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Blick auf Stettin mit Schloss und Hafen. Die Zukunftspläne der deutsch-polnischen Grenzstadt sind riesig. Und der Blick geht gen Berlin.

© Ulrike von Leszczynski, dpa

Polen: Westpommern: Die historische Lücke

Stettin – eine noch immer schwer gezeichnete Stadt blickt zurück in die Zukunft.

Prahlt der Warschauer vor dem Stettiner: „Wir haben alles – ein Fußballstadion, Flughafen, Hochhäuser, Einkaufscenter, Theater, Nachtleben. Und? Was habt ihr in Stettin?“ „Wir brauchen das nicht“, erwidert der Stettiner, „wir fahren nach Berlin.“ Dariusz Was, stellvertretender Stadtpräsident von Stettin, erzählt diese Anekdote nicht ohne Grund.

Eine Stadt- und Hafenrundfahrt zeigt die im Zweiten Weltkrieg stark zerstörte mehr als 700 Jahre alte Hansestadt mit ihren Sonnen- und ihren Schattenseiten: das über dem Steilhang der Oder aufragende wiedererrichtete Schloss der Pommerschen Herzöge, die backsteingotische Jakobskathedrale, das Pariser Viertel mit seinen Gründerzeithäusern und Jugendstilvillen, moderne Shopping Center, Wiederaufbau in der Bauhaustradition neben kriegsbedingten Baulücken, sanierungsbedürftige historische Häuserzeilen, die Haken-Terrassen mit Rundblick über eine marode wirkende Hafenlandschaft mit Kränen und Speichern.

Anders als das um seine prächtige Altstadt wieder aufblühende Breslau wirkt Stettin unfertig und fragmentarisch, in Stücke gerissen von Krieg und Verkehrsschneisen. 2009 musste die traditionsreiche Werft, einst mit mehr als 10 000 Beschäftigten eine der größten der Welt, Konkurs anmelden. Eine Tragödie für die Stadt und ihre Helden, denn 1970 und 1980 hatten die Stettiner Werftarbeiter für ein besseres Leben gestreikt, Reformen bewirkt und in „Solidarität“ mit ihren Danziger Kollegen die ersten Risse in den Ostblock gesprengt.

Vom Hafen geht es mit dem Schiff in die überwältigend schöne und weitgehend unberührte Naturlandschaft des Stettiner Haffs – ein Archipel grüner Inseln in einem sich weitenden See, Vogelschwärme steigen auf, in der Ferne kreist ein Seeadler. Stettin träumt davon, seine Hafen- und Naturlandschaft in eine Hafen-City und einen „schwimmenden Garten“ zu verwandeln, sich als pommersche Metropole neu zu erfinden. „Wir atmen nur auf einem Lungenflügel“, hatte der Stettiner Stadtpräsident Piotr Krzystek 2011 bei einem Besuch in Berlin erklärt. Warschau sei weit und Stettin in Polens Randlage nur entwicklungsfähig, wenn es als regionale Metropole auch über die Grenze ausstrahle.

Es ist ein schwieriger Weg nach jahrzehntelanger Abschottung und einer 700-jährigen Lücke im Geschichtsbewusstsein. „Eine solche historische Lücke ist unerträglich“, sagt Robert Ryss, Redakteur der regionalen „Gazeta Chojenska“, „in ihr lassen sich keine Wurzeln schlagen.“ Deshalb wächst das Interesse an der deutschen Geschichte der Region. Vereine, Verleger, Journalisten, Theaterleute und Internetportale wie der „Szczeciner“ sind auf Spurensuche. Alles findet Interesse: bauliche Zeugnisse, deutsche und jüdische Grabsteine, Ansichtskarten aus der Vorkriegszeit, Zeitungen, die sich beim Renovieren alter Häuser finden, persönliche Berichte von Polen und Deutschen über ihre Vertreibung. „Hier ereignen sich ganz spontan Dinge“, sagt Ryss, „an die noch vor wenigen Jahren Politiker in Warschau und Berlin nicht einmal zu denken gewagt hätten.“

Die Gesellschaft „Terra Incognita“ erforscht die deutsche, jüdische und polnische Regionalgeschichte. Historische Quellen werden übersetzt. In den Buchhandlungen finden sich Bücher, die sich der Geschichte vor dem Zweiten Weltkrieg zuwenden. Einem Palimpsest gleich erscheint unter dem Nachkriegstext eine andere Geschichte. Obwohl die Geschichte anderer, wird sie durch die Grenzlandbewohner „immer häufiger als ihre eigene betrachtet“, beobachtet der Journalist und erhofft sich aus der Aneignung der kulturellen Erbschaft eine neue Identität und eine „Rückkehr von Normalität in die über tausendjährige deutsch-polnische Nachbarschaft“.

Alle Wege Stettins führen über Berlin

Monumental. Denkmal für Eisenbahner vor dem Stettiner Bahnhof.
Monumental. Denkmal für Eisenbahner vor dem Stettiner Bahnhof.

© Horvath

Persönlichkeiten aus Stettins Vergangenheit werden heute gewürdigt: der Komponist Carl Loewe, der Mathematiker Hermann Grassmann, der Theologe Dietrich Bonhoeffer, der Bildhauer Bernhard Heiliger und der Stadtbaumeister James Hobrecht. Bei der Restaurierung von Baudenkmälern werden deutsche Inschriften wiederhergestellt. Auf dem Stettiner Hauptfriedhof wurde eine Kopie von Ernst Barlachs „Mutter Erde“ an historischem Ort feierlich enthüllt, unweit eines Lapidariums aus der Vorkriegszeit erhaltener Grabsteine, der „Gedenkstätte ehemaliger Stettiner“.

Während die Polen ihre Terra incognita entdecken, ist für viele Deutsche das Grenzland jenseits von Oder und Neiße Niemandsland. Es ist nicht nur Desinteresse, das den Blick nach Osten verstellt. Es ist auch Scheu vor dem Blick in den Abgrund deutscher Geschichte. Ein offener Blick nach Berlins nächstgelegener Großstadt aber lohnt sich. Wie Berlin erlebt Stettin ein neues Zeitalter. Die Ära der traditionellen Schwer- und Hafenindustrie, die beide Städte im 19. Jahrhundert zu Schwesterstädten machte, ist vergangen. Industrie- und Hafenflächen liegen brach.

In Stettin bieten Baudenkmale wie Schlachthof, Speicher, Lager- und Fabrikgebäude mit ihrer historischen Aura die Möglichkeit einer Hafen-City, die „das Herz der Stadt am Wasser“ schlagen lässt. Leer gefallene Industrieareale werden zu Spielräumen von Pionieren der Kreativwirtschaft – Vorboten einer neuen Produktivität des digitalen Zeitalters. Die gegenüber der Altstadt und den Haken-Terrassen gelegene Halbinsel Lasztownia (Lastadie), seit dem 13. Jahrhundert Umschlagplatz des Hafens, ist mit Festivals und Konzerten auf dem Gelände des Alten Schlachthofs zum Ort der Kulturlandschaft geworden.

Kultur zeigt sich auch in der Wertschätzung des architektonischen Erbes, historischer Quartiere und der Stadt- und Hafensilhouette. Die gründerzeitliche Mittelstadt mit dem Rondell des heutigen Grunwald-Platzes, geprägt durch Boulevards, Promenaden, Sternplätze, Häuserblocks und dekorative Fassaden, wird als Erbe gepflegt. Sie verbindet Stettin und Berlin durch die Handschrift des Stadtbaumeisters James Hobrecht, der 1861 nach Fertigstellung des Berliner „Hobrecht-Plans“ als Stadtbaurat nach Stettin ging.

Die belebende Wirkung der Stadtentwicklung durch Kultur und Wissenschaft ist beiden Städten gemeinsam. In Stettin lernen und forschen 60 000 Studenten in 18 öffentlichen und privaten Hochschulen. Spektakulär der Neubau der Philharmonie an Stelle der kriegszerstörten Konzerthalle: Architekten aus Barcelona gewannen den Wettbewerb mit einer avantgardistischen Kathedrale der Musik, das Innere ein großräumiger Klangkörper, das expressive Äußere ein weißer Kristall aus himmelwärts ragenden Spitzen – neues Wahrzeichen der aufstrebenden Stadt.

Alle Wege Stettins führen über Berlin, auch wenn die Bahnverbindung heute schlechter ist als vor dem Zweiten Weltkrieg. Was sich allerdings bis 2020 ändern soll, wenn man nur 90 statt wie heute 120 Minuten auf der Schiene benötigen soll. Nach Warschau, Posen, Breslau und Kattowitz geht die Autofahrt am schnellsten und sichersten über den Berliner Ring. „Sagen Sie dem Stettiner Taxifahrer: zum Flugplatz!, antwortet der: Tegel oder Schönefeld?“, sagt Stettins Stadtpräsident.

Der Willy-Brandt-Flughafen wird irgendwann neben dem Chopin-Flughafen Warschau der zweite internationale Großflughafen Polens sein. Seine Anziehungskraft wird den deutsch-polnischen Verkehrsstrecken zu größerer Aufmerksamkeit verhelfen und so die Bindungen zwischen den Ländern weiter festigen.

Auskunft: Polnisches Fremdenverkehrsamt, Kurfürstendamm 71, 10709 Berlin; Telefon: 030 / 210 09 20; www.polen.travel

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