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Blick vom Kirchturm St. Petri auf den mittelalterlichen Stadtkern der Berg- und Universitätsstadt Freiberg.

© Wolfgang Thieme/Zentralbild

Radtour: Entlang der eiligen Mulde

Das romantische Bächlein entwickelt sich bald zum Strom. Vom Fahrrad aus kann man der Mulde dabei zuschauen. Dabei streift die Route das einst reiche Freiberg.

Der moderne Triebwagen zuckelt durch eine zartgrüne Landschaft, taucht in frühlingsfrische Wälder ein und passiert desolate Bahnhofsgebäude wie die von Weigmannsdorf und Bienenmühle. In Mulda sind die meisten Fahrgäste ausgestiegen, übrig geblieben sind nur zwei Radler mit ihren schwer bepackten Tourenvelos. Kein Stimmengewirr mehr, kein Handyklingeln, kein Klackern von Notebooktastaturen. Ein kleiner Vorgeschmack auf die Einsamkeit, die uns an der sächsischen Mulde erwarten sollte.

Schließlich die Endstation Holzhau. Der Zug passiert die ehemalige Waldarbeitersiedlung und hält dort, wo nur noch ein paar zugenagelte Häuschen am Hang stehen. Ein rostiges Gleis liegt da, könnte weiterführen in Richtung Tschechien, endet stattdessen aber nach wenigen Metern im Wald. So hat man es sich immer vorgestellt – das Ende der Welt.

Dass die Mulde zu den schnellsten Flüssen Europas zählt, ist sogar auf dem Rad zu spüren. Zumindest auf den ersten Kilometern: Die Pedale leisten fast keinen Widerstand, gefühlte zwei Stunden geht es nur bergab, vorbei an lang gestreckten Dörfern, in denen neben herausgeputzten Neubauten auch einige pittoreske Erzgebirgshäuser stehen. Von dem großen Strom, zu dem die Mulde auf den nächsten 260 Kilometern anschwellen wird, ist nichts zu ahnen. Das Bächlein, das hier oben durch Feuchtwiesen und Auwälder mäandert, ist gerade einmal zwei Meter breit.

Hier steht die älteste montanwissenschaftliche Hochschule im deutschsprachigen Raum

Graureiher stehen reglos am Ufer, oben kreisen ein paar Greifvögel, unsichtbar zirpen Zikaden. Die Landschaft des Erzgebirges strahlt noch jene Ruhe aus, die man an bekannteren Destinationen nicht mehr findet: nirgendwo wild gewordene Mountainbiker im knallbunten Outfit, nirgendwo am Horizont schwebende Paraglider, nirgendwo entschlossen ausschreitende Wandergruppen. Findet man mal einen offenen Biergarten, so ist man nicht selten der einzige Gast.

Der Szenenwechsel kommt abrupt: Bei Kilometer 30 ragt ein modernes Fabrikgebäude in den Himmel. Die Freiberger Industrieareale liegen keineswegs so trostlos da, wie man das vom deutschen Osten erwartet. Dass sich Hightech-Betriebe wie Solarworld in diesem Niemandsland angesiedelt haben, ist kein Zufall: In der ältesten montanwissenschaftlichen Hochschule im deutschsprachigen Raum wird hier qualifizierter Nachwuchs ausgebildet.

Mehr als 5000 Studenten sind an der TU Bergakademie Freiberg eingeschrieben, der Forschungsschwerpunkt liegt auf der Erforschung und Entwicklung von Rohstoffkreisläufen – Zukunfstechnologien statt akademischer Hausmannskost.

Der Aufstieg Freibergs begann bereits Mitte des 12. Jahrhunderts, als nahe dem kleinen Waldhufendorf Silbererze entdeckt wurden. Die Knappensiedlung „am freyen Berge“ wuchs in Rekordtempo und erhielt bereits 1186 die Stadtrechte. Mit der Gründung von drei Klöstern und zwei Hospitälern entwickelte sich „Friberch“ dann im 13. Jahrhundert zu einem überregional bedeutsamen Handels- und Wirtschaftszentrum. Weil der Ortskern von den Bombenhageln des 2. Weltkriegs verschont blieb, sind die Spuren des einstigen Wohlstands noch überall sichtbar. Es dürfte kaum eine zweite deutsche Stadt geben, deren Zentrum in einer derartigen Homogenität erstrahlt!

Vier Orgeln von Silbermann kann das Städtchen vorweisen

Das eindrücklichste Haus des Obermarktes ist der 1546 gebaute Ratskeller, der seinerzeit als Kaufhaus und städtisches Repräsentationsgebäude diente. Wer sich die Räume des ersten Stocks aufschließen lässt, betritt den historischen Festsaal, in dem auch Theateraufführungen stattfanden. Von dort führt eine Tür in die im Original erhaltene Kastenstube – einen Schankraum für die gehobene Kundschaft. Zar Peter I. gehörte zu den illustren Gästen dieses ambitionierten Etablissements.

Sehens- und vor allem hörenswert sind auch die vier spätbarocken Silbermann-Orgeln, die sich in den Gotteshäusern der 40.000 Einwohner-Stadt finden. Der weltbekannte Orgelbauer wohnte in der Nähe des Schlosses Freudenstein, das Heinrich der Fromme Anfang des 16. Jahrhunderts zur Residenz umbauen ließ. Seit einigen Jahren beherbergt es die größte Mineraliensammlung Deutschlands, die „Terra Mineralia“.

Flussabwärts locken dann hochkarätige Baudenkmäler aus vorreformatorischer Zeit – die ehemalige Zisterzienser-Abtei Altzella, das Kloster Buch und die gespenstische Ruine des Klosters Nimbschen, aus dem in der Osternacht 1523 Luthers spätere Frau Katharina von Bora geflohen war.

Im kleinsten Gang geht es zu den Schlössern von Nossen, Leisnig und Colditz hinauf

Die Mulde bei Löbnitz während des Hochwassers 2013.
Die Mulde bei Löbnitz während des Hochwassers 2013.

© Jan Woitas/dpa

Die zahlreichen Schlösser der erst heute abgelegenen Region zu besichtigen, kostet den Radler etwas mehr Mühe. Die von Nossen, Leisnig und Colditz liegen jedenfalls hoch über dem Fluss auf markanten Hügeln. Im kleinsten Gang quält man sich durch steil ansteigende Kopfsteingassen.

Nicht weniger faszinierend ist der Naturraum: Erstaunlich oft rollt man auf idyllischen Feld- und Waldwegen direkt am unverbauten Fluss entlang. Immer wieder öffnen sich Talabschnitte, in denen es überhaupt keine Autostraße gibt. Kühe, Schafe und Ziegen grasen hier auf langsam verwildernden Weiden, dazwischen aber auch riesige Felder und Brachen, die an die agrarindustrielle Vergangenheit des einstigen Arbeiter- und Bauernstaates erinnern.

Muss man mal auf eine größere Fahrstraße, so ist selbst das kein Problem – nur selten wird der Radler von Autos überholt. Den Grund für das geringe Verkehrsaufkommen erkennt man im Städtchen Rosswein: Die Hälfte der Häuser steht leer, darunter eindrucksvolle Belle- Epoque-Gebäude. Viele Einwohner haben hier das Weite gesucht. Es gibt keine Arbeit mehr im abgelegenen Westen des Kreises Meißen.

In Grimma herrscht noch immer Angst vor der Flut

In Grimma wird einem dann die unschöne Kehrseite der hohen Fließgeschwindigkeit vor Augen geführt: Das erste Haus ist eine Ruine, an dessen Fassade die Hochwasser-Höchststände der letzten 300 Jahre angezeichnet sind. Um zur Rekordhöhe von 2002 hinaufzuschauen, verrenkt man sich fast den Hals. Fünf Meter stand das Wasser damals einige Tage in der Altstadt. Auf Platz zwei rangiert das zweite „Jahrhunderthochwasser“ der vergangenen 15 Jahre: Dreieinhalb Meter schmutzige Brühe floss 2013 durch die Gassen. Zum Fluss hin wird jetzt ein vier Meter hohes Sperrwerk errichtet, das wie eine historische Stadtmauer aussieht.

Dank Geldspenden von 15 Millionen Euro wurde das ansehnliche Stadtbild wiederhergestellt, aber manches Geschäft ist nach wie vor geschlossen. Solange die Hochwasserschutzanlage noch nicht in Betrieb ist, herrscht bei den Anwohnern lähmende Angst. Viele schrecken sogar davor zurück, Förderanträge für Schutzmaßnahmen zu stellen, obwohl noch jede Menge Geld abrufbar wäre – für wasserfeste Fassaden- und Fußbodenanstriche etwa.

„Unser Hauptproblem ist die fehlende Eigeninitiative der lokalen Bevölkerung“, sagt Michalina Jonderko vom zuständigen Caritas-Verband. In der DDR sei nichts selbstverständlicher gewesen als die Erwartung, dass sich der Staat um alles kümmere.

Eine schier endlose Kette von Radfahrern bewegt sich auf die letzte Brücke zu

Unterhalb von Grimma wird der Muldetalradweg etwas langweiliger. Man fährt jetzt immer wieder an Dämmen entlang, die die Sicht auf den Fluss versperren. Wirklich trostlos wird es aber erst im letzten Abschnitt zwischen Burgkemnitz und Kleutsch, wo die Route viel zu lange auf oder neben viel befahrenen Straßen geführt wird. Hier ließe sich noch einiges verbessern. Umso schöner dann das Finale: Statt uns direkt in die Bauhaus-Metropole Dessau zu leiten, weist die Markierung in einen verwunschenen Park – das Idyll ist wieder einmal perfekt.

Schließlich entdeckt man die letzte Muldebrücke am Horizont und traut seinen Augen kaum: Wie eine Fata Morgana bewegt sich eine schier endlose Kette von Radfahrern auf die markante Holzkonstruktion zu. Dort hinten trifft die Mulderoute auf den beliebten Elberadweg, auf dem jedes Jahr 150.000 Langstreckenradler gezählt werden. Die wilde Mulde haben sie – zum Glück – noch nicht entdeckt.

Familienfreundlich rund um Freiberg

Wieder schmuck. Die 80 Meter lange Hängebrücke über der Mulde in Grimma war beim Hochwasser 2013 stark beschädigt worden.
Wieder schmuck. Die 80 Meter lange Hängebrücke über der Mulde in Grimma war beim Hochwasser 2013 stark beschädigt worden.

© Gerhard Fitzthum

ALLGEMEINES
Gut ausgerüstet für den Muldentalradweg ist man mit einem Trekkingbike. Abgesehen vom Teilstück ab Bitterfeld ist die Route familienfreundlich – so gut wie keine Begegnung mit motorisiertem Verkehr. Für den Oberlauf gibt es zwei Optionen, die Zwickauer Mulde (154 Kilometer) oder die hier beschriebene Freiberger Mulde (103 Kilometer), die Quellflüsse vereinigen sich erst kurz vor Grimma.

ANREISE
Mit dem EC nach Dresden, von dort stündlich nach Freiberg und zweistündig nach Holzhau an der tschechischen Grenze. Auch der Startpunkt der Zwickauer Mulde ist mit der Bahn erreichbar, der Fahrradtransport ist im Verkehrsverbund Mittelsachsen gratis.

ÜBERNACHTEN
Gästehaus Residenz in Döbeln, Tel.: 03431/71770, Übernachtung mit Frühstück im DZ pro Person 32,50 Euro, EZ 45 Euro;

Altstadt-Hotel in Grimma, Telefon: 034 37/91 40 95, Übernachtung mit Frühstück im DZ pro Person 30 Euro, EZ 48 Euro;

Hotel Obermarkt in Freiberg, Tel.: 03731/26370, DZ mit Frühstück 89 Euro

REISEFÜHRER
Bikeline „Muldenradweg“, 11,90 Euro. Auskunft im Internet: muldentalradweg.de.

Gerhard Fitzthum

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