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Auf Augenhöhe. Von diesem Wochenende an können Besucher die Kunst in der Whitworth Art Gallery wieder betrachten. In der Mitte: Bilder von L. S. Lowry mit den typischen Streichholzmännchen.

© Alan Williams/Visit Manchester

Manchester: Eine Stadt sieht Rot

Manchester galt als düsteres Aschenputtel. Nun mausert es sich zum Kulturspot des Nordens. Alles ist in Labour-Hand, und Fußball macht stolz.

Wer Manchester hört, denkt meistens nur an das eine: Fußball, Fußball, und noch mal Fußball. Für ein Match ist den Begeisterten keine Anreise zu weit, wer keine Karte ergattert, tröstet sich mit einem Besuch des National-Football-Museums, das mitten im Zentrum in einem rasanten Neubau untergebracht ist und sogar einen Picasso hat. Demnächst dürfen eingefleischte Fans selbst nachts unter sich bleiben und toben und tröten so laut sie wollen: wenn im März das Hotel Football – mit Blick aufs Stadion, versteht sich – eröffnet, das früheren Football-Stars gehört und „das ultimative Fan-Erlebnis“ verspricht. Cheers!

Das allerdings ist nicht der Grund, warum die „New York Times“ die Stadt, in der Marx und Engels den Kapitalismus in seiner krassesten Form studierten, gerade zu einem der Ziele erklärt, die man 2015 unbedingt besuchen sollte. Nein, die große Anziehungskraft heißt jetzt: Kultur. Schon 2002 hat Daniel Libeskind mit dem Imperial War Museum North eines seiner spektakulären, zackigen Gebäude an die alten Docks gestellt; nach einer 48-Millionen-Pfund-Renovierung wurde die Central Library, ein prächtiger Rundbau, im Frühjahr 2014 wiedereröffnet.

Im Herbst folgte das Haus der Schriftstellerin Elizabeth Gaskell, das nun Museum ist und als solches wegen seines gelungenen Konzepts gefeiert wurde. Nicht zuletzt vom „Guardian“, der früher das Wort Manchester im Namen trug und auch seinen Redaktionssitz hier hatte. Bis die Zeitung 1964 ein weiteres Opfer des britischen Zentralismus wurde und nach London umzog, der ungeliebte Norden noch tiefer in der Bedeutungslosigkeit versank.

"Cottonopolis" wird zur Kulturhauptstadt

Manchester, „die Stadt, in der die moderne Welt erfunden wurde“, wie das Museum of Science and Industry, kurz Mosi genannt, selbstbewusst erklärt, hat im vergangenen Jahrhundert viele Tiefen durchgemacht. Jetzt aber scheint sie wieder aufzublühen. Das Zentrum ist eine große, hämmernde Baustelle, neue Hotels und Restaurants werden eröffnet, glitzernde Bürohäuser gebaut– kurz: Das alte „Cottonopolis“ entwickelt sich zur Kulturhauptstadt des Nordens.

Ehrwürdig. Die Whitworth Art Gallery, alt und neu.
Ehrwürdig. Die Whitworth Art Gallery, alt und neu.

© Alan Williams, Visit Manchester

An diesem Wochenende steht ein weiteres Highlight an: die Eröffnung der renovierten Whitworth Art Gallery. 15 Millionen Pfund wurden in den Um- und Anbau des Museums gesteckt. Der alte viktorianische Kasten war ursprünglich das Geschenk eines reichen Mannes, ein nicht ganz uneigennütziges. Der Textilfabrikant wollte, dass seine Designer sich hier Inspirationen für neue Stoffmuster holen. Heute gehört es zur Universität.

Die dynamische Direktorin Maria Balshaw – promovierte Kunsthistorikerin, Mutter von vier Kindern, Mitglied des British Arts Councils, eine treibende Kraft des Creativetourism-Konzepts und mittlerweile auch noch Leiterin der Manchester Art Gallery – hat frischen Wind in die alte Institution gebracht und die Besucherzahlen verdoppelt. Nicht mit anbiedernden Blockbustern, sondern mit einem hochkarätigen internationalen Programm, einer lebendigen Mischung aus historischen und zeitgenössischen Ausstellungen. Dabei weiß sie die Schätze aus dem eigenen Haus, wie Landschaftsmalerei, Stoff und Tapeten, interessant darzubieten.

Irgendetwas stimmt hier nicht

Mit dem Umbau durch das Architekturbüro Muma wird sich das Museum noch weiter öffnen. Ökofreundlich, bezieht es seine Wärme doch aus der Erde, und besucherfreundlich: mit sehr viel mehr öffentlicher Fläche und Tageslicht. Die zwei neuen Flügel schieben sich wie Riegel in den dahinterliegenden öffentlichen Park. Vor allem das Café im ersten Stock, eine gläserne Passage, in der man zwischen den Bäumen sitzt, wird vermutlich einen Ansturm erleben. Aber auch das Study Center, nicht wie üblich versteckt, sondern im Erdgeschoss gelegen und ebenfalls mit großen Fenstern ausgestattet, soll möglichst viele Menschen einladen, sich in einzelne Werke zu vertiefen.

Manchester ist keine Stadt, in die man sich leicht verliebt – Hass auf den ersten Blick scheint ein weiter verbreitetes Phänomen zu sein. So wie bei einem gewissen A. J. P. Taylor, der die Stadt 1957 als „hoffnungslos hässlich“ beschrieb. Noch heute herrscht ein wüstes Kuddelmuddel an alt und neu, hässlich, aufregend, schön und banal. Architektonisch schert sich hier niemand um seinen Nachbarn. Bei aller Faszination für einzelne Bauten, wird man das Gefühl nicht los: Irgendetwas stimmt hier nicht.

Was das ist, merkt man erst nach einer Weile, vielleicht erst beim Besuch des Whitworth mit seinem Parkanschluss: Es ist das Grün, das einem fehlt. Wer durch Manchester streift, sieht Rot. Überall rotes Backsteingemäuer (das früher sogar schwarz war vor lauter Dreck), mächtige Bauten, in denen die einst boomende Baumwollindustrie residierte.

Einkaufen ist Religion

Die viktorianische Architektur ist ohnehin nicht gerade für Leichtigkeit und Eleganz bekannt, aber hier wurden im Akkord gigantische Kästen aufgestellt. Oft ohne Architekten, wie Karl Friedrich Schinkel monierte: „monströse, formlose Gebäude“. Von denen viele heute attraktiver wirken als zu ihrer Entstehungszeit, bekommen sie doch, von außen gesäubert, ein modernes Innenleben, werden zu Hotels, Wohnungen, Bars und Läden umfunktioniert.

Kunst am Bau im Northern Quarter.
Kunst am Bau im Northern Quarter.

© VB

Das Einkaufen scheint hier eine Art Religion zu sein. Ein Teil der Innenstadt wurde 1996 von IRA-Bomben zerfetzt und dann durch Shoppingtempel ersetzt. Origineller als die großen Kaufhausketten sind die Lädchen im quirligen Northern Quarter. In kleinen alten Häusern reihen sich Geschäfte, Restaurants, Bars und Cafés aneinander, in der alten Fischmarkthalle residiert heute das Arts-&- Crafts-Zentrum. Nicht nur am Wochenende brummt es hier.

Im ewigen Konkurrenzkampf mit dem nahe gelegenen Liverpool, wird Manchester einen Vorteil nie aufholen können: Die Stadt der Beatles liegt direkt am Meer. Aber auch Manchester hat inzwischen seine Lage an Flüssen und Kanälen entdeckt, die im 19. Jahrhundert reine Kloaken waren, von Friedrich Engels aufs Anschaulichste beschrieben.

Lowry war kein Shoppaholic

Bunte Kuchen, very british
Bunte Kuchen, very british

© VisitEngland

An den Salford Quays zum Beispiel – weiter draußen, aber mit der Straßenbahn, deren Netz forsch ausgebaut wird, leicht zu erreichen – ist ein ganzes neues Viertel entstanden, mit dem Imperial War Museum und hohen Apartmenthäusern mit Aussicht, weit erschwinglicher als alles Vergleichbare in London. In der „Media City“ hat sich die BBC mit großen Studios angesiedelt, und 2000 wurde „The Lowry“ eröffnet, ein Kulturzentrum mit mehreren Bühnen und Ausstellungshallen. Ein postmoderner Bau, mit poppigen Farben, nicht zu verwechseln mit dem Fünf-Sterne-Hotel „Lowry“, dem ersten Manchesters, oder dem gleichnamigen Outletcenter.

Dabei war L. S. Lowry (1887–1976), dem eine große, lohnenswerte Dauerausstellung in dem Kulturzentrum gewidmet ist, alles andere als ein Shoppaholic. Eher ein Eigenbrötler, hatte der Künstler nicht einmal Lust, sich von der Queen zum Ritter schlagen zu lassen, lehnte auch alle anderen königlichen Ehren hartnäckig ab.

Spätestens seit die Londoner Tate Gallery ihm, dessen Werke heute bei Auktionen Millionenbeträge erzielen, 2013 eine große Ausstellung widmete, ist er im ganzen Land bekannt. Lowry selbst hielt sich für einen Versager, das hatte ihm die Mutter erfolgreich eingebläut, die er bis zu ihrem Tode pflegte. Eine Freundin hat er nie gehabt. Aber er kam viel herum. Auch als er ein bekannter Künstler war, behielt er seinen Job, kassierte in armen Vierteln persönlich die Miete ein. Dort durch die Straßen zu gehen, bezeichnete er als seine Lieblingsbeschäftigung.

Mit Witz und Ironie

Wenn er selbst nicht so einsam gewesen wäre, meinte er einmal, hätte er nicht sehen können, was er sah und dann malte: die Einsamkeit der Menschen, oft in der Masse. Auf seinen Bilder sind immer Menschen im Strichmännchenformat zu sehen, häufig vor Fabriken. Nur aus der Ferne sehen die Figuren niedlich aus. Sie gehen und gehen, von hier nach dort, leicht nach vorn gebeugt, als müssten sie sich gegen den Wind und das Leben stemmen.

Natürlich war auch Lowry Fußballfan (von Manchester City), eines seiner berühmtesten Werke zeigt Menschen auf dem Weg ins Stadion. Dass sie das früher überhaupt am Wochenende machen konnten, ja, dass der Fußball dann eine solche Bedeutung bekommen konnte, lag daran, dass die Arbeiter in Manchester in den 1860er Jahren am Samstagnachmittag freibekamen. So was hatte es in England bis dahin nicht gegeben.

Wer mehr über die Geschichte des Arbeiterkampfes erfahren möchte, dem sei das „People’s Museum“ ans Herz gelegt. Es erzählt, überaus anschaulich und lebendig, die Kehrseite der industriellen Revolution, wie sie im Mosi gefeiert wird. Da ist auch mal die Rede davon, dass die lukrative Baumwolle von Sklaven in Amerika gepflückt wurde. Hier geht es um den Kampf gegen Unrecht und Ungleichheit, die starke radikale Tradition Manchesters und seine Sufragettenbewegung. („Die am wenigsten aristokratische Stadt Großbritanniens“ ist übrigens noch heute fest in Labour-Hand.)

Die Ausstellung mag plakativ sein, aber sie ist es mit Witz und Ironie. Dass rund um das Museum des Volkes luxuriöse Bauten hochgezogen werden, gleich um die Ecke der neue Armani Flagship Store liegt, ist dann wieder von anderer Ironie.

Da kann man richtig neidisch werden

Erschöpft? Dann empfiehlt sich ein Besuch im „Proper Tea“ gleich vis-à-vis der Kathedrale, ein moderner Tearoom mit Vintage-Flair, selbst gebackenen Kuchen und Scones und einer Vielfalt loser Tees (die in Großbritannien längst nicht so verbreitet sind, wie viele glauben).

Schnell wie ein Schießgewehr: der Guide Jonathan Schofield
Schnell wie ein Schießgewehr: der Guide Jonathan Schofield

© Susanne Kippenberger

Oder man setzt sich auf einen der modernen Ohrensessel ins „Wohnzimmer der Stadt“, wie die Central Library sich heute, durchaus zutreffend, nennt. Als Berliner kann man da richtig neidisch werden. Selbst wer nicht in der Stimmung ist zu lesen, wird auf Interessantes stoßen: Im Foyer erzählt eine interaktive Ausstellung von der Geschichte der Stadt, man kann sogar historische Postkarten per E-Mail verschicken.

Gar nicht pittoresk war einst Little Ireland, in dem die Menschen in Kellern zusammengepfercht hausten. Davon erzählt Jonathan Schofield, so schnell wie ein Schießgewehr. Wie die Stadt, durch die er so gerne führt, hat er sich immer wieder neu erfunden. Als junger Mann hat er Jura studiert, das hat ihm keinen Spaß gemacht, also fing er an, Reiseführer zu schreiben, selber Spaziergänge anzubieten, gründete ein Online-Magazin.

Gleich um die Ecke führt er zur Baustelle von „Home“, der nächsten Attraktion, die im Mai eröffnet: ein avantgardistisches, internationales Kulturzentrum, mit etlichen Kinos und Bühnen, das auch selber Produktionen in Auftrag gibt. Rundherum entstehen neue Wohnheime – 85 000 bis 100 000 Studenten soll die Stadt haben, so Jonathan Schofield, von denen man erstaunlich wenig sieht.

Der Neubau quetscht sich ziemlich eng an die alten Bahnbögen, dafür werden die auch gleich mitgenutzt: für das pädagogische Programm – und als Picknickplätze im Trockenen. Denn mit Regen muss in Manchester immer gerechnet werden. Das ideale Wetter für Kultur.

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