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Atlantiksegler verewigen sich traditionsgemäß mit bunten Bildern an der Kaimauer von Horta auf der Azoreninsel Faial.

© Uli Schulte Döinghaus

Portugals neun Perlen im Atlantik: In der Kinderstube des Wetters

Eben noch Sonne, dann schwarze Regenwolken: Die Azoren überraschen nicht nur durchs Klima. Bis heute prägen Vulkane die Insellandschaften.

Julia hat’s eilig. Die rötlichblonde 15-Jährige mit dem vielfach geringelten Schal um den Hals will raus aus der Kneipe, raus aus dem Peter Café Sport und hin zur Kaimauer. „Wir malen gleich was drauf“, sagt sie – und ist weg. Auf der Kaimauer von Horta auf der Azoreninsel Faial verewigen sich nämlich alle Segler, die den Atlantik überquert oder umrundet haben, und zu ihnen gehören Julia, ihre 19 Mitschüler, vier Lehrer und die vier Besatzungsmitglieder der „Johan Smidt“, eines Zweimasters aus Bremen, den man zurzeit auch ein „segelndes Klassenzimmer“ nennen könnte.

Schülerinnen und Schüler sind während der 11. gymnasialen Jahrgangsstufe im Rahmen einer „High Seas High School“ rund acht Monate auf dem Atlantik unterwegs, perfektionieren ihre Segelkenntnisse und büffeln dabei auch ganz normalen Schulstoff. Zum Kunstunterricht gehört es, eine Tafel für die Kaimauer von Horta zu entwerfen und aufzupinseln, bevor es zurück in die Heimat geht.

Wer nicht weiß, was Fernweh ist, der lernt es spätestens an der buntbemalten Hafenmauer. Hunderte von Seglern haben hier Namen, Schiffsnamen, Routen, Heimatorte und Reiseabenteuer aufgezeichnet, teils patriotisch korrekt mit Flagge, teils ironisch verspielt oder geografisch ambitioniert. Einzige Regel: Wenn Regen und Wind einen Eintrag unkenntlich gemacht haben, darf er mit einem neuen Gemälde überstrichen werden. Das Wandgemälde der „Great American II“ etwa, über dem das Gebäude des historischen Jesuitenkollegs in der Ferne zu erkennen ist, könnte bald so ein Kandidat werden.

Nebenan, im Hafenbecken von Horta, ankert die „F-471“, ein reichlich angegammeltes Patrouillenboot der portugiesischen Kriegsmarine, gebaut bei Blohm & Voss in Hamburg. Das wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn das Schiff nicht an heftigere Zeiten auf den Azoren erinnerte, speziell auf der Azoreninsel Faial. Horta, eine wichtige Relaisstation für transatlantische Überseekabel, war Tummelplatz für Agenten, die sich im Café International gegenseitig ausspionierten, wie ein aufgeregter Reporter vor knapp 75 Jahren in der „Pittsburgh Press“ schrieb.

Während des Zweiten Weltkriegs belauerten sich deutsche und alliierte Unterseeboote vor dem Hafen von Horta. Auch im „Kalten Krieg“ soll es Beinahe-Begegnungen zwischen amerikanischen und sowjetischen Unterseebooten gegeben haben. Vielleicht rückte die „F-471“ an, als es nach der Nelkenrevolution auf den Azoren zu „Los-von-Portugal“-Bestrebungen kam und der Wunsch aufkeimte, in die USA aufgenommen zu werden. Doch in Washington denkt bis heute niemand daran, auch wenn auf manche Stadtmauern auf den Azoren die Parolen einer FLA-Befreiungsbewegung gepinselt sind, die das Archipel zum US-Territorium machen wollte.

Heute sind die Zeiten ziviler, aber nicht weniger irritierend. Die hübsche Hafenstadt Horta, Hauptstadt der Insel Faial, ist Ausgangspunkt für Visiten zum Inbegriff der Unwirtlichkeit, dem „Vulcão dos Capelinhos“ im äußersten Westen der Insel. Der Vulkan brach hier 1957 mehr als ein Jahr lang immer wieder aus, überschüttete die Inselspitze mit Glut, Gestein und Asche und hinterließ bis heute eine wüstenartige Geisterlandschaft. Kahl, zur Formlosigkeit konturiert, geprägt von einem tief dunklen Grau, gegen das der Atlantik in hohen Gischtwellen schlägt. Der Vulkanausbruch veränderte alles.

Nachdem sich die Bewohner rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten, wurde ein komplettes Walfängerdorf bis zu den Dachfirsten mit Lavaasche und -steinen bedeckt. Reste der Bebauung sind überall zu entdecken. Zwischen zerborstenen Dachsteinen und verschütteten Hausmauern ist Pflanzenwuchs bis heute selten geblieben, manchmal kämpft sich eine Art Strandhafer durch oder „wilder Ingwer“, den sie auf den Azoreninseln als eine Landplage bezeichnen, weil er anderen Pflanzen die Nährstoffe nimmt.

„Wie Sie sehen, sehen Sie nichts“

Fein ummauert. Die Weingärten gilt es vor dem Atlantikwind zu schützen.
Fein ummauert. Die Weingärten gilt es vor dem Atlantikwind zu schützen.

© Uli Schulte Döinghaus

Wer mehr über die Verwüstungen des „Vulcão dos Capelinhos“ wissen will, der kann sich entweder im Besucherzentrum schlaumachen oder mit ein wenig Mut auf eine Anhöhe klettern, auf der Ruinen einer ehemaligen Walfangbeobachterstation verstreut sind. Von hier oben wurden die ersten Anzeichen eines Vulkanausbruchs im Meer beobachtet. Kann gut sein, dass José Suarez da Cunha sie damals zunächst für Wale hielt, die mächtig Blas ausstießen. Wenige Klettermeter weiter ist Schwindelfreiheit gefragt – ein paar Dutzend Meter geht’s schroffkantig hinab bis zum Meer, das sich haushoch an der Steilküste bricht und fast den Blick auf den historischen Leuchtturm an der Küstenkante vernebelt.

„Meine Damen und Herren, wie Sie sehen, sehen Sie nichts“, das dürfte eine der ersten Witzeleien sein, die einheimische Fremdenführer in ihr Repertoire einbauen, wenn sie es mit deutschen Touristen zu tun haben und wenn sich der Pico, mit 2351 Metern zugleich der höchste Berg Portugals, mal wieder im Dunst verbirgt. Die Azoren geben sich wie ein wetterexperimentelles Testlabor, wie eine Kinderstube des Wetters, das sich hier ausprobiert, bevor es in Europa oder Amerika erwachsen wird. Zu allen Jahreszeiten wechselt das Wetter quasi im Viertelstundentakt. Kaum ist die Sonne durchgebrochen, legen sich sattschwarze Regenwolken davor, und kaum hat eine Sturmböe sie weggepeitscht, ermattet die Landschaft zur Unentschlossenheit eines grauen und windstillen Kontinentalnovember. „Das Wetter ist wie meine Ex-Frau, etwas instabil“, kommentiert ein Tourismusmanager.

Die Launen des Wetters bescheren den Inseln aber auch ein Mikroklima, das unterschiedlichsten Pflanzen einen gedeihlichen Lebensraum gibt; innerhalb der EU-Grenzen sind die Azoren die einzige Region, in der Tee angepflanzt wird. „Chá Preto Pekoe“ heißt eine Sorte, die als Chá (Tee) Gorreana an der Nordküste der größten Azoreninsel São Miguel direkt am Meer wächst und in einer Art Museumsfabrik ausführlich erklärt wird. Wem das zu langweilig ist, kann das Licht- und Schattenspiel genießen, das Sonne und Wolken im raschen Wechsel der Terrassenstruktur der Plantage geben. Der Tee, der anschließend verköstigt wird, könnte ein bisschen heißer sein.

Auch Ananas wachsen auf den Azoren, freilich im Gewächshaus. Ende Mai, Anfang Juni und bis in den Juli hinein blühen Azaleen, Hortensien und Kamelien um die Wette und locken – ahh!, ohh! – Wanderer aus Mittel- und Nordeuropa in Scharen an. Die meisten Blumen, Büsche und Bäume sind importierte Pflanzen, indigene, also einheimische Gewächse sind selten, ihre Zahl wird auf unter hundert Sorten geschätzt.

Wahrscheinlich haben die ersten Kolonisten nichts als Asche, Gras und Steine vorgefunden, als sie sich Mitte des 15. Jahrhunderts niederließen und unverzagt zu buddeln, zu pflanzen und zu säen begannen. Heute ist die azorische Fauna üppig und bisweilen auch ein Statussymbol. Augusto Rebelo Arruda (1888–1964) zum Beispiel, ein bedeutender Farmer, stattete seine Ananasplantage auf der Azoreninsel St. Miguel mit einem heute überwucherten, verwilderten und verbotenen Park aus, in den man sich hineinschleichen sollte, um alten Wohlstand zu bestaunen, um Frösche quaken, Vögel zwitschern, Blattwerk rauschen und Köter kläffen zu hören.

Die Hundezwinger werden überragt von zweistöckigen Häusern, die sich von Villen in Festlandportugal nicht weiter unterschieden, wären sie nicht vom azorentypischen Weiß und Schwarz geprägt. Vom Weiß des üblichen Hausanstrichs heben sich die Fenster- und Türrahmen ab, die aus dunklem Basalt gefertigt sind, einem vulkanischen Gestein, das auf den Vulkaninseln der Azoren überreichlich vorkommt. Basaltschwarz und Blendendweiß prägen auch die Hauptstadt Ponta Delgada; ein Spaziergang durch die Altstadt ist, als betrete man die unterschiedlichsten Varianten von geschlängelten Zebrastreifen.

Der Begriff „Teufelsküche“ bekommt eine neue Bedeutung

Azorischer Wegweiser, damit eventuelle Fußgänger auch Bescheid wissen.
Azorischer Wegweiser, damit eventuelle Fußgänger auch Bescheid wissen.

© Uli Schulte Döinghaus

Heute wird das vulkanische Basalt auf der Insel auch für modernes Bauen genutzt, zum Beispiel für Neubauten in denkmalgeschützten Milieus wie dem basaltschwarzen Dorf Cachorro, dessen Bewohner die Zäune und Fensterläden ihrer Sommerhäuser rot oder grün bemalen, vielleicht um Depressionen oder dauerhafter Schwarzseherei vorzubeugen.

Vor Cazorro brechen sich die Atlantikwellen, die bei Surfern sehr begehrt sind. Der Ozean tobt sich aus. Ungeheurer Wellengang sorgt zudem für ein seltsam sirrendes Pfeifen, und das kommt aus der Turbine eines Betonblocks, in den die Wellen hineinfegen, um Energie zu erzeugen. Das neuzeitliche Wellenkraftwerk, so ist zu lesen, sei zwar eine gute Idee, habe aber noch „die eine oder andere Macke“.

Die Fassaden vieler alter Kirchen sind komplett aus Basalt, etwa die von Igreja Matriz de Sao Miguel Arcanjo im Städtchen Vila Franca do Camp auf São Miguel. Das Bauwerk lockt allem Anschein nach von jeher Vandalen an: Vor der Kirche fehlt der Statue Heinrich des Seefahrers die Nase (was seiner heroischen Attitüde keinen Abbruch tut), und an der Kirche selbst ist seit 1694 ein handtellergroßes und fausttiefes Einschussloch zu sehen. Damals nahmen Seeräuber das Gotteshaus ins Visier, um den Einwohnern Hab und Gut abzupressen. Heute haben die Götter der Geschmacklosigkeit die Bewohner offenbar fest im Griff – sie haben vor ihr schmuckes Dorf eine Hafen- und Marinaanlage aus brutalem Beton gebaut, die auch in Eisenhüttenstadt oder Marl-Hüls stehen könnte. Keine Spur von vulkanischer Tradition.

Dafür werden Gewohnheiten, die mit dem hitzigen Untergrund der Inseln zu tun haben, in Furnas umso heftiger gepflegt, zur Freude der Einheimischen wie der Touristen. Am Rande des Vulkansees beim Örtchen Furnas wird nämlich mit Hilfe der vulkanischen Erdwärme gekocht. In sogenannte Caldeiras (dampfende Erdlöcher) werden morgens Behälter gesenkt, die mit Gemüse, Fleisch, Fisch, Würstchen, Kartoffeln und Reis gefüllt sind. Sechs, sieben Stunden später, zur Mittagszeit, ist die Mahlzeit gar – das „Cozido das furnas“ darf gegessen werden.

So manche Hausfrau bringt morgens ihren Topf, lässt ihn in den Löchern versenken und holt ihn später wieder ab. Andere machen ein Picknick am Furnas-See daraus, und die meisten lassen es sich in den Gaststätten ringsumher schmecken, und zwar in gewaltigen Portionen. Der Begriff „Teufelsküche“ bekommt bei diesen Mahlzeiten eine neue Bedeutung: Das Gegarte hat beim Schmoren in der vulkanischen Erde einen leichten, nicht unangenehmen Beigeschmack von Schwefel erhalten, der aber mit einem einheimischen Rotwein wunderbar überdeckt werden kann.

Der Rote wächst auf der Insel Pico in Weingärten, die vom Atlantik nur durch eine Fahrstraße und vom Flugplatz durch eine Beleuchtungsanlage getrennt sind. Die flach wachsenden Rebstöcke sind kaum auszumachen, weil sie von hüfthohen schwarzen „Moroicos“ umgeben sind. Diese Mauern aus Lavastein schützen wie etwa auch auf Lanzarote vor Wind und speichern die Wärme. Erst auf der Plattform einer alten Mühle wird deutlich, dass sich hinter der scheinbaren Steinwüste eine uralte Gartenstruktur verbirgt, in der Weinstöcke in mühsamer Arbeit kultiviert werden, um schweren Rotwein zu keltern oder eine Grundlage für aromatische Aperitifs, die von Atlantikseglern gerne in Peters Café probiert werden, bevor sie sich den Kaimauern von Horta verewigen.

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