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Bollwerk für die Ewigkeit. Die Festung von Belfort schuf der Zitadellenarchitekt Vauban auf Geheiß von König Ludwig XIV.

© Belfort Tourisme

Franche-Comté: Im Dorf der Gutherzigen

Die Franche-Comté, dünn besiedelt, liegt ein bisschen abseits im Osten Frankreichs. Eine Gegend zum Staunen – und Schlemmen.

Nur wenige Autos stehen an diesem Nachmittag vor dem neoklassizistischen Thermengebäude von Luxeuil-les-Bains. Eine Dame, die bauchige Badetasche über der Schulter, spaziert zum Eingang. Ein Herr, der die Pforte kurz vorher erreicht hat, hält ihr galant die Tür auf. Frankreich weiß, was sich gehört. Aber das Land taumelt, die Wirtschaft liegt am Boden. In der Franche-Comté zumal, dieser abgeschiedenen Gegend westlich vom Elsass, deren Grenze zur Schweiz südöstlich im Jura-Gebirge verläuft. Es ist nicht mehr viel los im einst eleganten Luxeuil-les-Bains. Das einst prunkvolle Hotel du Parc ist schon lange geschlossen, das alte Casino verrammelt. Das neue, aus den fünfziger Jahren, ist ohne Charme. Geschlossene Fensterläden an zahlreichen Häusern mit üppig verzierten Fassaden. Die eisernen Balkongitter, mit Rosetten, Kreisen oder Ellipsen immer anders geformt, halten noch, während die Gebäude bröckeln.

„Wieso steht in so einem beschaulichen Ort so viel leer?“, fragen wir im Schreibwarenladen in der Hauptstraße, der Rue Victor Genoux. „Es gibt keine Arbeit mehr“, sagt die Besitzerin. Bis in die fünfziger Jahre hinein waren noch acht Gießereien in der näheren Umgebung. Keine ist übrig geblieben. Etliche Möbelfabriken waren im Ort, alle verschwunden. Feinste Spitze wurde früher hier gefertigt und an die feinen Pariser Modehäuser geliefert. Doch schon 1977 schloss das letzte Atelier für dieses filigrane Kunsthandwerk in Luxeuil-les-Bains. „Hier geht alles kaputt“, sagt Madame resigniert. „Die jungen Leute ziehen fort und Touristen finden uns oft einfach nicht. Die Autobahn ist zu weit weg.“

So kommt es, dass die wenigen Besucher am heutigen Nachmittag die Schätze des 7000-Einwohner-Städtchens in Ruhe bewundern können. Das im gotischen Stil erbaute Haus von Kardinal Jouffroy aus dem 16. Jahrhundert zum Beispiel. Und sie können den noch ein Jahrhundert älteren Schöffenturm hinaufsteigen und das nahezu intakte mittelalterliche Stadtbild von oben bewundern. Die Stadt ist viel älter. Im ersten Jahrhundert vor Christus wurde sie von den Römern unter dem Namen Luxovium gegründet. Ausgrabungen auf dem Marktplatz zeugen davon. 18 heiße und kalte Quellen sprudeln noch immer, nun im ältesten Thermalbad Frankreichs. Doch der Standard des nur von außen schönen Ensembles wird den hohen Ansprüchen vor allem ausländischer Badegäste kaum gerecht werden.

In der Glasmanufaktur La Rochère kommen alle ins Schwärmen

Was besticht, ist mal wieder die exquisite Küche. Das kleine Restaurant Sucré-Salé macht auf den ersten Blick nicht viel her. Aber was tischen sie dort für Köstlichkeiten auf! In Maismehl panierte Poularde, Schweineschulter an schwarzem Knoblauch, flambierte Mirabellen ... Sollen wir die kräftige Wurst aus Morteau probieren oder doch lieber die zarte Cancoillotte? Ach, man muss einfach sündigen an diesem Ort.

Glasbläser in La Rochère.
Glasbläser in La Rochère.

© Kaiser

Dazu die Weine. Nicht weniger als sechs AOC-Labels für fünf Rebsorten keltern sie in der Franche-Comté. Auch den Savagnin, der sinnbildlich für Weißweine des Jura steht. „A votre santé“, zum Wohl, sagt Marie-Helène, unsere Gastgeberin. Dann erblasst sie. Ein Deutscher mischt den Savagnin mit Mineralwasser, mon dieu. „In Deutschland habe ich schon gesehen, dass man so genannte Schorlen trinkt. Aber niemals würde das ein Franzose tun“, sagt sie, leicht um Fassung ringend.

In La Rochère, der ältesten Glasmanufaktur Frankreichs im Dorf Passavant-la-Rochère, kommen alle ins Schwärmen. Seit 1475 werden hier feine Glaswaren gefertigt und seit dem 17. Jahrhundert auf der ganzen Welt verkauft. Mundgeblasene Kelche, Vasen und Lampenschirme ebenso wie solides Pressglas in vielerlei Formen. 140 Mitarbeiter beschäftigt die Manufaktur. „Wer ein ausgezeichneter Glasbläser werden will, muss zehn Jahre lernen“, sagt Produktionsleiter Guy Roussey. Die Konkurrenz sei groß, und vor allem in Ungarn und Tschechien arbeite man oft billiger. „Aber wir sind die Besten“, betont Roussey stolz. Er führt Besucher durchs Werk, auch dorthin wo das Pressglas hergestellt wird.

Ist man hier im 21. Jahrhundert? Gläser zuckeln auf Fließbändern vorüber, es zischt, dampft, rumst – und ist furchtbar heiß. Wie von Geisterhand wird die durchsichtige Ware vorangeschoben. Die Fabrik erinnert an die Zeit des Beginns der industriellen Revolution – und fasziniert. Gläser mit Pfiff werden hergestellt. Eine Serie heißt zum Beispiel „Abeille“ – die Biene. Entsprechend sind auf jedem Glas mehrere durchsichtige Insekten aufgeprägt. Witzig und sehr dekorativ. Die Inspiration dafür stammt aus dem Pariser Musée Carnavalet. Dort sind mit Bienen verzierte Becher aus dem Reisegepäck von Napoleon ausgestellt. „Das können wir auch“, sagt man sich in La Rochère und hat das Dekor nur ein bisschen variiert. Der Verkaufsladen ist eine einzige Versuchung. Ach, hätte man doch nur einen großen Koffer mitgebracht.

„Wenn sie fliehen wollen, hackt man ihnen ein Bein ab ...“

Le Corbusiers Bau in Ronchamp.
Le Corbusiers Bau in Ronchamp.

© imago

In der Franche-Comté sind sie stolz auf ihre Traditionen. Aber auch auf ihre unbeugsamen, geradlinigen Vorfahren. Einfache Bauern waren es zumeist, die ihr Herz auf dem rechten Fleck hatten. Das Dorf Champagney ist bestes Beispiel dafür. Hier befindet sich das Maison de la Négritude et des Droit de L’Homme, ein Museum über schwarze Kultur und Menschenrechte. Wie kommt es in die kleine Gemeinde? Im März 1789 ermunterte König Ludwig XVI. die Einwohner des Landes, Eingaben und Beschwerden in kleine Hefte zu schreiben. In Champagney forderten die Menschen neben Verbesserungen der Lebensbedingungen für sich selbst auch die Abschaffung des „Negerhandels“.

Sie baten darum, die bedenkenlose Ausnutzung schwarzer Menschen in den Kolonien streng zu verbieten. Viel konnten sie darüber nicht gewusst haben. Kaum jemand hatte sein Dorf je verlassen. Einen lebendigen Schwarzen hatten sie nie gesehen. Und sie kannten auch nicht Voltaires Essay „Über die Sitten der Nationen“ aus dem Jahre 1756, in dem der Philosoph über die Sklaven in den Kolonien schreibt: „Wir lassen sie arbeiten wie Lasttiere, ernähren sie aber schlechter. Und wenn sie fliehen wollen, hackt man ihnen ein Bein ab ...“

Einzig das Gemälde in der Kirche hatten die Bewohner von Champagney immer vor Augen, jenes eines unbekannten Künstlers aus dem Jahr 1514. Die Heiligen Drei Könige sind darauf zu sehen – und einer von, Balthasar, hatte schwarze Haut. Also war er doch genau so ein Mensch wie die Weißen, folgerten die Leute daraus und fragten: Wie kann man den Schwarzen dann so viel Unrecht tun? Die Hefte erreichten den König nie. Aber sie wurden aufbewahrt – und zeugen vom Bürgersinn vor 225 Jahren. Das Gemälde hängt noch immer in der Kirche.

Le Corbusier besuchte Ronchamp – und war begeistert

Auch in Ronchamp ist ein kleines Wunder geschehen. Auf dem Hügel, der vormals vermutlich eine Kultstätte der Kelten war, gab es seit Ende des 11. Jahrhunderts eine Kirche. Im 19. Jahrhundert wurde sie von zigtausenden Pilgern aus aller Welt besucht, ein Wallfahrtsort. Nach einem Brand wurde sie in den 1920er Jahren im neugotischen Stil wiedererrichtet – und im Zweiten Weltkrieg bei einem Artillerieangriff zerstört.

In den fünfziger Jahren wünschte sich das Bistum eine neue Kirche an diesem Ort. Modern sollte sie werden, anders, einzigartig. Über zehn Ecken fragte man auch bei Le Corbusier an. Aber er war nicht religiös, hatte sich mit Kirchenbauten nicht beschäftigt. Dann, 1950, besuchte er den Ort auf dem Hügel – und war begeistert. Diese einzigartige Lage! Er skizzierte – und legte los. Als Material verwendete er auch die Steine der alten Kapelle, doch darüber wölbt sich kühn ein Dach aus Beton.

Es ruht auf 16 Stahlbetonpfeilern. Während die Kirchenmauern weiß verputzt sind, ist das Dach nackt und grau. Bei der Einweihung übergab Le Corbusier sein Werk mit den Worten: „Beton ist ein Material, das nichts anderes vorgibt ... der Sichtbeton sagt: Ich bin Beton.“ Innen ist die Kirche dunkel und soll damit die innere Einkehr erleichtern. Von außen sieht sie, je nach Standort des Betrachters, immer wieder anders aus. „Manchmal wirkt sie wie ein Schiff, wie eine Arche Noah auf dem Hügel“, sagt Guide Nicolas.

2011 baute Renzo Piano, kongenial, ein Kloster dazu. Die mit viel Glas leicht und luftig gestalteten Gebäude wurden gleichsam in den Hügel eingelassen. Der unverstellte Blick auf die Kapelle bleibt. Pro Jahr besuchen rund 60 000 Besucher Notre Dame du Haut. Sie können im neu angelegten Meditationsgarten der Klarissen verweilen – und sogar auf Zeit ihre Gäste sein.

Krise in Frankreich? In Belfort merkt man nichts davon

Hauptstraße in Luxeuil-les-Bains
Hauptstraße in Luxeuil-les-Bains

© Hella Kaiser

Die architektonischen Perlen in Montbéliard schuf der deutsche Architekt Heinrich Schickert im 16. Jahrhundert. Damals, unter der Herrschaft des Württemberger Herzogs Friedrich, hieß der Ort Mömpelgard. Ein drei Kilometer langer Spaziergang auf den Spuren Schickerts führt etwa zur Martinskirche im prächtigen toskanischen Stil, zur Residenz „Junckhaus“ des Schlosses in schwäbischer Renaissance und zum Universitätskollegium.

Im Altstadtkern fahren nur wenige Autos – und wenn, dann sind es solche der Marke Peugeot. Kein Wunder, das größte Werk des französischen Autobauers befindet sich im benachbarten Sochaux. Evelyne Boilaux, die Stadtführerin, ist auf etwas anderes stolz. „Wir dürfen vier Blumen auf dem Ortsschild tragen, sind also eine „ville des fleurs“ mit der höchsten Auszeichnung. Kein Wunder, es rankt und blüht allenthalben in Gärten, Gefäßen und auf Balkonen. „50 Stadtgärtner sind angestellt und viermal im Jahr wird neu gepflanzt“, sagt Evelyne zufrieden.

Krise in Frankreich? In Belfort, dem quirligen 50 000-Einwohner-Städtchen, merkt man nichts davon. Kaum biegt man aus einer Gasse heraus, ist man schon wieder an einem anderen netten Platz. So viele kleine Geschäfte mit schönen Dingen. Cafés, Bistros und Restaurants wetteifern mit Köstlichkeiten zu erstaunlich niedrigen Preisen, die meisten sind gut besucht. Belfort ist eine Sommerstadt – fast überall kann man draußen sitzen und französische Lebensart beobachten. Madame plaudert mit Monsieur, Großeltern führen ihre Enkelkinder an der Hand und am frühen Abend hat nahezu jeder, wie es sich gehört, ein Baguette in der Hand.

Warum ist die Gegend im Ausland kaum bekannt?

Touristen stapfen erst mal zur Zitadelle hinauf. Welch eine gewaltige Anlage des Festungsarchitekten Vauban! Aufgrund zahlreicher Invasionen hatte ihm Ludwig XIV. den Auftrag dazu erteilt. Wie hatte man das Bollwerk jemals einnehmen können? Zwischen 1870 und 1871 wurde Belfort von den Preußen belagert. Die Bewohner darbten, hungerten, viele starben. Unter dem Kommando von Oberst Denfert-Rochereau wurde die Stadt 104 grausame Tage lang gehalten. Am Ende blieb sie französisch. Zu Ehren des Widerstands schuf Frédéric-Auguste Bartholdi 1880 ein kolossales Denkmal, den Löwen von Belfort. „Ein gejagter, in die Enge getriebener Löwe ist in seinem Zorn noch immer furchterregend“, beschrieb Bartholdi den Ausdruck des Tieres. 22 Meter lang, elf Meter hoch, aus roten Sandsteinblöcken zusammengefügt, prangt der Löwe an einer Festungsmauer.

Etwas abseits befindet sich das Museum der modernen Kunst, hervorgegangen aus einer Schenkung des Kunsthändlers Maurice Jardot. Eine erstaunliche Sammlung. Ausgestellt in einer schönen Villa sind unter anderen Werke von Picasso, Braque, Léger und Gris. Auch Zeichnungen von Le Corbusier hängen an der Wand. Ab 1925 hatte der Architekt Naturobjekte skizziert. Darunter auch jenen Krebspanzer, der ihn später zur Form des Kirchendaches in Ronchamp inspirierte.

Binnen einer Dreiviertelstunde mit dem Auto gelangt man ins „Land der tausend Seen“ – in eine von Gletschern geformte Kulturlandschaft. Zahlreiche Wanderwege erschließen sie.

Die Bewohner der Franche-Comté sind um ihre Schätze zu beneiden. Warum ist die Gegend vor allem im Ausland kaum bekannt? „Vielleicht liegt es am sperrigen Namen“, glaubt Marie-Helène. Wahre Entdecker stört das natürlich nicht.

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