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Am Winnats Pass machen die High Peaks der Grafschaft Derbyshire ihrem Namen alle Ehre. Doch Radler sollten sich nicht schrecken lassen – Anstiege wie diese sind eher selten im Norden Englands.

© Dave Pape

Großbritannien: In jedem Pub gibt’s eine Lösung

Mit Rad und Zelt durch Nordengland – das kann feucht werden. Doch Land und Leute machen den Regen wett.

Jeff ist Sammler. Sein Haus bildet gemeinsam mit 13 anderen das Dörfchen Upper Mid Hope. Im Garten gedeiht sein Hobby: eine Collage aus mehr und weniger historischen Ambulanz-Fahrzeugen und landwirtschaftlichen Geräten samt möglichen Ersatzteilen. Und daneben steht nun mein Zelt. Von der Hügelkuppe blickt man nach Südwesten auf den Peak District Nationalpark, dahinter liegt Manchester: Dort hat vor zwei Tagen meine Rundreise per Fahrrad begonnen.

Die Route entsteht mit jedem Tag neu: Gesetzt sind nur Manchester Airport als Ausgangs- und Endpunkt sowie der Wunsch, wenigstens für einen Tag die schottische Grenze zu überqueren. Mein voll bepacktes Vehikel erregt Aufmerksamkeit, denn so etwas sieht man in diesen Breiten eher selten. Auch meine unüberwindliche Abneigung gegen Campingplätze wird zu einem unvergesslichen Trip beitragen.

Der Peak District Nationalpark östlich von Manchester trägt seinen Namen zu Recht. Die nicht enden wollende Bergauffahrt wird vom Geblöke ungezählter Schafe begleitet. Großzügige Entschädigung bieten der Ausblick über menschenleere Hügel und die berauschende Abfahrt nach Castleton: Zu beiden Seiten der steilen Straße strecken graue Felsen zwischen grünen Samtvorhängen ihre Nase raus, als ob sie auf ihren Auftritt warteten. Wie im Bilderbuch thront die Burg über dem Ort mit seinen malerischen Steinhäuschen.

Nordengland bestätigt in ungeahntem Ausmaß die Regel, dass die Freundlichkeit der Bewohner umgekehrt proportional zu ihrer Zahl zunimmt. Mein voll beladenes Fahrrad lasse ich auch während Ortserkundungen grundsätzlich unabgeschlossen stehen; klopfe ich an eine Tür, um die Wasserflasche aufzufüllen, kann es geschehen, dass ich auf einen Rotwein hereingebeten werde. Als Jeff von meiner Unternehmung hört, bietet er mir sofort Tee an, eine Dusche, und er empfiehlt für ein echtes englisches Frühstück ein Café im Nachbarort.

Nach Scones mit Cream und Jam, der typischen süßen Mahlzeit, geht es weiter in das Künstlerörtchen Hebden Bridge. Hier haben viele Läden wegen Überschwemmungsschäden geschlossen, aber im Stubbing Wharf, wo bis vor wenigen Tagen Bierfässer über den Parkplatz schwammen, schlendern schon wieder die Gäste, und ich frage zwei sympathisch wirkende Frauen nach einem Zeltplatz. Wieso ich denn unbedingt zelten wolle, meint Linda, ich könne selbstverständlich in ihrem Haus schlafen … Auf dem Rochdale Kanal verkehren im Sommer zahllose Kähne und Flöße, bunte Boote säumen die Ufer. Wie Linda auch, scheint die halbe Einwohnerschaft zu schreiben, zu malen oder zu fotografieren; die zweite Hälfte widmet sich hingebungsvoll der Bio- und Fairtrade-Verpflegung der ersten.

Endlich das ersehnte Dorf

Kaffee ist fertig!
Kaffee ist fertig!

© myk

Zwei Tage später fahre ich durch die Yorkshire Dales. Der britische Sommer offenbart scheinbar endlose Variationen aus zwei Grundtönen: Grün und Grau. Über saftigen Wiesen hängen taubengraue Regenschleier, hellgraue Nebel, anthrazitgraue Gewitterwolken. Unzählige graue Steinmauern parzellieren das Land – sogar dort, wo das aufgrund scheinbar fehlender Zivilisation gar nicht nötig zu sein scheint. Die endlose Weite der Landschaft ist jeden Tag wieder atemberaubend – außerhalb der Ortschaften begegnen mir nur selten andere Menschen.

Die letzten fünf Meilen vor Grinton verbringe ich auf einem Bergrücken über allen Menschen und Bäumen, unter mir türmen sich Wolken. Es regnet. Endlich bergab, endlich das ersehnte Dorf. Das örtliche Pub schlägt mal wieder jede Touristeninformation. Die Kellnerin („Hello, Love“) serviert heiße Fish & Chips. Wo kann man hier zelten? Ein Mann an der Theke hört die Frage, es folgen ein kurzes Telefonat und die Auskunft: „Das erste Gatter links hinter der Brücke steht offen, da kannst du rein.“ Eine Schafweide.

Während ich das Zelt aufbaue, kommt derselbe Mann im Jeep vorbei und bietet Hilfe an; danke, alles prima. Eine Nacht lang vernehme ich durch alle Traumwelten hindurch die erstaunlich umfangreiche Geräuscheskala der Schafe, morgens dann den Motor eines Jeeps und eine bekannte Stimme. Der Jeep fährt ab, ich schlafe weiter. Als ich endlich startklar bin, sehe ich den Becher Kaffee auf dem Zaunpfahl, fürsorglich abgedeckt mit Klarsichtfolie …

Weiter geht es nach Barnard Castle, dann mit der Abendsonne und riesigem Hunger ins Pub von Stanhope. „Bikers Welcome“, verkündet ein Schild, und der Besitzer nimmt das Versprechen überraschend wörtlich: Ich darf mein Zelt im Biergarten aufschlagen. In der Gaststube ist ein kostenfreies Büfett aufgebaut. „Wir hatten heute eine Beerdigung, bitte bedien dich.“ Regionale Spezialitäten stehen zur Auswahl. Zum Beispiel Scotch Eggs (hart gekochtes Ei umhüllt von püriertem Schweinefleisch, paniert und fritiert) oder Pastete mit einer Füllung aus Corned Beef. Böse Zungen könnten die Mauern Englands mit den abrasierten Fundamenten vom Haus eines Riesen vergleichen, dessen Architekt die Küche vergessen hat. Wenn da nicht die Nachspeisen wären: Zum Tee werden köstliche Crumbles, Pies und Scones serviert – und wer ahnt denn schon, dass das beste Eis dieser Welt offenbar aus den kleinen Molkereien Englands stammt?

„Du kannst ja hier schlafen ...“

Gewiss, es gibt schönere, jedoch kaum ruhigere Orte, ein Zelt aufzuschlagen.
Gewiss, es gibt schönere, jedoch kaum ruhigere Orte, ein Zelt aufzuschlagen.

© myk

In diesem Land der Mauern fällt die berühmteste von allen, der Hadrianswall, gar nicht mehr auf. Jahrhunderte hindurch bedienten sich die Menschen hier für den (Wiederauf-)Bau anderer Gebäude. Ja, auch die Häuser sind selbstverständlich grau, ganz zu schweigen von den zahlreichen Friedhöfen: Stellenweise scheint es, als ob in diesem Land mehr Tote als Lebende „wohnen“. Von den Friedhöfen in England geht eine besondere Faszination aus; es sind verwunschene Orte, mit ganz anderen Grabsteinen als in Deutschland – gotische Bogenformen und steinerne Kreuze – die sich oft um trutzige Dorfkirchen legen, deren Glockentürme mit ihren Zinnen an Verteidigungsmauern einer Burg erinnern.

Einen besonderen Gottesacker entdecke ich nördlich von Hexam in Northumberland, einer Mischung aus Alm und Lüneburger Heide. Über den Zaun grüßt mich der Portier, der zu den Klängen der Dire Straits mit zwei Kumpels sein Feierabendbier genießt. Ob ich noch weit fahren müsse? Hoffentlich nicht – ich suche nur einen Platz für mein Zelt. Grinsen. „Du kannst ja hier schlafen ...“ Wer könnte da ablehnen! Nach der ersten Überraschung schlage ich mein Zelt zwischen den Gräbern auf.

Friedliche, fast magische Atmosphäre – der perfekte Ruheort. Ich schlafe sofort tief und fest. Um Mitternacht plötzlich eine Stimme: „Hey, bist du wach?“ „Nein. Warum?“ „Hab dir was zu essen gebracht!“ Stolz reicht mir Steve ein dickes Sandwich, eine Packung Käsecracker, eine riesige Tasse Kaffee und stapft durch die Gräber davon. Morgens, gefühlt sechs Uhr: „Hey, bist du wach? ... Hab dir Kaffee gemacht!“ Die einmalige Chance, wenigstens einen seiner Gäste wieder zum Leben zu erwecken, will sich Steve offenbar nicht entgehen lassen.

Den Hadrianswall hinter mir lassend nehme ich Kurs auf Schottland. Das Grenzgebiet ist auf schottischer Seite noch dünner besiedelt als in England. Kein Laden, nirgends. Noch 18 Meilen bis nach Jedburgh. Hunger. Regen. Stärkerer Regen, Wasser steht in den Schuhen. Hagel. Ich hasse Schottland. Just als ich das Ortsschild passiere, kommt die Sonne raus. Dann die Silhouette einer Klosterruine. Und ein Café mit hausgemachtem Shortbread. Und eine Bibliothek. Ich liebe Schottland.

In der Bibliothek erfahre ich, dass der Ortsname einst über 80 Varianten – darunter Geddewrde, Gedworth, Jedwood – aufwies. Die hiesige Abtei ist das besterhaltene der Klöster, die während des 12. Jahrhunderts im schottischen Grenzland entstanden: Während man auf englischer Seite Burgen zur Verteidigung errichtete, baute David I. von Schottland offenbar auf den Glauben. In Kelso stoße ich auf eine weitere Ruine, und dann erreiche ich St. Abbs an der Ostküste, den nördlichsten Punkt meiner Reise.

Vom Geiz der Schotten ist nichts zu spüren

Gewiss, es gibt schönere, jedoch kaum ruhigere Orte, ein Zelt aufzuschlagen.
Gewiss, es gibt schönere, jedoch kaum ruhigere Orte, ein Zelt aufzuschlagen.

© myk

Ein Motorradfahrer bezeichnet die Gegend als „Scottish Jamaica“ – hier sei alles völlig entspannt. Vom sprichwörtlichen Geiz der Schotten ist jedenfalls nichts zu spüren. Als ich an eine Tür klopfe – zufällig ein Bed & Breakfast – darf ich sofort das Zelt im Garten hinter dem Haus aufschlagen. Und duschen. Vor der Abreise am nächsten Morgen noch ein Spaziergang entlang der Klippen – ein atemberaubendes Erlebnis, vor allem wenn man früh genug dort ist, um alleine zu bleiben.

Über den Fischerort Eyemouth geht es wieder zurück nach Süden, bald liegt Schottland hinter mir. Im Pub von Rothbury erörtere ich mit den Gästen Möglichkeiten eines Schlafplatzes. Der Ortspolizist weist mir ein kleines Rasenstück neben dem Golfplatz zu – und kommt nach Dienstschluss noch mal vorbei, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist. Am nächsten Abend wieder in Hexam, scheint hier die Zeit stehengeblieben zu sein: Steve und Kumpels sind beim Bier – der Kaffee am nächsten Morgen schon Routine.

Ein Farbtupfer in der Landschaft ist Penrith: Diese Stadt ist nicht grau, sondern rot, nicht weit von hier wird der charakteristische Lazonby Sandstein abgebaut. Penrith bildet das Tor zum Lake District, wo sich im 19. Jahrhundert die sogenannten Lake Poets niederließen – William Wordsworth arbeitete (und verzweifelte) hier an seinem philosophischen Gedicht „The Recluse“ (Der Einsiedler). Von hier geht es wieder in die Yorkshire Dales, diesmal nach Hawes und Settle. Mein Fahrrad, von dem mittlerweile an allen Enden nasse Handtücher und Wäschestücke wehen, bietet einen abenteuerlichen Anblick. Eine Verkäuferin im Spar-Laden hat Mitleid und offeriert einfach so ihr Gästezimmer.

Und am vorletzten Tag passiert es dann doch noch: Die Aufhängung des Hinterrades streikt. Zwei Straßenarbeiter transportieren mich samt Fahrrad in ihrem Truck nach Clitheroe („No bother, Love!“) zur nächsten Fahrradwerkstatt. Mit neuem Hinterrad rolle ich am Abend wieder in Hebden Bridge ein: Die letzten zwei Nächte wohne ich bei Linda, bevor ich den Rochdale Canal entlang nach Manchester fahre.

Myrta Köhler

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