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Geheimtipp: Gotha hat viel zu bieten

Gothas Kulturgüter sind zahlreich – und stattlich. Nur: Es hat sich noch nicht herumgesprochen.

Es ist noch nicht spät, aber schon ziemlich still in Gotha. Mit dem Abendläuten haben die Geschäfte geschlossen. Über das Pflaster des Untermarktes rumpelt gelegentlich ein Auto. Nur wenige Gäste sitzen noch an den Tischen vor dem Restaurant „Bellini“ und genießen die letzten Sonnenstrahlen. Zu ihren Köpfen reckt ein Schilderbaum seine Hinweise über den Platz: Schloss Friedenstein, Ekhof-Theater, Kasematten, Wasserkunst, Orangerie, Augustinerkirche … Ebenso unbeachtet: Güldene Lettern an der historischen Fassade, die belegen, dass das „Bellini“ mal der „Ratskeller“ war. Wohl deshalb steht an der Tafel mit den Sonderangeboten neben Pizza Quattro Stagioni auch Bratwurst mit Sauerkraut. Man ist schließlich in einer Weltstadt.

Nein, dass ist nicht so spöttisch gemeint, wie es klingen mag. Man braucht nur ein paar Schritte schräg über den Untermarkt zu gehen, vorbei am „Haus zur goldenen Schelle“, in dem gerade eine Band „It’s all right now“ übt, und ein Stück den Brühl hinein. Dort verhüllt ein Riesenposter die Fassade eines bröckelnden Hauses. Und auf diesem Poster sind viele Menschen mit Rang und Namen in trauter Gemeinsamkeit abgebildet. Hiesige, wohlgemerkt. Darunter das „Gothaer Liebespaar“, das sich um 1480 auf einem bis heute berühmten Doppelbildnis verewigen ließ; Lucas Cranach der Ältere, der 1512 Schwiegersohn des Gothaer Bürgermeisters wurde und zwei Häuser kaufte; Ernst der Fromme, der anno 1643 mit dem Bau des Gothaer Schlosses Friedenstein, des damals größten Schlossneubaus Deutschlands begann; der Kaufmann Ernst-Wilhelm Arnoldi, der 1820 aus Ärger über den zu langsamen Wiederaufbau seiner Heimatstadt nach einem Brand die Gothaer Feuerversicherungsbank für den Deutschen Handelsstand und somit eines der ältesten deutschen Versicherungsunternehmen gründete …

Neben dem Rathaus bremst ein Renault, ein Mann steigt aus und beginnt, hinter dem Wagen nur spärlich von dem auf ihn wartenden Grüppchen abgeschirmt, seine Kleidung zu wechseln. Jeans und T-Shirt gegen Beinkleid und Gewand. Es ist der letzte Freitag im Monat, und also lädt Ralph-Uwe Heinz wieder zu einem historischen Stadtrundgang, heute als Radolf zu Duringen, Herold der Thüringer Landgrafen, manchmal auch als Renaissance-Bürger, Augustinermönch oder Schulmeister.

19 Uhr. Ehe die Show des Herolds beginnt, darf noch Ritter Wilhelm von Grumbach die seine abziehen. Sein Abbild schaut hoch oben aus der Fassade des Renaissance-Rathauses und lässt bei jedem Glockenschlag den Unterkiefer herausklappen. Der Abenteurer war anno 1567 auf dem Marktplatz von Gotha gevierteilt worden, mitsamt seinen Gefährten. Das Blut muss in Strömen geflossen sein. Danach ließ der Kaiser die Gothaer Burg Grimmenstein schleifen, auf der Grumbachs erfolgloser Verteidiger, Herzog Johann Friedrich, residierte. Da sind sie also schon, die gruseligen Gothaer Geschichten, die Radolf munter mischt mit gestenreichem Minnesang und manch’ Plaudereien über fröhlichere Momente. Und natürlich vergisst er nicht zu betonen, dass Weimar im Vergleich mit Gotha überhaupt nicht mithalten könne.

Über diese Städtekonkurrenz zerbricht man sich vermutlich mehr in Gotha als in Weimar die Köpfe, aber immerhin kann Gotha einiges bieten, was Weimar nicht hat. Vor allem Friedenstein, das Schloss, das für die Stadt etwas zu opulent geraten scheint. Es ist die älteste und größte frühbarocke Schlossanlage Deutschlands. Mehr noch: Nirgendwo erreichten höfische Kunst und Kulturgüter des 17. bis frühen 20. Jahrhunderts so komplett und unbeschadet die Gegenwart. Das Schloss aus dem 17., das Herzogliche Museum aus dem 19. Jahrhundert. Gärten und Parks, die beide umgeben, Sammlungen, die sie füllen. In Gotha hängen Werke von Cranach und Dürer, stehen Skulpturen von Houdon, Mumien, Muscheln, Handschriften, Geschenke des Tenno und des Zaren.

Vergleiche mit Weimar? Durchaus: Die Forschungsbibliothek sieht sich in Umfang und Qualität mindestens auf einer Ebene mit der Anna-Amalia-Bibliothek. Fachkreise vergleichen die Buchbestände mit der renommierten Bibliothek in Wolfenbüttel und die Keramiksammlung mit der des Dresdner Zwingers. Die englische Gartenanlage gilt als die älteste auf dem Kontinent, die Kunstsammlung wird als die wertvollste Thüringens gehandelt.

Aber kaum einer weiß das. Die Tourismusstatistik sagt, dass der Durchschnittsbesucher ungefähr 60 Minuten für den Stadtbesuch einplant. Irritiert und begeistert bleibt er dann doch oft länger – wenn nicht gerade sein Reiseleiter drängt.

„Wer das Schloss bewusst auf sich wirken lässt“, sagt Roland Krischke, PR-Mann der Stiftung Schloss Friedenstein, „der spürt, was Barock bedeutet: der Blick ins Universum, in ferne Länder, in die Natur, das Zusammentragen von Unbekanntem, um es zu studieren. Und gleichzeitig das Schaffen eines eigenen abgegrenzten Mikrokosmos aus einem Schloss, das die gesamte Staatsverwaltung aufnahm, aber auch Kirche, Archiv, Bibliothek, Repräsentationsräume, Zeughaus, Marstall und so weiter.“

Ein neues Magazin in der Stadt nimmt bald die Depotbestände auf und schafft im Schloss Platz für eine moderne Präsentation der Schätze, des Naturalienkabinetts oder der Kunstkammer beispielsweise. Das Herzogliche Museum wird die Sammlung der Grafiken, Gemälde und Skulpturen wieder ins rechte Licht rücken. Ein neuer Rundgang soll dem Besucher dieselben Impressionen verschaffen wie den Gästen des Schlossherrn.

Die Erwägung, angesichts der Bauarbeiten sei ein Besuch momentan ungünstig, wischt Krischke gleich vom Tisch. „Das Schloss ist so riesig, da gibt es immer genug zu sehen. Anfang 2010 eröffnen wir die neue Präsentation der historischen Kunstkammer. Ein Glanzpunkt.“ Wie auch das Ekhof-Theater.

Eine seltsame Atmosphäre herrscht in diesem Raum: halb Museum, halb Theater und irgendwie sogar ein bisschen sakral. Krischke steht auf der Bühne, wo die „Bretter, die die Welt bedeuten“ noch knarren, und erläutert die größte Seltenheit der Anlage: das älteste vollständig erhaltene Schlosstheater der Welt. 1683 war es eingeweiht worden und verfügt noch über eine funktionierende hölzerne Bühnenmaschine. Vieles ist noch original, weil es in diesem Theater nie gebrannt hat. Im Gegensatz zu anderen Musentempeln hatte dieser nämlich – wegen der in unmittelbarer Nachbarschaft untergebrachten Sammlungen – zwei „Feuerwehrmänner“, die nach den Aufführungen an der Bühne zu übernachten hatten.

Für den Ruhm dieses Theaters sorgte Herzog Ernst II., der anno 1775 hier das erste feste Hoftheater gründete, also eine Schauspieltruppe einstellte, die nicht mehr umherzog, sondern an einer Spielstätte auftrat. An die Spitze dieser Truppe berief er mit Conrad Ekhof einen bedeutenden Erneuerer der Schauspielkunst. Anderswo – in Weimar bestimmt – würde dieses Theaterchen zur Pilgerstätte werden; in Gotha ist es einfach nur ein Teil des riesigen Schlosses.

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