplastiken. Hergestellt von der Firma WMF. Die meisten Engel haben einen Palmwedel in der Hand, der Trost spenden soll und als Zeichen der Auferstehung gilt. Zu Füßen liegt oft eine Rose. Das Symbol der Liebe. Der Immortellenkranz steht für ewiges Leben.

An einem opulenten Grab mit Obelisken folgt das Märchen von der 17-jährigen Malot und dem Land, in dem niemals die Sonne aufging. „Ein Obelisk war ursprünglich ein Zeiger der Sonnenuhr“, doziert Wulf, „Symbol für Sonnenaufgang und -untergang, also für geboren werden und sterben müssen. So fand er Eingang in die Friedhofskultur und schmückt großzügig angelegte Ruhestätten.“

Im "Garten der Frauen" ruht Domenica, einst St. Paulis bekannteste Hure

Eine Prominentenecke wie auf vielen großen Friedhöfen üblich, gibt es in Ohlsdorf nicht. Um die Grabstellen von Hans Albers, Reeder Albert Ballin, Heinz Erhardt, Zoogründer Carl Hagenbeck, Inge Meysel oder Helmut Zacharias zu finden, ist es ratsam, sich mit einem detaillierten Faltblatt, das es kostenlos bei der Information am Haupteingang gibt, auf den Weg zu machen.

Am neugotischen Wasserturm von 1898, direkt an der Cordesallee, befindet sich der „Garten der Frauen“, eingerahmt von hohen Rhododendren. Hier ruhen Frauen, die Hamburgs Geschichte mitgeprägt haben. Es sind alte Grabsteine oder neue Begräbnisstätten von bedeutenden Hamburgerinnen, die sich kulturell, politisch oder sozial engagierten. Zu jedem Grab gibt es eine Infotafel über das Leben der einzelnen Personen. So auch zu Domenica, einst St. Paulis bekannteste Hure, später Kämpferin für die Rechte ihrer jüngeren Kolleginnen und Streetworkerin.

Vor einem umfriedeten schwarzen Grabmal mit Immortellenkranz erzählt Jörn-Uwe Wulf das Märchen von der gütigen Alten, die in einem windschiefen Haus mit großem Garten lebte. Sie verhandelte mit dem Tod, dass er sie zweimal davonkommen ließ, bevor er sie endgültig – beim dritten Mal – hole. Dieses Märchen habe er mal auf einer Trauerfeier vorgetragen, die ein junger Mann für seine Tante ausrichtete, sagt Wulf. „Sie war sehr lebenslustig, betrieb mehrere Pornoläden auf der Reeperbahn und war nach einer Zigarette auf der Krankenhaustoilette am dritten Herzinfarkt verstorben.“ Eine wahre Geschichte.

Friedhof Ohlsdorf, Fuhlsbütteler Straße 756, Telefon: 040 / 59 38 80; geöffnet von April bis Oktober, 8–21 Uhr. Märchenspaziergänge von Mitte April bis Anfang September. Dauer jeweils 1,5 Stunden. Preis: 13 Euro pro Person. Telefonische Anmeldung: 041 02 / 888 26 57, im Internet: maerchenraum.de

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