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Das holländische Ehepaar Spruit hat am Draisinenhaltepunkt Sperenberg eine Bildhauerwerkstatt eingerichtet und gibt dort auch Kurse.

© erlebnisbahn.de

Teltow-Fläming: Pfauenaugen am Gleis

Wer im Kreis Teltow-Fläming auf der Draisine strampelt, lernt Europa kennen. In historischen Bahnhöfen geht es französisch, holländisch und italienisch zu.

Am Bahnhof Mellensee fahren schon seit Langem keine Züge mehr. „Bitte einsteigen“ hörten Fahrgäste das letzte Mal 1998. Dann wurde die Strecke im Teltow-Fläming- Kreis zwischen Zossen und Jüterbog stillgelegt. Ein paar Jahre wuchs Gras über die Schienen, dann übernahm die Erlebnisbahn GmbH den 40 Kilometer langen Gleisabschnitt und dazu noch acht Bahnhöfe an der Strecke.

Nun heißt es: Aufsteigen, bitte und Platz nehmen auf der kobaltblau gestrichenen Fahrraddraisine. Zwei Personen sitzen rechts und links zum Strampeln auf dem Sattel, zwei weitere könnten es sich dazwischen auf einem Holzbänkchen gemütlich machen.

Wir nehmen keine faulen Passagiere mit und treten munter in die Pedale. Sogar eine Gangschaltung ist vorhanden. In der Ebene kommen wir im vierten und fünften Gang, ganz wie beim normalen Rad, flott und mühelos voran. „Nicht zu schnell in die Kurve“, juxt ein Beobachter am Bahnhof Mellensee.

In Wahrheit ist nicht mal eine Biegung in Sicht. Schnurgerade geht es durch die Wald- und Wiesenlandschaft. Bis zur ersten Schranke. Wir müssen eine Straße queren. Einer steigt ab und drückt die Schranke hoch, während sich der andere vorsichtig tretend bis zum Straßenrand vortastet. Von rechts nähert sich ein Auto – und hält. Der Mann hinterm Steuer lächelt und winkt. Also: rüberfahren, die Schranke an der anderen Straßenseite öffnen, und schon sind wir wieder in sicheren Gefilden.

Von vorn kann jetzt keiner kommen

Unvorstellbar, dass auf dieser Strecke mal ein Geschwindigkeitsrekord aufgestellt wurde. 210 Stundenkilometer schaffte ein AEG-Versuchswagen bei einer Testfahrt im Jahre 1903. Uns reicht ein Bruchteil dieses Tempos völlig aus.

Anhalten ist erlaubt, zu jeder Zeit, so lange man will. Absteigen, um ein Pfauenauge zu fotografieren, einen dicken Busch gelber Blumen oder einen zinnoberroten Krabbelkäfer am Stamm einer Birke. Was ist denn das für ein Greifvogel da oben am weißblau getupften Himmel?

Hier fährt man gern vor. Seit der Bahnhof Rehagen-Klausdorf 1998 stillgelegt wurde, geht das per Draisine.
Hier fährt man gern vor. Seit der Bahnhof Rehagen-Klausdorf 1998 stillgelegt wurde, geht das per Draisine.

© Stefan Berkholz

Niemand drängelt von hinten – und von vorn kann jetzt keiner kommen. Da passt die Erlebnisbahn gut auf. Knirsch, macht es. Der Mitfahrer hat gerade eine dicke Schnecke mit beachtlichem Gehäuse überrollt. Das arme Tier! „Was muss sie auch mitten auf der Schiene kleben“, sagt er, zuckt allerdings immerhin bedauernd die Achseln. Noch zwei Mal ist das Schrankenspielchen dran, dann rollen wir am historischen Bahnhof Rehagen-Klausdorf ein.

Die Einheimischen glaubten nicht, dass der Bahnhof jemals fertig wird

Oh, da weht ja die Trikolore. Im März hat die Familie Boyer hier ein französisches Restaurant eröffnet. Christophe, aus der Nähe von Lyon und die gebürtige Deutsche Manja hatten sich in Frankreich verliebt – und geheiratet. Auf der Suche nach einem Platz zum Leben und Arbeiten fanden sie den historischen Bahnhof und kauften ihn 2010.

Ein Wagnis, denn wie sollten sie den maroden Bau restaurieren? Fördermittel halfen, Banken gaben, wenn auch zunächst widerstrebend, Kredite. Wände mussten von mehreren Schichten Farbe befreit, nachträglich eingezogene Mauern eingerissen, neue Fußböden gelegt, Küche und Toiletten installiert werden. Manchmal, gibt Christophe zu, kamen den beiden Bedenken. Und mündeten immer in der Losung: „Wir geben nicht auf.“

Kreativteam in Rehagen: Koch Guillaume und Familie Boyer mit Baby Anouk.
Kreativteam in Rehagen: Koch Guillaume und Familie Boyer mit Baby Anouk.

© Stefan Berkholz

Bei allen Arbeiten hatte der Denkmalschutz ein Auge drauf. „Aber was die verlangten, hätten wir sowieso gemacht“, erzählt der 39-Jährige. Böden erhalten, die noch nutzbar waren, die Fensterrahmen in jenem Rot streichen, das 1875 hier aufgetragen worden war. „Eine Expertin hat den Ton ermittelt. Man sah ja nichts mehr davon, jegliche Farbe war komplett abgeblättert“, sagt Christophe.

Immerhin, das Holz war noch okay. Innen wurde hier und da altes Mauerwerk freigelegt und kontrastiert nun mit mutig eingesetzten Wandfarben. Gediegene Tapeten tun ein Übriges. „Die Leute aus der Umgebung haben die Arbeiten skeptisch verfolgt“, erzählt der Franzose. Und nicht dran geglaubt, dass der Bahnhof jemals fertig wird. Gerade schlendern zwei dieser Zweifler mit großen Augen durch die Räume. Einer sagt anerkennend: „Das haben Sie wunderbar hinbekommen.“

Am Bahnhof Sperenberg flattert die niederländische Flagge

Bildhauerehepaar Spruit
Bildhauerehepaar Spruit

© Hella Kaiser

Bei schönem Wetter sitzen die Gäste direkt an den Gleisen, unter Sonnenschirmen auf dem Bahnsteig. Dass man hier lange verweilen möchte, liegt nicht zuletzt an der exquisiten Küche. Am Herd steht Guillaume. Auch er stammt aus der Nähe von Lyon, aber gefunden hat ihn Christophe in Berlin, über Facebook. „Es passte einfach“, freut er sich.

Drei wöchentlich wechselnde Menüs stehen auf der Karte, zum Beispiel mit einem Hauptgericht aus Rinderfilet vom Charolais mit Shiitake-Pilzen und Grenaille-Kartoffeln. Es gibt auch Crêpes und Grillettes. „Das Buchweizenmehl dafür müssen wir nicht aus der Bretagne importieren“, sagt der Chef zufrieden. „Wir beziehen es von der Luckenwalder Mühle.“

Ein Ehepaar aus Köln hat mit dem Auto hergefunden und gleich mal Chablis geordert. Die beiden kommen einmal im Jahr nach Berlin und unternehmen von dort Ausflüge ins Umland. „Jedes Mal entdecken wir eine andere Gegend, aber das hier ist ja wirklich etwas ganz Besonderes.“ Sie winken uns fröhlich nach, als wir weiterstrampeln.

Im Außenatelier lagern Marmor und Travertin

Nächster Halt: Bahnhof Sperenberg. Hier flattert die niederländische Flagge. Das holländische Bildhauerpaar Wouter und Ine Spruit haben Werkstatt und Laden an den Gleisen eingerichtet. Wouter zeigt stolz die Dielen von 1907 und führt durch die ehemaligen Wartesäle zweiter und dritter Klasse. In einem stehen Skulpturen von verschiedenen Künstlern, im anderen ist eine Wohnküche eingerichtet. Hier werden die Teilnehmer der Bildhauerkurse verköstigt. Ein paar Stunden kann man buchen, aber auch eine ganze Woche.

Im Außenatelier liegen Steine über Steine, darunter Travertin und Marmor. „40 Sorten haben wir“, sagt Wouter. Anfängern rät er, sich zunächst an Speckstein zu wagen. Der ließe sich am einfachsten bearbeiten und stehe in verschiedenen Farben zur Wahl.

„Manche wollen gleich am ersten Tag ihre Katze formen“, erzählt der Bildhauer schmunzelnd. „Das ist natürlich viel zu schwierig.“ Während Ine am liebsten Tierfiguren oder Abstraktes gestaltet, werden es bei Wouter „immer wieder Frauen“. Was die beiden geschaffen haben, ist im großen Garten zu betrachten.

Die Holländer hatten zuvor mit Frankreich geliebäugelt. „Aber da gibt es Bezahlbares nur ab hundert Kilometern entfernt von einer Stadt – und dort wohnt dann niemand mehr“, sagt Wouter. Sperenberg dagegen biete alles, was man braucht. Einen Supermarkt, ein paar kleine Läden, einen Bäcker, einen Arzt. „Zwei Mal im Monat kommt sogar ein Wagen mit lebenden Hühnern und Enten vorbei“, sagt Ine.

Ganz wie früher. „Manchmal halten Draisinenfahrer bei uns an und wünschen ein Bier“, sagt der Bildhauer. Vergeblich. Speisen und Getränke gibt es hier – leider – nicht.

„Mit Sizilien bin ich lange fertig“, sagt Giovanni

Wir drehen um und fahren zurück zum Ausgangspunkt in Mellensee. So bleibt noch Zeit, ins gleichnamige Gewässer zu hüpfen. Yvonne Krüger, Pressesprecherin der Erlebnisbahn, empfiehlt das Strandbad Klausdorf. Supertipp. Ein Riesensee, umgürtet von Schilf, ohne lärmende Motorboote. Im Strandbad gepflegter Rasen, tadellose Umkleidekabinen und Duschen – und fast nichts los an diesem sonnigen Spätnachmittag.

Schwimmen, träumen, lesen. Kann man denn wirklich schon wieder hungrig werden? Eine kleine Stärkung vor der Rückfahrt nach Berlin sollte drin sein. „Schauen Sie am Bahnhof Zossen bei Giovanni vorbei“, rät Yvonne Krüger. „Da lernen Sie gleich noch den Start- und Endpunkt der meisten Draisinentouren kennen.“

Giovanni also. Der Mann ist Sizilianer. Was empfiehlt er? „Alles, was auf der Karte steht, ist gut“, sagt er, der früher in der Nähe von Palermo zu Hause war. „Eine schöne Stadt“, schwärmen wir. „Ja, aber die Mafia und die Kriminalität, viele schlechte Leute“, ereifert er sich gestenreich und erklärt: „Mit Sizilien bin ich lange fertig.“

Drinnen, in den kitschig-gemütlichen Bahnhofsstuben aber hat er Bilder der Insel dekoriert, allerlei Nippes steht herum, Nudelpakete und Tomatendosen stapeln sich, Inselweine stehen im Regal. „Meine sizilianische Ecke“, sagt Giovanni lächelnd. Bald wird am ehrwürdigen Backsteinbau auch die italienische Flagge wehen. „Das dafür notwendige Loch für die Fahnenstange muss noch mit dem Denkmalschutz abgestimmt werden“, erklärt Yvonne Krüger.

Wir sind in den Landkreis Teltow-Fläming gefahren und haben ein facettenreiches Europa entdeckt. „Fehlt noch ein Grieche“, sagt der Begleiter grinsend. Nur Mut, liebe Hellenen. Der ein oder andere Bahnhof ist noch zu haben.

Tipps für Teltow-Fläming: Bildhauerkurse in Sperenberg

Das holländische Ehepaar Spruit hat am Draisinenhaltepunkt Sperenberg eine Bildhauerwerkstatt eingerichtet und gibt dort auch Kurse.
Das holländische Ehepaar Spruit hat am Draisinenhaltepunkt Sperenberg eine Bildhauerwerkstatt eingerichtet und gibt dort auch Kurse.

© erlebnisbahn.de

ANREISE

Die Regionalbahn braucht vom Berliner Hauptbahnhof bis Zossen 48 Minuten.

DRAISINENFAHRTEN

Außer Fahrraddraisinen (zwei Stunden 9,90 Euro pro Person), stehen ab Mellensee auch Hebeldraisinen für 10 bis 14 Personen (ab 17,90 Euro pro Nase) zur Verfügung. Verschiedene Zusatzprogramme im Angebot. Mehr Informationen und Buchung bei der Erlebnisbahn in Zossen, Telefon: 033 77/330 08 50, Internet: erlebnisbahn.de

EINKEHR

Französische Küche im Bahnhof Rehagen, geöffnet donnerstags bis sonntags 16 bis 22 Uhr, sonntags Brunch ab 10 Uhr. (Am Mellensee, Telefon: 01 63 /851 03 27, Internet: bahnhof-rehagen.de

Italienische Spezialitäten im Draisinenbahnhof Zossen, geöffnet Mittwoch bis Freitag ab 17 Uhr, Sonnabend und Sonntag ab 12 Uhr. Telefonnummer: 01 78 /153 67 47, Internet: er lebnisbahn.de/gourmetstation

BILDHAUERKURSE

Seit 2011 bietet das Künstlerpaar Spruit Bildhauerkurse verschiedener Zeitspannen im historischen Bahnhof Sperenberg an. Ein eintägiger Kurs kostet zum Beispiel 65 Euro, fünf Tage 325 Euro. Laden für Künstlerbedarf. Im Bahnhof befinden sich auch zwei Gästezimmer. Telefonnummer: 03 37 03 159676, Internet: bickartsupplies.de

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