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Prachtensemble. Die weitläufige Anlage ist nicht die einzige Attraktion des Dorfes. Man kann auch stilvoll Kaffee trinken, auf dem „schönsten Freisitz Deutschlands“.

© Volkmar Heinz

Sachsen: Barockes in sechzehn Gängen

Im sächsischen Rammenau wurde Johann Gottlieb Fichte geboren. Auf den sind sie ebenso stolz wie auf ihr Riesenschloss.

Geschichten erzählen die Rammenauer in der sächsischen Provinz gern, eine jedoch ganz besonders oft. Nämlich, wie aus dem kleinen Johann Gottlieb, Sohn des armen Bandwebers Christian Fichte, der Philosoph Fichte wurde. Eines schönen Sonntags anno 1771 reiste der Schwager des Gutsherrn von Hoffmannsegg zu spät in Rammenau an, weil seine Kutsche unterwegs einen Unfall hatte. Auf Grund dessen verpasste der hohe Herr den Gottesdienst.

Als er schließlich eintraf, genoss der Pfarrer – wie üblich – bereits das Mittagessen im Schloss. Er hatte keine Lust, die Predigt für den Zuspätgekommenen zu wiederholen. Er ließ einfach den neunjährigen Johann Gottlieb herbeirufen. Der aufgeweckte Bursche zitierte Wort für Wort den Sermon des Kirchenmanns. Das beeindruckte den wohlhabenden Gast so sehr, dass er seine Börse öffnete und dem Jungen mit einem hübschen Sümmchen den Weg zu höherer Bildung ermöglichte. Sogar das Amt des ersten gewählten Rektors der Berliner Universität hatte der Bandwebersohn für einige Zeit inne.

Diese Geschichte also erzählen die Rammenauer – regional: die Ramm’schen genannt – mit Hingabe, denn welches 1500-Seelen-Dorf hat schon einen Philosophen aufzuweisen? Deshalb errichteten sie Fichte auch gleich zwei Denkmäler: eine antik-ruinös anmutende Säule beim Schloss und eine Büste im Dorf, auf der er ernst dreinschaut. Bekannter dürfte die erste sein, denn die passiert jeder, der die große Freitreppe hinabschreitet, um im Park zu spazieren.

Das Barockschloss liegt am Rande des Dorfes, und dies gilt nicht nur geografisch. Wer mit den Rammenauern redet, hört hin und wieder die Formulierung „die im Schloss“, ohne ablehnenden Unterton zwar, aber doch deutlich distanziert. Und die Touristen wiederum übersehen mitunter das idyllische Dorf. Sie rollen auf den Parkplatz am Schloss, eilen durch Säle und Gemächer und verschwinden wieder. Bestenfalls gönnen sie sich einen Kaffee auf dem „schönsten Freisitz Sachsens“, wie Küchenchef Axel Göber seine Terrasse mit Blick ins Grüne nennt.

Manchmal schlüpft auch die Schlossherrin ins Kostüm

Und dabei hat Göber so viel mehr aufzutischen: allem voran die Ramm’sche Suppe, die mit einer versiegelten Rolle serviert wird. Auf ihr ist die Geschichte der Speise aufgezeichnet, der zufolge anno 1817 der Häusler Johann Gottlieb Fichte – kein Verwandter des Philosophen – nach dem Genuss einer durch seine Gemahlin vergifteten Buttermilchsuppe verschied. Wer mag, kann richtig prassen hier. Dann werden ihm von Kammerzofen „Speisen in barocken sechzehn Gängen“ (99 Euro) serviert, mit Pausen zur Schloss- und Parkbesichtigung.

Das Schloss – auch von innen ein Juwel
Das Schloss – auch von innen ein Juwel

© Volkmar Heinz

Das Schloss macht aus Rammenau etwas Besonderes. Einen Tagesritt von Dresden entfernt hatte sich Ernst Ferdinand von Knoch, Kammerherr und Appellationsrat August des Starken hier sein Anwesen bauen lassen. Und so entstand in der Lausitzer Landschaft so etwas wie eine barocke Residenz, nur eben im Kleinformat. Die folgenden Besitzer ließen zwar einige zeitgemäße Annehmlichkeiten einbauen, aber keiner vergriff sich am Äußeren der bis 1754 entstandenen Landbarockanlage, die heute zu den Staatlichen Schlössern, Burgen und Gärten Sachsens gehört.

Schlossherrin – offiziell Schlossleiterin – ist seit knapp einem Jahr die 54-jährige Ines Eschler. Sie schwärmt von ihrem im Laufe der vergangenen beiden Jahrzehnte bis ins Detail restaurierten Schatz: „Wir sind die Ersten, die die Anlage in ihrer seit fast 300 Jahren angestrebten Vollkommenheit genießen dürfen.“ Manchmal schlüpft auch die Chefin ins Kostüm einer Kammerzofe und führt Besucher durch die Räume, durch den Spiegelsaal und den Chinesischen Salon, durch das Pompejanische Zimmer und die Gesindeküche – bis auf den Dachboden in die Ausstellung zur Bandweberei und zu Fichte, dem berühmtesten Abkömmling der Branche.

„Unser Dorf hat Zukunft“

Der Ortschronist Harald Willenberg hat viele Geschichten vom Leben im Dorf zu erzählen.
Der Ortschronist Harald Willenberg hat viele Geschichten vom Leben im Dorf zu erzählen.

© Volkmar Heinz

Noch erfüllt Rammenau nicht alle Wünsche von Ines Eschler. „Unsere prachtvolle Suite, die besonders gern von frisch Vermählten gebucht wird, ist natürlich eine Sehenswürdigkeit. Aber es ist schade, dass es im Dorf bislang kein Hotel gibt. In einem Flügel des Schlosses wäre noch Platz.“ Auf jeden Fall, so die weit herumgekommene Expertin, sei Rammenau „die schönste Landbarockanlage Sachsens“.

Die Ramm’schen allerdings sind davon überzeugt: Unser Dorf ist genauso sehenswert wie das Schloss. Da ist was dran. Um den Ort mit all seinen Facetten zu entdecken, muss man gut zu Fuß sein oder sich mit Friedrich Hartmann verabreden. In seinem Stall stehen drei Rösser und in der Remise neue und historische Kutschen. Als Fahrgast kommt man dann bequem vom Schloss zu den Teichen, bergauf in den Ortsteil Schaudorf und wieder hinab zum neu angelegten und von noch jungen Bäumen gesäumten Feldweg.

Manchmal transportiert Hartmann seine Fuhren allein durchs Dorf, manchmal sitzt Ortschronist Harald Willenberg bei den Gästen und übernimmt die Erläuterungen. Zu erklären gibt es viel: die Alte Schmiede, ein Umgebindehaus, das die Tourismusinformation beherbergt, und eine Schauschmiede, das Alte Gefängnis, die Kirche…

Aber Willenberg erzählt nicht nur von den Sehenswürdigkeiten, sondern auch vom Alltag und Leben im Dorf und wie das war, als die Kommission zur Inspektion kam. Das neunzehnköpfige Gremium sollte beurteilen, wie Rammenau im Bundeswettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ dasteht. Rund 200 Kriterien galt es zu erfüllen. Sage und schreibe 2600 Kandidaten hatten sich bundesweit gemeldet.

Besucher können einem „Fichte-Lehrpfad“ folgen

„Nicht wenige unserer Leute taten so, als sei so eine Bewerbung nur mein Spleen“, erzählt Hiltrud Snelinski, die seit drei Jahrzehnten Bürgermeisterin ist. „Aber ein paar Tage vor dem Besuch wuselten alle durch ihre Vorgärten und mähten das Gras sogar auf kommunalen Flächen. Kaum war die Kommission dann weg, klingelte bei mir ununterbrochen das Telefon, und alle wollten wissen, was die gesagt haben und wie es denn wohl ausgegangen sei?“

Es hat bestens geklappt. Rammenau ist unter den neun stolzen Goldmedaillengewinnern. Zwar gibt es auch hier einige hohe Zypressenhecken, aber in die meisten Gärten kann der Spaziergänger hineinschauen, vom Frühjahr an auch wieder auf blühende Stauden, üppige Rosensträucher und kleine Kräutergärten. Fast verwunschen mutet die Pracht an, gewachsen ohne das Diktat von Lineal und Zirkel. Dörflich eben.

Ihrem Fichte – also dem Genie, nicht dem Mordopfer – haben die Ramm’schen nicht nur die beiden Denkmale gesetzt. Sie steckten auch einen „Fichte-Lehrpfad“ ab, dem Besucher nun folgen können. Im Gasthaus Erbgericht richteten sie die sogenannte Fichtestube ein und malten den Stammbaum Fichtes an die Wand. Bei den regionalen Spezialitäten steht sogar eine „Philosophenplatte“ auf der Speisekarte. Einem Beiblatt ist auch zu entnehmen, wo Fichtes Spuren sonst noch zu finden sind.

Im Schloss zum Beispiel, wo ein kleines Museum über ihn informiert. Und nicht nur einmal steht im Ort zitiert: „Ob aber jemals es uns wieder wohlgehen soll, dies hängt ganz allein von uns ab, und es wird sicherlich nie wieder irgendein Wohlsein an uns kommen, wenn wir nicht selbst es uns verschaffen…“ Die Ramm’schen haben es sich verschafft.

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