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Rätselhaft. Devenish Islands steinerne Bauten und Kreuze werfen Fragen auf.

© Wenzel

Irland: Lilliput hat eine Festung

Grabkreuze, Metzgerkunst und Flunkereien: Wer im Hausboot auf dem Erne River unterwegs ist, kommt Irland ganz nah.

Der Taxifahrer flucht. Wo zum Teufel ist die Marina? Sein Navi weiß darauf keine Antwort. Publik Marina Belleek? 200 Kilometer von Dublin, an der Grenze zwischen Nordirland und der irischen Republik? Kurz vor der Mündung des Erne River in den Atlantik? Charly hilft. „Fahren Sie in Belleek über die Brücke", empfiehlt der Chef der Charterbasis in Tully Bay per Handy. „Zweigen Sie vor dem Supermarkt rechts ab, halten Sie sich rechts, und Sie sind an der Marina. Ihr Boot liegt am Steg. Die Schlüssel stecken, Handtücher und Bettwäsche sind drin.“ Aber welches Boot gehört uns? Das mit der großen Hecktür und den schicken Teakstühlen? Oder das kleinere mit dem luftigen Außensteuerstand? Bevor ich Charly erneut anrufen kann, marschiert Töchterchen Alexa die Hausbootflotte ab, entdeckt einen Zettel mit unserem Namen und verkündet stolz: „Papa, wir haben das dritte Schiff von links.“

Hey, this is Ireland, bloß keinen Stress, Töchterchen, zieh die Schwimmweste an und mach die Vorleine los. Ein paar Manöver, und unser Hausboot nimmt den Erne River unter den Kiel. Keine Tiefdruckkapriole traktiert das Gemüt, der Himmel ist postkartenkitschblau. Dafür heißt es aber: Augen auf! Das Fahrwasser ist schmal, überall auf dem Flüsschen lauern Untiefen, Strömungen und Fischernetze. Steuerbord grüßen die schroffen Klippen von Magho, backbord lassen sich Fleckvieh und Schafe das herrlich duftende Gras munden.

Nach rund acht Kilometern – pardon, wir sind in Nordirland, also nach knapp fünf englischen (!) Meilen – öffnet sich der Lower Lough Erne. Vor uns liegt ein großer, aus den Schmelzwassern der Gletscher am Ende der letzten Eiszeit entstandener See. 40 Kilometer südöstlicher verengen sich die Fluten wieder zum Erne River, mäandern durch sattgrüne Feuchtlandschaften und gehen dann ein paar Meilen weiter in den 40 Quadratkilometer großen Upper Lough Erne über. Insgesamt zieren die beiden Gewässer gut 150 kleine und kleinste Inselchen.

Der nördliche Teil des Lower Lough Erne gilt als tückisches „Starkwind-Revier“. Wenn Neptun schlechte Laune hat oder der keltische Wettergott Taranis seinen Donnerkeil schwingt, wird das geruhsame Hausbootvergnügen hier zum Tanz auf dem Vulkan. Doch heute es ist windstill, unser Binnenkreuzer liegt ruhig wie die „Queen Mary“ im Wasser. Mit sieben Kilometern pro Stunde, mehr geben seine gedrosselten Selbstzünder-Pferdchen im Heck nicht her, steuern wir Lusty Beg Island an. Kaum an Land, macht es sich Alexa auf der Gartenterrasse des gleichnamigen Restaurants bequem. „Papa, ich mag nicht auf den Friedhof.“ Alle meine Überredungskünste sind für die Katz. Unsere Kleine will das janusköpfige Steinmännchen auf dem alten Caldragh-Friedhof der Nachbarinsel Boa Island nicht sehen.

Auch das nächste Wissenschaftsrätsel, die dustere Kirchenruine auf White Island samt ihrer gruselig anmutenden Steinfiguren ist nicht nach ihrem Geschmack. „Gruftikram“, quittiert sie meine bildungsbürgerliche Schaulust und widmet ihre Aufmerksamkeit den beiden Anglern am Anleger. „Do you fish for your dinner?“ fragt sie. In englischem Irisch und damit ziemlich unverständlich, erfährt Alexa, dass Angeln in Irland Sport ist und nicht der profanen Selbstversorgung dient. Selbstverständlich, versichern die Petrijünger, lande der Schuppengeselle wieder in seinem angestammten Lebensraum.

Paradies für Freizeitkapitäne

Nach zwei Tagen hat sich der Rhythmus an Bord eingespielt. Das satte Grün, das Labyrinth der Inselchen und die brotkrümelsüchtige Entenarmada im Kielwasser gehören ebenso zur Tagesordnung wie die niedlichen Wollknäuelschafe auf den Hügeln und das hanebüchene Seemannsgarn der Hobbykapitäne in den Wohnstubenpubs nahe der Anleger. Auf Devenish Island schließlich entdeckt sogar unser Töchterchen ihr Faible für die irische Mythologie. „Cool, einfach nur cool“, findet sie das Gewusel aus verwitterten Hochkreuzen, mittelalterlicher Klosterruine, uralten Grabsteinen und einem wespentaillenschlanken, 30 Meter hohen und 900 Jahre alten Rundturm. „Sieht aus wie eine Rakete. Ob die Mönche damit zum Mond fliegen wollten?“

Heinrich Böll war bekennender Irland-Fan. Er liebte die Insel, da – wie er sagte – es auf ihr Orte gebe, in denen man die Stille hören könne. Ob sich der Literaturnobelpreisträger heute in Enniskillen wohlfühlen würde, darf bezweifelt werden. Immerhin zählt die auf einer Insel zwischen dem Upper Lough Erne und dem Lower Lough Erne gelegene Stadt rund 15 000 Einwohner und ist damit für irische Verhältnisse so etwas wie eine Megacity. Zu ihren Topadressen gehört neben einer trutzigen Lilliputfestung aus dem 15. Jahrhundert und einem modernen Shoppingcenter (mit eigenem Anleger!) vor allem Pat O’Doherty’s Metzgerei in der Belmore Street. Stets bestes Fleisch, so das Credo dieses irischen Urgesteins. Selbst der Buckingham Palast im (für die irische Volksseele Lichtjahre!) entfernten London weiß seinen Black Bacon, Frühstücksspeck, zu schätzen.

Irland ist ein Paradies für Freizeitkapitäne. Auf 370 Kilometern schlängelt sich der Shannon River vom Norden der Republik nach Südwesten und mündet bei der Hafenstadt Limerick in den Atlantik. Von Carrick-on-Shannon aus ist der Fluss über den Shannon-Erne-Waterway-Kanal mit dem nordirischen Upper Lough Erne verbunden. Der erste Spatenstich zum Bau des 63 Kilometer langen Kanals erfolgte 1846. Doch gegen die schnellere und deutlich kostengünstigere Eisenbahn hatte das Prestigeobjekt von Anfang an keine Chance. Der Schildbürgerstreich kostete 250 000 Pfund Sterling und spielte in den ersten fünf Betriebsjahren gerade mal 18 Pfund Kanalgebühren ein. 1869 wurde der Wasserweg geschlossen. 120 Jahre später setzen sich die Tourismusmanager in Dublin und Belfast über alle politischen Differenzen hinweg, pumpen EU-Mittel in die Renovierung und eröffnen den Waterway erneut, nun ein zoll- und kontrollfreier Mix aus Kanalabschnitten, Flussläufen und kleinen Seen.

Wie ein Kunstwerk von Caspar David Friedrich schält sich Castle Crom aus den milchigen Morgennebeln. Alexa hat die Texthoheit über das Logbuch; jede Kursänderung wird akribisch notiert, jeder Anleger mit einer Schulnote bedacht. Crom als Dreiklang aus alt-englischem Herrensitz, fantastischem Naturpark und romantischer Weltflucht bekommt die Premiumnote „Eins“. Ich hole mir ein Guinness aus dem Kühlschrank, mache es mir auf dem Außensteuerstand bequem.

„Hi, where you from?“ Die Jungs von den Nachbarbooten nehmen Kontakt mit Alexa auf. „We come from Belleek“, erzählt sie , „morgen geht es den Erne herunter nach Belturbet und dann über den Shannon-Erne-Waterway weiter nach Charrick-on-Shannon.“ Die – pardon – vorpubertären Wichtigtuer – geben sofort schrecklichste Erlebnisse auf eben diesem Waterway zum Besten. Alexa wird blass. „Papa, Papa, der Shannon-Erne-Waterway ist saugefährlich! Überall very high Schleusenwände und extremely dangerous Strömungen. Wenn wir den kleinsten Fehler machen, kentert das Boot.“

Ein Blick in die Revierkarte schafft Klarheit: Der Wasserweg steigt und fällt auf seinen 63 Kilometern gerade mal 45 Meter, den Höhenunterschied regulieren 16 kleine Schiffslifte, die alle ganz easy per Knopfdruck in Eigenregie vom Schleusenrand aus zu bedienen sind. „Alexa, mach dir keine Sorgen. Das schaffen wir schon. Schließlich sind wir ja Profis. Du und ich.“

Gerhard Wenzel

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