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Frankreich: Offene Schleusen für Gourmets

Frankreich zeigt seine gemütliche Seite: Mit dem Hausboot über den Canal du Nivernais.

Der Taxifahrer am Bahnhof von Auxerre runzelt die Stirn und schüttelt dann den Kopf. „Monsieur, wo wollen Sie hin? Nach Villiers-sur-Yonne? Außer ein paar Häusern und einer alten Kirche gibt es dort nichts.“ „Genau da will ich hin“, antwortet Monsieur. Der Fahrer kratzt sich am Kopf, schiebt seine Mütze nach hinten und fährt los, über schmale Landstraßen, durch urige Dörfchen und dichte Wälder ans gewünschte Ziel. Eine Stunde später ist für ihn die Welt wieder in Ordnung. Sein komischer Kunde steigt am Ortsschild aus, marschiert auf die mittelalterliche Yonne-Brücke und winkt von dort einer Motoryacht am Ufer zu. „Oh, là, là! Hausboot“, sagt der Taxifahrer grinsend, „deshalb wollten Sie hierher.“ Der Gast schmunzelt, packt seine Sachen, zahlt und geht.

Robert ist schon an Bord. Er hat vor einer Woche in Decize ein komfortables Boot gechartert, eine Linssen Grand Sturdy 33.9, und vom hübschen Loire-Städtchen aus den Canal du Nivernais unter den Kiel genommen, um nun hier in diesem Irgendwo im Nirgendwo zur Verabredung einzutreffen. „Hat ja prima geklappt“, begrüßt er den Zusteiger, holt eine Flasche Chablis aus dem Kühlschrank und schneidet rasch etwas Käse auf.

Früh am nächsten Tag kitzelt die Sonne die Männer aus der Koje. Frische Baguettes zum Frühstück, das wär’s jetzt. Mal schau’n, ob es im Dorf überhaupt einen Bäcker gibt. Wenige Minuten später erledigt sich die Frage von selbst: Kaum auf der Yonne-Brücke, rumpelt ein Kastenwagen über die Rue du Pont und hält. Das Seitenfenster öffnet sich und gibt den Blick auf einen Berg ofenwarmer Stangenbrote frei. „Wie viele möchten Sie, Monsieur?“, fragt die Fahrerin.

Auf dem Schiff duftet es schon nach frisch gebrühtem Kaffee, und nach dem Frühstück legt Robert ab mit Kurs auf Clamecy. Auf den saftigen Wiesen am Ufer grasen weiße Charolais-Rinder, sanfte Flussauen wechseln sich ab mit leuchtend gelben Rapsfeldern und dunklem Wald. An der Schleuse vor Chevroche heißt es: warten. Der Schleusenwärter hat wohl verschlafen oder zu tief ins Glas geschaut. Jedenfalls dauert es eine Viertelstunde, dann braust ein Kastenwagen heran, ein junges Kerlchen springt heraus und spurtet zur Schleuse. Schnell die Sperrtore aufkurbeln. Zehn Minuten später geht’s weiter Richtung Clamecy. Das erste Zeichen dieser ehemaligen Flößerstadt ist der Glockenturm der Martinskirche. Schlank und rank ragt er zwischen dichten Ahornbäumen in den knallblauen Himmel. Der Platz zum Festmachen im kleinen Stadthafen ist schnell gefunden. Der Anstieg zur auf einer Höhe thronenden Altstadt kann beginnen.

Die Idee zum Bau des Kanals reicht bis ins 16. Jahrhundert zurück. Schon damals waren die Wälder rund um Paris radikal abgeholzt. Das Brenn- und Heizmaterial für die prosperierende Hauptstadt musste also von weit her über holprige Landstraßen herangekarrt werden. Abhilfe sollte der Canal du Nivernais als schiffbarer Brückenschlag zu den Wäldern des Bazois schaffen. Bis zum Betrieb des ersten Teilstücks freilich vergingen rund 250 Jahre. Doch was heißt hier Betrieb? Die Bäume wurden irgendwo in den Wäldern geschlagen, zersägt und einfach in die Bäche und Flüsse geworfen. Stromabwärts in Clamecy fischte man sie schließlich heraus und band sie zu 75 Meter langen und 5,50 Meter breiten Flößen zusammen. Wackere Kerle kletterten auf die wackeligen Dinger und manövrierten sie mit langen Stangen bis nach Paris.

Doch das 5000-Seelen-Städtchen Clamecy war mehr als nur der Holzumschlagplatz. Seine hübschen Fachwerkhäuser, lauschigen Gässchen und urigen Kneipen sind auch die Heimat der Schriftsteller Romain Rolland und Claude Tillier. Während Tillier mit dem klassischen französischen Schelmenroman derb-heiterer Art „Mein Onkel Benjamin“ die Welt zum Lachen brachte, setzte sich der Literatur-Nobelpreisträger Rolland während des Ersten und Zweiten Weltkriegs vehement für Frieden und Völkerverständigung ein.

Etliche Kilometer weiter, in Pousseaux, spannt sich eine handbetriebene Hebebrücke über den Kanal. An eine Durchfahrt ist nicht zu denken. Unter der betagten Stahlkonstruktion passt der gecharterte Binnenkreuzer nie und nimmer durch. Was also tun? Warten? Eigentlich kein Problem. Doch auf wen? Weit und breit ist niemand zu sehen. Es gibt kein Wärterhäuschen, keinen Hinweis auf eine Telefonnummer, nur ein Schild, auf dem bei der eigenmächtigen Bedienung der Brückenkurbel saftige Strafen angedroht werden. „Wir müssen warten“, beschließt Robert. Skippers Wort ist Gesetz. Also erst mal entspannen. Und der Dinge harren, die da kommen. 15 Minuten, 20 Minuten ... Nach einer halben Stunde schließlich kommt ein Boot aus entgegengesetzter Richtung. Na, mal schauen, was dessen Käpt’n so macht. Er legt an, springt raus und kurbelt! Ja, wie jetzt? Ist doch verboten. Doch die Brücke ist jetzt oben. „Fahrt durch“, ruft er den Teutonen zu. Na dann.

Punkt 19 Uhr machen die Schleusenwärter am Kanal Feierabend. Wie es der Klabautermann will, erreicht Skipper Robert die Schleuse von Châtel-Censoir ein paar Minuten später als geplant. Zu spät. „Rien ne va plus“, sagt Robert und zuckt resigniert mit den Schultern. „Da geht nix mehr. Also bleiben wir die Nacht hier in der Marina.“ Gut, aber wo bekommt man jetzt noch was zu essen? „Fünf Kilometer weiter gibt es eine gute Rôtisserie“, empfiehlt ein Einheimischer, der in der Marina rumwurstelt. Er bestellt auch gleich ein Taxi und wünscht schon mal guten Appetit.

Nach ein paar flott gefahrenen Kurven entlang schroffer Felsen ist ein rustikaler Gasthof erreicht. Ein Kaminfeuer prasselt, an den Wänden hängen Fotos von Bergsteigern. „Bonsoir! Was darf es sein?“ Ah, der Koch persönlich. Rasch rasselt er die kleine Speisekarte runter. „Es gibt Forelle, Bressehuhn und Charolais-Rind.“ Bootfahren strengt an. Rind, bitte. „Gute Wahl“, kommentieren die drei Männer am Nachbartisch unsere Order. Sie sind Felskletterer, kommen aus Paris und frönen hier in den schroffen Felsen der Rochers du Saussois ihrem waghalsigen Sport.

Ein besonders begeisterter Anhänger der Burgunder Kanalschifffahrt war der französische Schriftsteller Stendal. „Man sieht das Land besser als von der Postkutsche aus“, schwärmte er vor rund 200 Jahren. Und so ist es auch im automobilen Zeitalter noch – vorausgesetzt, man hat Zeit. Daran mangelt es bei Robert und seinem Gast nicht. Sie lassen es sich also nicht nehmen, ohne Termindruck und Hektik durch die verschlafenen Gassen des hoch auf einem Felsvorsprung über der Yonne thronenden Mailly-le-Château zu schlendern. Sie lassen sich die frischen Forellen vom Fischzüchter Monsieur Pageaud bei Prégilbert schmecken, durchstreifen das bildhübsche Wehrdörfchen Cravant an der Mündung der Cure in die Yonne, biegen in den Fluss ein und steuern dann in aller Ruhe Bailly an.

Wälder und Weinberge bilden nun die Kulisse, bis der „Parkplatz“ in Bailly erreicht ist. Jetzt nur noch die Böschung erklimmen – schon ist der Fuß des Col du Crémant erreicht. Hinter dem klangvollen Namen verbirgt sich ein rund 200 Meter hoher Kalksteinklotz, dessen Höhlensystem der regionalen Winzergenossenschaft Bailly Lapierre als Lagerstätte dient. In vier Hektar Gewölbefläche ruhen rund fünf Millionen Flaschen. Welch ein Schatz! Am Eingang darf jeder winzige Mengen verkosten – und später natürlich so viele Flaschen kaufen, wie er mag. Das Boot ist für die Nacht gut vertäut, da darf es mal ein Gläschen sein. In dieser Region wachsen übrigens nicht nur exzellente Rotweine, sondern hier im Nordwesten Burgunds versteht man sich auch auf traumhafte Crémants, jene Schaumweine also, die nicht aus der Champagne stammen.

Das Ende der Bootstour kommt viel zu schnell. Anderntags Punkt 9 Uhr ist die Schleuse von Bailly passiert. Herrliche Châteaus und Herrenhäuser rücken noch einmal ins Bild, die ehemaligen Treidelpfade sind jetzt asphaltierte Radwege, und über die Brücken rauscht der Autoverkehr. Fünf Schleusen weiter: die 38 000-Einwohner-Stadt Auxerre. Nach 170 Kanalkilometern und 110 Schleusen ist Robert am Ziel. Der Gast bummelt noch durch das Labyrinth der Fachwerkaltstadt, staunt über Saint-Étienne, die wohl bekannteste gotische Kathedrale Burgunds, und steigt dann am Tour de l’Horloge, am Uhrenturm, ins Taxi. „Villiers-sur-Yonne?“, fragt der Fahrer. Der Gast macht große Augen und erinnert sich dann lächelnd: „Non, non! Diesmal nur zum Bahnhof, zum Zug nach Paris.“

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TIPPS

ANREISE

Am schnellsten geht es per Flug nach Paris, dann weiter mit dem Zug ( 90 Minuten) bis Auxerre-St-Gervais. Die Bahn fährt ab Berlin über Köln oder Mannheim und Paris gut elf Stunden. Etwa die gleiche Zeit wird man mit dem Auto auf der rund 1200 Kilometer langen Strecke unterwegs sein.

CANAL DU NIVERNAIS

Der Kanal ist 174 Kiolometer lang, weist 110 Schleusen auf und ist von Ende März bis Anfang November geöffnet. Für Boote unter 20 Tonnen beträgt die Höchstgeschwindigkeit acht Stundenkilometer. Zu den spektakulärsten Bauten zählen die Tunnel von La Collancelle (758 Meter lang), von Mouas (268 Meter) und Breuilles (212 Meter), die Schleusentreppe im Tal von Sardy (16 Schleusen auf drei Kilometern) sowie das Aquädukt von Montreuillon (33 Meter hoch, 145 Meter lang).

CHARTER

Das Charterunternehmen France Fluvial liegt etwa eine Dreiviertel-Autostunde von Auxerre entfernt im Hafen von Vermenton (Taxi: 75 Euro). Das kleinste Boot (Burgundy 900) kostet zwischen 650 und 1185 Euro, je nach Saison. Das größte Boot (Euroclassic 149 für acht Personen) schlägt mit 2510 bis 3600 Euro zu Buche. Es gibt auch noch andere Bootstypen, die preislich ähnlich liegen. Zur Miete kommen Kosten für Treibstoff und Endreinigung. Außerdem ist eine Kaution zu hinterlegen. Bootsführerschein nicht nötig.

AUSKUNFT

France Fluvial (1 Quai du Port, Vermenton; Telefon: 00 33 / 3 / 8 6 81 54 5 5, Internet: www.francefluvial.com)

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