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Watt ihr wollt. Wanderer und Pferdekutschen durchqueren einen Priel zwischen Sahlenburg und der Insel Neuwerk.

© imago / Dieter Mendzigall

Neuwerk: Mutterseelenallein, aber nicht einsam

Stella Klasan ist Vogelwartin auf Scharhörn. Wer dorthin oder auf die Nachbarinsel Neuwerk will, sinkt tief ein: Von Cuxhaven aus geht’s durchs Watt.

Der Jogger im signalgelben Dress kommt schnappatmend zurück, nestelt an seiner Armbanduhr. „48 Minuten“, ruft er und macht eine Biege zur Fußwaschanlage hinter dem Deich. Für die rund acht Kilometer zwischen dem Cuxhavener Vorort Duhnen und der Insel Neuwerk hat er eine Dreiviertelstunde gebraucht – eine beachtliche Zeit. Es ging schließlich durchs Watt, in dessen zähnassem Untergrund die Läuferfüße alle paar Meter einsacken.

Ebbe. Niedrigwasser zwischen Inselwelt und Festland. Dutzende von Wattwanderern sind heute Morgen auf Wattwagen, zu Fuß oder im Pferdesattel unterwegs. Die meisten fahren nach einem kurzen Aufenthalt mit dem Fahrgastschiff „Flipper“ zurück. Bei Hochwasser (Flut) pendelt es zwischen Cuxhaven und Neuwerk.

„War schön, die S-tregge“, norddeutschelt die Reiterin und tätschelt ihren Braunen. Auch diese beiden sind übers Watt nach Neuwerk gelangt. Andere Reiterinnen treiben ihre Pferde zu solch verschärftem Galopp an, dass sie gehörig Gischt und Sand abkriegen und schließlich wie glücklich grinsende Matschepatscherinnen an Land traben. In Formation rollen hochgefederte Wattwagen zweispännig durchs Niedrigwasser, fünf Passagiere nebst Kutscher an Bord. Geübte Wattwanderer haben Plastikschuhe übergestreift; barfüßige Anfänger stelzen und staksen sich durchs Watt und fluchen laut, wenn sie auf Muschelbänke geraten.

Solch tückische Hindernisse treten auch zwischen Neuwerk und der benachbarten, vier Kilometer entfernten Vogelschutzinsel Scharhörn auf. Das Eiland misst 20 Hektar oder rund 28 Fußballfelder und zählt einen einzigen Einwohner – den Vogelwart. Auf Scharhörn lebt er einfach – das Plumpsklo mit Herzchentür ist über einem Sandloch – in einem Container im Schatten einer Holzhütte auf Stelzen, die just runderneuert wird.

Von der Berliner Lesebühne zum Möwenzählen

Ein halbes Jahr lang hat Stella Klasan diesen Job gemacht, jetzt t arbeitet sie ihren Nachfolger ein. Klasan (26) wurde in Cottbus geboren, machte in Eberswalde eine Ausbildung zur Försterin und lebt normalerweise im umtriebigen Berlin-Neukölln, wo sie trendige Lesebühnen und Poetry Slams bespielt, wenn sie nicht gerade in Sachen Vogelschutz auf Neuwerk und Scharhörn zugange ist. Wer den fast coolen Berichten von Stella Klasan zuhört, erkennt sofort, dass das Leben einer Inselwartin keineswegs einsam ist, auch wenn sie mutterseelenallein dort lebt.

Stella Klasan hat Berlin mit einer einsamen Insel vertauscht.
Stella Klasan hat Berlin mit einer einsamen Insel vertauscht.

© Uli Schulte Döinghaus

Regelmäßig kündigen sich Wattwanderer aus Neuwerk an, maximal 50 pro Tag werden willkommen geheißen und geduldig mit Informationen versorgt. (Wattwanderer, die dem Vogelwart zum Dank eine Freude bereiten wollen, bringen Brötchen oder Milch mit). Vogelwarte dürfen keine maulfaulen Einsiedler sein, sie sind immer auch Botschafter des Nationalparks Wattenmeer und ihres Arbeitgebers, des gemeinnützigen Vereins Jordsand, der sich an Nord- und Ostsee dem Vogelschutz verschrieben hat.

Wenn die Priele allmählich mit Wasser volllaufen und die Besucher sich verzogen haben, dann sind Daten über den Vogelbestand aufzubereiten oder unliebsame Vorkommnisse festzuhalten. Immer wieder seien Rückstände und Abfälle aus der Schifffahrt zu beklagen, sagt Vogelwartin Stella Klasan. „Erst heute morgen haben wir Paraffinreste an der Inselkante gefunden.“

Klasans berufliches Zwischenfazit ist zugleich die Jobbeschreibung eines Vogelwartes auf Scharhörn: „Gerade zur Vogelzugzeit wechseln sich sehr ruhige und erlebnisreiche Tage ab, im Frühjahr wollen Brutvögel kartiert, muss wöchentlich Müll gesammelt, müssen Spülsäume regelmäßig kontrolliert werden.“ Auch jetzt im Juli sei genügend zu tun, sagt sie: kartieren, sammeln, zählen, beobachten und dokumentieren. Aber der Sommermonat – Brutzeit für Möwen und Seeschwalben – sei die abwechslungsärmste Zeit für Ornithologen.

Scharhörn und Niggehörn wachsen allmählich zusammen

Die junge Frau deutet auf Mulden in den Salzwiesen, über denen nur vereinzelt Silbermöwen kreisen und kreischen. Jetzt bevölkern etwa 2000 Brutpaare das Inselchen, im Herbst und Frühjahr ist Scharhörn Rastgebiet für Zugvögel (meist Watvögel und Gänse) auf der „Ostatlantischen Zugroute“, von Sibirien nach Kanada.

Auch das unbewohnte Nigehörn nebenan, wo der Scharhörner Vogelwart gelegentlich nach dem Rechten sieht, ist ein begehrter Rastplatz. Stella Klasan erzählt von Herings- und Mantelmöwen, Löfflern und Feldlerchen, die regelmäßige Bewohner sind. Neuerdings haben sie wieder mit natürlichen Feinden zu rechnen, vereinzelt hätten sich auch Wanderfalken niedergelassen, um sich satt zu fressen.

Im Herbst und im Frühjahr ist der Vogelwart in eine aufgeregte Kakophonie aus 30 000 Schnäbeln gehüllt – ein vertrauter und angenehmer Klangteppich, versichert Stella Klasan, dessen Grundrauschen nur manchmal durchbrochen werde, wenn Signale von den Frachtern kommen, die sich in wenigen hundert Metern Entfernung durch die stark frequentierte Fahrrinne nach Hamburg wälzen, panoramafüllend an Scharhörn und Nigehörn vorbei. Die dortige Schutzhütte werde über kurz oder lang ohnehin funktionslos werden – das ewige Kommen, Gehen und Schieben der Gezeiten sorge dafür, dass Scharhörn und Niggehörn allmählich zusammenwüchsen. Schon jetzt könne man auch bei Hochwasser zu Fuß herüber gelangen, sagt die Vogelwartin.

Friedhof der namenlos Gestrandeten

Am Rand der Fahrrinne nach Hamburg: Die Insel Neuwerk mit Scharhörn und Nigehörn (rechts) im Hintergrund.
Am Rand der Fahrrinne nach Hamburg: Die Insel Neuwerk mit Scharhörn und Nigehörn (rechts) im Hintergrund.

© imago / Blickwinkel

Wie werden die Vögel gezählt? Stella Klasan fingert an einer handtellergroßen Zählmaschine, die an ihrem Hosenbund hängt wie ein Colt am Cowboygürtel, lässt es demonstrativ in Viertelsekundenfolge klicken und erzählt von eingespielter Routine, die sich die Profis angeeignet haben, wenn es um das Auszählen von Zehntausenden von Vögeln geht, die zur Ruhe gekommen sind.

Was Vogelwarte auf Scharhörn und Nigehörn kartieren und zählen, wird in der Nationalparkstation auf Neuwerk wissenschaftlich aufbereitet, zu Broschüren und Unterrichtsmaterial zusammengestellt oder zu politischen Stellungnahmen. Im Nationalparkhaus nebenan können sich Besucher einen guten Überblick über Leben und Gefährdungen des Watts verschaffen, inklusive Ebbe- und Flut-Simulation.

Dort gibt es auch Informationen über Geschichte und Gegenwart Neuwerks – das autofreie Drei-Quadratkilometer-Inselchen ist in einer gemütlichen Spazierstunde umrundet, die Sehenswürdigkeiten sind an drei Fingern abzuzählen: Ostbarke, Friedhof der namenlos Gestrandeten, Leuchtturm. Wer mit einem Fernglas bewehrt ist, kann in südöstlicher Richtung Cuxhaven absuchen, in nordöstlicher Richtung ist am Horizont die Silhouette von Mittelplate auszumachen, der einzigen deutschen Ölbohrinsel.

Zoff wegen der strengen Auflagen im Nationalpark

Die ungemein entspannt wirkende Atmosphäre auf Neuwerk täuscht ein wenig darüber hinweg, dass es zwischen den rund 40 Bewohnern und der Nationalparkverwaltung zurzeit Zoff wegen der strengen Auflagen gibt, über die das „Hamburger Abendblatt“ kürzlich berichtete: „Neuwerk will kein Nationalpark mehr sein. Pferdemist muss auf dem Festland entsorgt werden, auch Pferdewindeln standen zur Debatte.“

Es gibt Ärger um Aus- und Neubauten, womöglich auch um die vielen Hasen, die hier unbehelligt herumhoppeln und sich vermehren können, weil das Jagen in der Schutzzone verboten ist. Adressat des Neuwerker Bürgerunmuts ist meist das Bezirksamt Mitte der Freien und Hansestadt Hamburg, zu der Nigehörn, Scharhörn und Neuwerk kommunalpolitisch gehören. So kommt es, dass der 700 Jahre alte backsteinerne Leuchtturm von Neuwerk nicht nur als das älteste profane Gebäude an der deutschen Nordseeküste gilt, sondern auch als das älteste Bauwerk Hamburgs.

Längst ist der olle 40 Meter hohe Vierkant kein Signalgeber für die Schifffahrt mehr, sondern eine oft ausgebuchte Pension mit sieben Zimmern über einer Kneipe, die vor 20 Jahren schon mal in einem Manfred-Krug-„Tatort“ eine Rolle spielte. Ein paar Stufen unter der Turmstube ist der Laden (nebst provisorischem Biergarten) des Inselkaufmanns, wo je nach Saison Krabbenbrötchen verkauft werden.

Dass der Krabbenfang frisch aus der Nordsee kommt – davon können sich die Gäste hoch oben auf der Terrasse des Leuchtturms selbst ein Bild machen. Bei Hochwasser arbeiten sich Kutter, bewehrt mit ihren typischen Netzauslegern durch die Nordsee, und sie wirken winzig im Vergleich zu den massigen Containerschiffen, die in die Elbe passieren.

Muss man sich um das kleine Boot Sorgen machen, das drüben im Windschatten der kolossalen „Hyundai“ segelt?

Tipps für Neuwerk

Stella Klasan hat Berlin mit einer einsamen Insel vertauscht.
Stella Klasan hat Berlin mit einer einsamen Insel vertauscht.

© Uli Schulte Döinghaus

ANREISE

Mit der Bahn in rund vier Stunden von Berlin über Hamburg nach Cuxhaven. Bei Ebbe per Wattwagen ab Cuxhaven-Sahlenburg oder zu Fuß während einer Wattwanderung nach Neuwerk. Gezeitenabhängig fährt am Fähranleger Alte Liebe das Personenschiff „Flipper“, meist nur einmal täglich. Internet: cassen-eils.de, Telefon: 04721 35082

ÜBERNACHTUNG

Das Angebot auf Neuwerk: etwa 110 Betten in Pensionen und 75 in Ferienwohnungen; drei Zeltplätze

Leuchtturm Neuwerk (Telefon: 04721 29078, Internet: leuchtturmneuwerk.de), Zimmer mit Etagenbad 120 Euro pro Nacht an Wochenenden, sonst 100 Euro.

AUSKUNFT

Ausführliche Internetseite: nationalpark-wattenmeer.de

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