zum Hauptinhalt
Offen für alle. Bonzenrevier war gestern

© picture alliance / ZB

Reise: Heitere Neugier im Vierteltakt

Zu Fuß durch den grünen Bogen zwischen Oder und Ostsee. Was ein Wanderer auf 220 Kilometern erleben kann

Ein paar Sekunden lang fühlt sich der Wanderer an die Umrisse einer kastilischen Festungsanlage erinnert, mit runden Wehrtürmen, die sich grau und braun in den Himmel von La Mancha recken. Dergleichen ist im brandenburgischen Eberswalde eigentlich nicht zu erwarten, es sei denn, man lässt sich durch die gewaltigen Silotürme irritieren, die der Agrarhändler Märka am nördlichen Stadtrand aufgebaut hat. Nebenan zeigt ein Bauunternehmen, was mit Beton alles zu machen ist: Vor der Fabrik windet sich eine mannshohe Skulptur aus Beton wie eine gebrezelte Wurst.

Von dieser bissfesten Wurst bis zur Fabrik, wo die echten „Eberswalder Würstchen“ hergestellt werden, sind es ein paar langweilige Bundesstraßenkilometer, die nur mit Stoizismus und jener heiteren Neugier abzumarschieren sind, welche ein Wanderer so nötig braucht wie Heringe für sein Zelt. Aber der Anfang ist gemacht. Die ersten Schritte sind getan durch den grünen Bogen, der sich über Nordostdeutschland legt, von der Oder bis fast vor die Lübecker Bucht. Rund 220 Kilometer erwarten den Wanderer zwischen Eberswalde und Wismar und die wald- und seenreichen Landschaften der Schorfheide, der Uckermark, der Feldberger Seenlandschaft, des Müritz- Nationalparks, des Naturparks Nossentiner / Schwinzer Heide, der Goldberger Seenlandschaft.

Grün-trüber Schlick hat sich in die Waldsenke gelegt, aus der dreißig, vierzig zerschmetterte Kiefernstämme herausragen – sie werden im Sturmbruch zu Schaden gekommen sein und formen ein bizarres Bild von Zerstörung und natürlicher Rückeroberung. Kann gut sein, dass sich die Storchenfamilien der Dörfer ringsum aus dem Reservoir des seltsamen Tümpels bedienen. Mal nisten drei dieser faszinierenden Großvögel auf den Schloten oder eigens fabrizierten Eisenkonstruktionen, mal sind es sogar vier.

Für einen gelernten Berliner könnten die ersten Kilometer durch die Schorfheide fast vertrautes Terrain sein; es geht an Britz vorbei, an Lichterfelde, auch Stegelitz ist nicht weit entfernt. Friedrichswalde spiegelt ein bisschen die neuzeitliche Geschichte der Region wider; an die untergegangene Holzschuhfabrikation erinnert am Ortseingang die Statue eines hölzernen Holzschuhmachers – im Ort wurden bis Mitte der 50er Jahre die Klapperklompen industriell gefertigt und exportiert. Heute wird das Handwerk noch in einer Schauwerkstatt vorgeführt.

Unweit des Kolonistendorfs, rund um die historischen Ziegelgebäude der Oberförsterei Reiersdorf, ist die jüngere Naturgeschichte der Landschaft zu studieren, die unter dem Jagdfieber Hermann Görings und später Erich Honeckers zu leiden hatte, die das Areal teilweise entwässern ließen, um auch Wild vor die Flinte zu kriegen. Vor einer Beobachtungskanzel weitet sich heute eine Brach- und Sumpflandschaft, die einmal der „Reiersdorfer See“ war. Dort ist jetzt, mit etwas Glück, Feldstecher und viel Zeit, äsendes Dam- oder Rehwild zu beobachten.

Zu DDR-Zeiten, zumal wenn Staatsjagd war, waren die Waldungen um Reiersdorf abgeriegelt, auch für die Gäste des gigantomanischen Hotelkomplexes am Lübbesee vor Templin, ein neungeschossiger Beherbungsbetrieb in Plattenbauoptik, der seinen Betoncharme über die Zeiten erhalten hat. Das Seehotel kontrastiert mit dem nahegelegenen Templin, in dem sich nicht einmal der orientierungsloseste Suffkopp verlaufen könnte – er torkelte überall vor die komplett erhaltene mittelalterliche Stadtmauer aus Feldsteinen.

Wenn der Morgen graut auf dem Zeltplatz am Templiner Fährsee, vermelden das hier die Enten und Gänse; schade, dass es keine schallabweisenden Zeltplanen Marke Schnattropax gibt. Ein paar Schwimmzüge im frisch temperierten See geben jeder Müdigkeit den Rest und bringen den Wanderer auf Touren. Der Vierteltakt – mit jedem vierten Schritt klopft der Stock auf den Boden – rhythmisiert das Gehen und gibt den Sinnen ein brandenburgisch-mecklenburgisches Mantra vor, das einschläfernd wirken könnte, wäre da nicht die, ächz, Erdanziehungskraft des Rucksacks und dieses wiederkehrende Aufblitzen.

Hier in der mecklenburgischen Seenplatte, wo manche Ortschaften sogar mit zwei Waldseen gesegnet sind, zuckt ungefähr alle Viertelstunde ein schimmerndes, silbriges Licht durch Schilf, Unterholz und Kiefern: schon wieder ’n See! Sandig sind die Wald- und Wanderwege, auf widersprüchliche Weise wanderfeindlich und -freundlich zugleich. Einerseits schonen sie Fußsohlen und -gelenke, andererseits erfordern sie zusätzlichen Aufwand für jeden Schritt.

Märkischer Sand, glattester Wiedervereinigungsasphalt, Kopfsteinpflaster aus fontaneschen Kutschzeiten, überwucherte Hohlwege, Wildschneisen, Schotter und Ziegelbruch, nadelweiche Forstwege und Pfade, wo sich alle Beläge durchmischen – binnen weniger Stunden marschiert ein Wanderer über die kuriosesten Wege. Robuste Wanderschuhe halten so was aus – aber wenn solche Routen, wie’s bisweilen geschieht, eigens für Radwanderer ausgewiesen werden, sollten die Erfinder in den Tourismusbürokratien sie zur Strafe selbst abfahren müssen.

Heidelandschaften sind Menschenwerk; hier wurde geholzt. Weil die Waldungen vor Lychen in drei, vier Jahrzehnten von den sowjetischen Besatzungstruppen zum Truppenübungsplatz inklusive Schießbahnen und Raketendepots umgewidmet wurden, verschwand der Wald. Heute, 20 Jahre nach Abzug der Truppen, ist die Tangersdorfer Heide wieder dabei, ihrem Namen alle Ehre zu machen – aber sie ist wegen der Munitionsbelastung streckenweise noch No-go-Area.

Lychen tut sich auf dreierlei Weise hervor. Erstens hat der 20er-Jahre-Humorist Otto Reutter über die Stadt gereimt: „Lychen ist ein schöner Ort, liegt zwischen Fegefeuer und Himmelpfort.“ Zweitens wurde hier die Sicherheitsnadel erfunden, ein Umstand, der niemandem verborgen bleibt, weil unablässig darauf verwiesen wird. Und drittens gibt’s das Gasthof am Stadttor, wo sie manchmal Livemusik spielen, immer ordentliches Bier zapfen und uckermärkisches Essen jenseits der Fritteuse auftischen, deren Missbrauch hierzulande oft Gastronomenpflicht zu sein scheint. Probieren Sie stattdessen Maränen, das sind heringsähnliche Fische aus den umliegenden Seen.

Ungefähr eine entschlossene Tagesetappe braucht’s, um von Neustrelitz bis Waren zu kommen. Im Müritz-Nationalpark, kurz vor Waren wird’s ein wenig unübersichtlich – der Wanderer verirrt sich in einer von Eisenbahnern genutzten Laubenkolonie und muss (berechtigten) Spott ertragen: „Dies hier ist aber nicht Santiago de Compostella“, ist noch der mildeste Hohn.

Zu Unrecht ist der Naturpark Nossentiner / Schwinzer Heide nicht so bekannt wie der angrenzende Müritz-Nationalpark. 60 Seen listet die zuständige Naturschutzverwaltung auf; der Wanderer ist unterwegs in zwei oder drei dieser stillen Gewässer gesprungen, die schon rein optisch einen wundervollen Kontrast zu dem etwas monochromatisch grünen Kiefernmonopol des Waldes bilden, in dem man sich über jedes Buchenlaub freut. Zu DDR-Zeiten war die Nossentiner Heide ein als „Naturschutzgebiet“ getarntes Jagdrevier für Staats- und Parteigrößen, das weithin unzugänglich war. Heute ist der Naturpark für alle geöffnet.

Witzin, zwischen Güstrow und Sternberg, ist ein dorfgewordener Hammerwurf. In der 520-Seelen-Gemeinde sind die besten Werfer Mecklenburgs zu Hause, und der Sportplatz hat neuerdings eine Anlage plus Netzvorrichtung, um zum Beispiel vorbei schnürende Wanderer auf dem Weg in die Waldungen zu verschonen. Eine Joggerin kreuzt zum dritten Mal den Weg des Wanderers; statt eines Schnapses gibt’s eine kurze Plauderei über das übliche Woher und Wohin. Ihr Mann, sagt sie, habe sich gerade zu Fuß von Hamburg nach Wismar aufgemacht. Könne gut sein, sagt der Berliner Wanderer, dass man sich genau dort begegne. In zwei oder drei Tagen.

Bevor es dazu eventuell kommt, gibt’s was zu schmunzeln: Den ansehnlich hergerichteten Töpferhof Lenzen, eine Keramiktöpferei nahe Sternberg, ziert ein Spruchband wie aus alten Zeiten: „Unser Ziel: hohe Produktionsergebnisse“.

Zur Startseite