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Melilla: Die Verteidigung der Tapas

Melilla, die spanische Exklave in Marokko, schottet sich mit einem Doppelzaun gegen Flüchtlinge ab. Touristen kommen trotzdem – auch zum Baden.

Amadou ist der Held des Tages. Siegesbewusst steht er im Kreis seiner Freunde, reckt sich zur vollen Größe und dreht sich winkend im Kreis – wie ein Torero in der Arena. Lachen und Bravorufe füllen die Bodega, Tabletts mit Tapas machen die Runde, Biergläser klirren aneinander – schließlich muss ein wichtiges Ereignis gefeiert werden: der Sieg des Fußballclubs von Melilla über den gegnerischen Verein von Almeria im spanischen Mutterland, genau 150 Kilometer gegenüber auf der anderen Seite des Mittelmeeres.

Keine Frage: Amadou, der erfolgreiche Torschütze, ist an diesem Abend der bewunderte Mittelpunkt im „La Cerveceria“ in der Avenida Juan Carlos Rey, einem der beliebtesten Restaurants von Melilla, der spanischen Enklave im Norden Marokkos. Allerdings: Es kommt nicht gerade häufig vor, dass die Einwohner dieser Stadt einem Mann wie Amadou zujubeln. Denn er ist einer von Tausenden und Abertausenden, die aus Angst vor Krieg, Hunger und Armut ihre Heimat in Zentralafrika verließen (und immer noch verlassen), um sich zur marokkanischen Küste durchzuschlagen. Ihr Ziel, für das sie nicht selten das Leben riskieren: Europa.

Der dunkelhäutige Amadou hatte Glück. Während zwei seiner Freunde, mit denen er aus Nigeria geflüchtet war, unterwegs an Durst und Erschöpfung starben, schaffte er es. Als Einziger erreichte er zunächst wenigstens die Aussicht ins „Paradies“: Melilla, den winzigen Appendix Europas am Rande Nordafrikas.

Spanien darf Flüchtlinge, nach einer Verordnung der Europäischen Union, vierzig Tage lang festhalten. Dann müssen sie abgeschoben werden – vorausgesetzt, man weiß, wohin. Manchmal aber werden auch gerade billige Arbeitskräfte gesucht. In Port Hartcourt, seiner Heimatstadt, hatte Amadou als Schiffsmonteur gearbeitet. Und im Hafen von Melilla gab es im Sommer 2005 gerade eine Menge zu tun. So durfte er bleiben. Inzwischen hat er Spanisch gelernt und eine Spanierin geheiratet. Melilla will er nicht mehr verlassen. „Obwohl es für mich nicht einfach war, hier ein neues Leben anzufangen“, sagt er. Denn vielen Einwohnern der Stadt, die geografisch zu Afrika, politisch aber zu Spanien gehört, sind Migranten wie er eher ein Dorn im Auge. „Wir fühlen uns wie ein Vorposten Europas“, sagt Elvira, die junge Fremdenführerin auf der Plaza de España Stadtzentrum. „Wenn wir nicht den Grenzzaun hätten, würden wir uns vor dem Ansturm der Flüchtlinge kaum retten können.“

Dieser Grenzzaun ist ein monströses Bauwerk, das es dem Besucher nicht gerade leicht macht, sich in Melilla wie in einem unbeschwerten Urlaub zu fühlen – ein zehn Kilometer langer und bis zu sechs Meter hoher Doppelzaun aus Beton und Stacheldraht, gesichert mit Bewegungsmeldern, Kameras und Nachtsichtgeräten. Eingesperrt hätte sich Melilla mit diesem Zaun, meint Amadou, den Kontinent, auf dem die Stadt liegt, aber ausgesperrt.

Touristen scheint die Sperranlage dennoch kaum abzuschrecken. Mehrmals täglich bringen Fährschiffe und Flugzeuge aus Andalusien Hunderte von Besuchern in die spanische Enklave an der marokkanischen Mittelmeerküste – von Almeria, Málaga und Sevilla. Der Luftsprung von Südspanien ist kurz – schon nach zwanzig Minuten streift die Maschine knapp über die Dächer Melillas und setzt am Rande der Wüste auf. Nur dreizehn Quadratkilometer misst das spanische Territorium auf marokkanischem Boden, bewohnt von etwa 58 000 Einwohnern, die meisten von ihnen spanischer Herkunft.

„Warum ich hierher komme?“, fragt ein Fluggast an der Gepäckausgabe. „Nun, Melilla ist eine Freihandelszone, hier kann man günstig einkaufen.“ Und ein deutscher Urlauber, der mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern gekommen ist: „Wir besitzen seit vielen Jahren ein Ferienhaus in Andalusien. Jetzt wollen wir mal sehen, wie das Spanien auf der anderen Seite des Mittelmeeres aussieht ...“

Zu Spanien gehört Melilla seit mehr als fünf Jahrhunderten. Zur gleichen Zeit als Kolumbus aufbrach, eine neue Welt zu entdecken, eroberte der spanische Seefahrer Pedro Estopiñan mit seiner Armada die arabische Halbinsel Beni Sicar am Cap Tres Forcas und gründete dort die größte militärische Festung Nordafrikas. „Unser Kastilien“ nennen die Einwohner Melillas heute stolz das mittelalterliche Konglomerat aus Burgen und Burgresten auf den steilen Felsen am Meer. Mächtige Kanonen bewachen die Zitadelle mit der einzigen gotischen Kapelle ganz Afrikas. Sie lassen vermuten, dass die Gründer Melillas sich immer wieder gegen Piraten und räuberische Berberstämme verteidigen mussten. Heute attackieren nur Möwenschwärme die schwarzen Basaltfelsen. Mit ungeheurer Kraft donnert die Brandung gegen das Ufer.

Im spanischen Mutterland war der windige Außenposten an der afrikanischen Küste schnell vergessen worden. Schließlich hatten die Könige im fernen Madrid genug damit zu tun, die Schätze und Ländereien der neu entdeckten Welt unter ihren Vasallen aufzuteilen. Melilla versank im Dornröschenschlaf, aus dem es erst Ende des 19. Jahrhunderts wieder erwachte: Das spanische Weltreich, das von den Philippinen im Osten und bis Mexiko im Westen reichte, war Vergangenheit. Ein Aufstand der Kubaner gegen die spanischen Kolonialherren hatte das Land 1898 in einen Krieg mit den USA verwickelt. Die Niederlage bedeutete auch das Ende der spanischen Herrschaft in Mittelamerika. Tausende spanischer Soldaten kehrten geschlagen in ihre Heimat zurück.

Ersatz für die kolonialen Verluste jenseits des Atlantiks suchte das Land nun im Norden Afrikas. Marokko wurde zum spanischen Protektorat. In wenigen Jahrzehnten wuchs unterhalb des mittelalterlichen Burgfelsens von Melilla eine völlig neue Stadt aus dem Wüstensand – die Ciudad Moderna mit eleganten Einkaufsstraßen und prachtvollen Fassaden, mit breiten Alleen und großen Plätzen, von Palmen gesäumt. Das neue Melilla, nur durch einen kurzen Straßentunnel von der Altstadt getrennt, wurde zur Spielwiese des spanischen Modernismo: Jugendstil und Art Deco prägen das Stadtbild, entworfen vom Jugendstilkünstler Enrique Nieto. Mehr als drei Jahrzehnte hatte er in Melilla gelebt und gearbeitet und die Stadt in ein „Barcelona en miniature“ verwandelt, getreu seinem Vorbild und Lehrmeister, dem Architekten Antonio Gaudí.

Zweimal am Tag, jeweils morgens und abends, öffnet Melilla den Übergang Beni-Azar an der Grenze nach Marokko. Dann strömen Hunderte von Menschen in die kleine Enklave – Frauen in bunten Chilabas, der Nationaltracht der Berberinnen, Männer in hellblauen Galabiyas. Sie kommen zum Arbeiten und Einkaufen. Ihr kurzer Aufenthalt wird streng reguliert: Spätestens bis zwanzig Uhr müssen sie die Enklave wieder verlassen haben. Alejandro Jiménez Rodanés, verantwortlich für den Tourismus in Melilla, glaubt dennoch an die kulturelle Vielfalt in seiner Stadt – ethnisch und religiös. Mindestens dreißig Prozent der Bevölkerung seien Muslime, erklärt er, außer sieben christlichen Kirchen gäbe es vier Moscheen und eine Synagoge. Das sei wohl auf das historische Erbe zurückzuführen. Denn vor fünfhundert Jahren, als die katholischen Könige Isabella und Fernando alle Moslems und Juden aus Spanien vertrieben, hätte Melilla viele der Verfolgten aufgenommen; seitdem sei die Stadt ein Ort der Toleranz, in dem Religionen einträchtig nebeneinander existieren können. Selbst unter General Franco, der 1936 den Katholizismus im spanischen Mutterland zur Staatsreligion erklärte, habe die Enklave die Religionsfreiheit bewahrt. Viele religiöse Feste würden von allen Einwohnern gemeinsam gefeiert – die christliche Karwoche ebenso wie der islamische Ramadan.

Und die Flüchtlinge aus Afrika? Die meisten Menschen in Melilla haben seit vielen Monaten nichts von ihnen bemerkt. Und das sei auch gut so, meint Señor Rodanés, denn wer als Urlauber nach Melilla kommt, soll sonnenbaden, schwimmen oder tauchen. Soll gut essen, durch die mittelalterliche Altstadt bummeln und die schmucken Jugendstilhäuser in der Neustadt bewundern. Keine traurige Realität soll ihn daran hindern ...

Martin Dziersk

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