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Enrfesselt an der Leine. Hunderte Flugdrachen schweben über dem Strand von Corralejo. Allein die Schwarzbunten hier vorn warten wohl noch auf ihre Starterlaubnis.

© Hans W. Korfmann

Drachenfest auf Fuertaventura: Lasst Kühe und Pferde fliegen

Auf Fuerteventura findet jedes Jahr im November ein Drachenfest statt. Der blaue Himmel hängt dann voller Farbtupfer.

Nur selten und nur dort, wo Menschen das kantige Lavageröll zu schützenden Mauern aufgeschichtet haben, tauchen die Linien quadratischer Häuser auf. Aneinandergereiht wie Schokoladenriegel, bunt wie Legosteine.Und absurd wie eine Menschensiedlung auf dem Mond. Sonst aber liegt Fuerteventura eintönig und grau inmitten des ozeanischen Blaus. An manchen Kanten flankiert von langen Streifen aus geschmeidigem, weißen Wüstensand, den der Schirokko seit Jahrtausenden beharrlich aus Afrika herüberweht. Bei Corralejo türmt er gar meterhohe Dünen auf.

An dieser nordöstlichen Spitze der nach Teneriffa zweitgrößten Kanareninsel tauchen einmal im Jahr, im bei uns grauen November, plötzlich noch andere Farben auf. Dann ist der blaue Himmel über dem weißen Sand der Playa del Moro – ein Abschnitt der Playas de Corralejo – voller Farbkleckse. Dann lassen Drachenflieger aus aller Welt an unsichtbaren Schnüren ihre Windspiele und Drachen aufsteigen. Dann reiten schwarze Hexen auf Besen durch den Himmel, ein Krähenschwarm zappelt an der Nylon-Schnur, Flugzeuge und bunte Papageien bevölkern die Luft. Doch nicht nur Wesen der Lüfte, auch erdnahe Gestalten wie ein feuerfarbener Salamander, ein tiefschwarzer Stier, zwei rote Pferde und quietschgrüne Frösche widerstehen im Wind von Fuerteventura erfolgreich der Erdanziehung. Sogar aus den Tiefen des Meeres steigen bunte Fische, weiße Haie und pinkfarbene Riesenkraken in den Himmel auf.

Die Männer, die von weither zum Drachenfest anreisen, bringen Leben auf eine Insel, die sonst vorwiegend von dunkelbraunen, faul wie die Seelöwen im Sand liegenden Urlaubern bevölkert wird. Jetzt werden sie aufgescheucht, von Kühen, Schnecken und kleinen Käfern, die an kurzen, zwei Meter langen Leinen im Wüstensand auf- und abhüpfen. Drei holsteinische Kühe und einige Schnecken kämpfen gegen den ewigen Wind. Der gesamte Strand ist bevölkert von aufgeblasenen Fabelwesen und Fantasiegeschöpfen, bunten Luftgestalten, die von 165 Fliegern in langen, lichtarmen Wintermonaten in ihren Hobby-Kellern aus vielen Metern Stoff zusammengenäht wurden. Immer hatten die Männer das Bild des Sommers vor Augen, des blauen Himmels und des weißen Strandes von El Moro. Und immer trieb sie ein alter Traum an: der Traum vom Fliegen.

Fliegen ist ihre Leidenschaft

Die Männer, die sich alljährlich im November auf Fuerteventura versammeln, lassen jedoch nicht einfach Drachen steigen. Sie fliegen sie. „Ich habe meine Drachen schon um die halbe Welt geflogen!“, sagt Till. „Ich bin an der Copacabana geflogen, in Washington, in Singapur, auf Fanö, in China...“ Wenn Till Krapp und seine Kollegen erzählen, dann hört es sich, als wären sie selbst dort oben gewesen. Als müssten sie nicht immer dort unten zurückbleiben, als hätten sie nicht immer nur das sehnsüchtige Nachsehen.

Der Cowboy macht seinen lustigen Klepper startklar für einen wilden Ritt.
Der Cowboy macht seinen lustigen Klepper startklar für einen wilden Ritt.

© Hans W. Korfmann

Fliegen ist ihre Leidenschaft. „Entwerfen, Bauen, Fliegen!“ Till Krapp hat sein ganzes Leben damit verbracht. Seit den großen Schulferien im Sommer 1953, vor mehr als 60 Jahren. Er hatte wieder einmal Langeweile und ging zum Vater: „Was soll ich machen?“ – „Bau einen Drachen!“ Mürrisch lief Till los, kaufte sich für 50 Pfennig ein Buch über Drachenbau und klebte weiße Fallschirmseide zusammen. Wenige Tage später stand Tills selbstgebautes Flugobjekt am Himmel über dem Franzschen Feld, dem alten Exerzierplatz in Braunschweig, und neben ihm stand sein Freund Harro. Till hatte nie wieder Langeweile. Er beschloss, Flugzeuge zu fliegen oder wenigstens bauen. Am Ende baute er Herzkatheter. Doch die Drachen hat er immer weiter gebaut, aus den Pfennigen sind längst Euro geworden. „Da hat der Vadder was losgetreten“, sagt Till, dessen Keller inzwischen voller Drachen ist.

Regelmäßig wie die Zugvögel kommen die Drachenflieger nach Fuerteventura. Till Krapp sogar gleich zwei Mal im Jahr. „Im Frühjahr sind wir hier manchmal ganz allein.“ Im Herbst jedoch ist die ganze Gemeinde versammelt: Der Werner mit seinen Besen reitenden Hexen und der Ingo mit den riesigen Kraken; der Cowboy mit dem Lederhut, der noch immer mit seinen Pferden kämpft, die sich aufbäumen und auf den Hinterläufen stehen, aber einfach nicht in die Luft steigen wollen; Steward und Paul aus Oxford, Vater und Sohn, oder Klaus aus Büttelborn, der seinen Neffen einst ganz stolz zum Drachenfest mitnahm, dem das allerdings „alles viel zu langweilig“ war. „Da könnt’ ich ’nen Hals kriegen, wenn ich so was hör’!“ Drachenfliegen ist schließlich kein Kinderkram! Drachenfliegen ist Männersache! Auch wenn im vergangenen Jahr zehn Schulklassen am Strand versammelt waren, alle in blauen T-Shirts und alle mit kleinen, blauen Drachen. „Ja, das Fest wird immer größer“, sagt Claudina Morales, die Bürgermeisterin der Gemeinde „mit dem schönsten Strand“. Sogar unter den Touristen hat es sich nach 26 Jahren endlich herumgesprochen.

Sie sind Geschichtenerzähler

Am Nachmittag sitzen die Flieger mit den Cowboyhüten, Baseballkappen und Sonnenbrillen dann alle beisammen, unter den Sonnenschirmen der Bretterbude, an der mitten im Naturschutzgebiet Bier, Limonaden und belegte Brötchen verkauft werden. Und während ein paar Meter weiter die Nudisten ihre Hängebäuche am Strand spazieren tragen, Kitesurfer über der Gischt ihre Kreise ziehen, junge Mädchen im Bikini mit dem Handy spielen, Männer in zu knappen Badehosen nach Frauen mit Handys schielen, fachsimpeln die Konstrukteure und Piloten all dessen ungeachtet über ihre Carrier, Lifter oder Pilotdrachen, erzählen von den Wetterstationen, die mit Drachen bis auf 9000 Meter gezogen wurden, oder von den alten Rettungsdrachen auf See.

Sie sind Geschichtenerzähler, tauschen Erfahrungen und Erinnerungen aus: an Peter Lynn, diesen Neuseeländer, der sich als erster von einem Drachen auf einem Brett über den Strand ziehen ließ. Und der eines Tages mit einem kleinen Katamaran anreiste, um sich über die Wellen vor Fuerteventura ziehen zu lassen. „Das war der Beginn des Kitesurfens.“ Oder sie erinnern sich an den großen Kugelballon, dessen Leine in der Sonne schmolz, und den man über die ganze Insel jagte. Vergeblich, bis er ein Jahr später plötzlich irgendwo wieder auftauchte. Oder an all die anderen selbstgebauten Himmelskörper, die auf und davon flogen und nie wieder gesehen wurden. Lauter Legenden, wie Jägerlatein und Seemannsgarn.

Drei Wochen bleibt Till Krapp auf der Insel. Und sollte der Wind tatsächlich einmal abflauen zwischen den Kanaren, dann geht der Rentner eben schwimmen, „so wie die anderen Rentner auch“. Oder er fährt in die Berge, „in diese Kraterlandschaft da oben“. Das ist dann so, als flöge er zum Mond. Ganz so grau, wie er einmal dachte, und wie sie alle erzählen, sei Fuerteventura auch gar nicht. Die Insel hat ein rotes Herz, in der Ebene von Betancuria gab es vor zwei Jahrzehnten noch einen richtigen Fluss, da stehen in den Tälern 100 Jahre alte Palmen, und es gibt Felder mit Kartoffeln, Mais, Tomaten – und Windmühlen, die Wasser aus der Erde pumpen, Gärten voller Blumen und Hecken aus meterhohen Bougainvilleen.

Vier Tage lang am Himmel über Fuerteventura

Da taucht, wie ein Wunder, inmitten dieser Mondlandschaft plötzlich eine blühende Oase auf, da liegen die Dörfer Antigua, Pajara oder die alte Inselhauptstadt Betancuria mit der Kirche in der Mitte und den weiß getünchten, dickbäuchigen Bauernhäusern im Schatten alter Bäume, in denen sich sämtliche Vögel der Insel versammeln und zwitschern wie im Paradies.

„Es gibt böse Zungen, die behaupten, das einzig Gute an Fuerteventura sei, dass man hier nichts verpassen könne. Weil es nichts zu verpassen gibt. Aber das ist nicht wahr. Ich habe diese Insel lieben gelernt. Vielleicht gerade deshalb, weil es hier so wenig gibt. Nichts außer der Weite des Himmels und ein paar bunten Drachen.“

Vier Tage lang stehen sie am Himmel über Fuerteventura. Am Sonntag, dem letzten Tag des Kite-Festivals, erinnert der Himmel an eine Blumenwiese. Doch wenn die Sonne zu sinken beginnt, sinken auch die Drachen, und die Stimmung der Piloten. „Jetzt haben wir nur noch einen, den wir runterholen müssen.“ – „Ja, und dann ist das Jahr auch schon wieder rum.“ Schweigend holen sie, wie alte Fischer, gemeinsam die Leine ein.

Die Drachen schweißen zusammen. Auch Jahrzehnte nach dem Start auf dem Exerzierfeld in Braunschweig hatte Till Krapp seinen ersten Drachen nicht vergessen. Er war beinahe 60 Jahre alt, als er sich auf die Suche machte nach Harro, jenem Freund, dem er seinen ersten Drachen überlassen hatte, als er mit den Eltern die Braunschweig verließ. Und an seinem 60. Geburtstag standen die beiden Männer dann tatsächlich wieder gemeinsam auf der Wiese und ließen den Drachen aus der weißen Fallschirmseide noch einmal in den Himmel steigen.

Über Fuerteventura strahlt die Sonne, kräftig weht der Wind. Im Augenwinkel von Till Krapp glänzt eine Träne. Dann legt er den Drachen zusammen.

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