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Reise: Im Bauch der Geschichte

In Stettin bauten die Nazis 1941 einen riesigen Bunker über zwei Ebenen. Das unterirdische Labyrinth kann besichtigt werden

Dämmerlicht in der Fußgängerunterführung. Eilig hasten die Reisenden der westpolnischen Stadt Szczecin (Stettin) durch den niedrigen Gang, der die Schalterhalle mit den Gleisen verbindet. Schnelle Blicke wechseln zwischen Anzeigentafel und Armbanduhr. Ganz am Ende des Ganges, direkt an der Treppe zu Gleis 3, schiebt Ewa Grieger unbeobachtet eine schwere Stahltür auf und schaltet die Taschenlampe ein.

Seit gut zwei Monaten führt die Reiseleiterin Touristen von dort aus in den Bauch ihrer Stadt – in die 2500 Quadratmeter große Luftschutzbunkeranlage, die 1941 im Rahmen des „Führer-Sofortprogramms“ für die deutsche Zivilbevölkerung gebaut wurde und sich auf zwei Ebenen erstreckt. 1500 Leute sollten bei Bombenangriffen dort Platz finden, in endlosen Tunneln und Warteräumen, ausgestattet mit eigener Strom- und Wasserversorgung. „Bei den schwersten Luftangriffen im August 1944 drängten sich hier 5000 Menschen“, sagt Ewa Grieger zu ihrer Reisegruppe – die gerade mit dem Regionalexpress aus Deutschland eingetroffen ist und sich hinter der Mittfünfzigerin in den dämmrigen Bunkervorraum schiebt.

Während Grieger mit ernster Miene Bauhelme verteilt, posieren die Ersten vor einer alten Schaufensterpuppe mit Gasmaske zum Erinnerungsfoto. Keiner der Gänge, der für die Touristen freigegeben wurde, ist vom Einsturz bedroht, doch Grieger lässt sich nicht beirren: „So ist alles doppelt authentisch.“ Also nimmt sie ihr Mikrofon, den Kassettenrekorder und öffnet die Tür in die Gasschleuse.

Die strategische Lage der Hafenstadt war entscheidend, um als eine von sechs Städten 1941 in das „Führer-Sofortprogramm“ aufgenommen zu werden: Stettin zählte damals 400 000 Einwohner und galt – wie noch heute – als wichtiger Industriestandort und Verkehrsknotenpunkt: Im nahegelegenen Pölitz (Police) produzierte die IG Farben für die Kriegsmaschinerie Kraftstoff.

Plötzlich bleibt Ewa Grieger stehen und schiebt den Lautstärkeregler ihres Kassettenrekorders hoch bis zum Anschlag. Ohrenbetäubendes Sirenengeheul hallt durch die Gänge: „Die Wände sind hier drei Meter dick. Hier wurde nicht gespart. 500 Kilogramm-Bomben haben die ausgehalten.“ Ihre Stimme tönt fast triumphierend übers Mikrofon. Der Stadt allerdings nützte das wenig: Nach dem Krieg wurde die Metropole am Stettiner Haff zur Hauptstadt der polnischen Wojwodschaft Westpommern und war weitestgehend zerstört. Alles Deutsche wurde aus der Stadt verbannt: Denkmäler ebenso wie Inschriften.

Die Bunkeranlage, die mittlerweile als die größte Polens gilt, wurde kurzerhand umfunktioniert, um während des Kalten Krieges nun die polnische Bevölkerung vor einem drohenden Atomkrieg zu schützen – sehr zum Leidwesen von Griegers Chefin Agnieszka Fader, Büroleiterin des Tourismusbüros A. R. Centrum Wynajmu i Turystyki: „Alle deutschen Spuren wurden beseitigt. Den Bunker wieder in den Originalzustand zu versetzen fällt uns sehr schwer, weil wir keine Historiker im Team haben.“ Deshalb suchte ihr Büro Anfang des Jahres kurzerhand den Kontakt zum Verein „Berliner Unterwelten“. Der Verein, der seit zehn Jahren die Bunkeranlagen der Hauptstadt erforscht, zählte im vergangenen Jahr 80 000 Besucher. Davon träumt auch Fader.

Ingmar Arnold, im Berliner Vorstand zuständig für die internationalen Kontakte des Vereins, gibt den Stettiner Unterwelten große Chancen auf Erfolg, gerade auch wegen der Nähe zu Berlin. 130 Kilometer trennen die beiden Städte. „Stettin kann leicht mit anderen Großanlagen in Deutschland mithalten.“ Er warnt jedoch davor, eine Authentizität vorzugaukeln, die es nicht gibt: „Zu viel Rekonstruktion bereitet Unbehagen“, sagt er.

Amüsiert erinnert er sich an seinen ersten Besuch im Stettiner Tiefbunker Anfang März dieses Jahres. „Gerüche verbreiten ist Landsverrat“, warnte da die frisch gepinselte Frakturschrift auf einer Wand. „Dieser Schrifttyp wurde 1941 nicht mehr verwendet. Das sollte schon korrekt sein – mal abgesehen von der richtigen Schreibweise“, sagt er mit breitem Grinsen. Mittlerweile hängt der Erinnerungsschnappschuss gerahmt im Berliner Büro, das Original wurde orthografisch und schrifttypisch längst verbessert.

Ewa Grieger hat ihre Taschenlampe ausgeknipst, die Touristen wieder in die Bahnhofsunterführung entlassen. Während sie die Kassette im Rekorder zurückspult, wartet sie schon auf die Gruppe, die mit dem nächsten Regionalexpress aus Deutschland eintreffen wird. An Gleis 3, direkt unter der Treppe.

Stettin erreicht man mit der Bahn (umsteigen in Angermünde) und auch an drei Tagen in der Woche mit Berlin Linien Bus.

Die Bunkerführungen können direkt am Bahnhof im Reisebüro Centrum Wynajmu i Turystyki an der Ulica K. Koluma 1 gebucht werden. Reservierungen unter: www.schron.szczecin.pl

Melanie Longerich

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