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Wölfe

© Mauritius

Italien: Frösteln vor dem Alphatier

Die Wölfe sind zurück in Europa. Die meisten der scheuen Tiere leben in Italien. Die Bewohner haben ihren Frieden mit ihnen gemacht.

Drei Worte, die den Wald verändern: „Er ist hier“, flüstert Davide Palumbo. Eine kleine Gruppe Menschen steht im Stockfinsteren um ihn herum und versucht, den Atem anzuhalten. Kein Laut ist zu hören in dieser windstillen Nacht, die friedlich zu nennen übertrieben wäre. Denn jetzt wissen es alle: Der Wolf ist in der Nähe. Und selbst wenn er Menschen in Europa noch nie angegriffen hat: Ein Wolf kann ausgewachsene Hirsche oder Wildschweine töten.

„Der Wolf ist eben der Wolf“, hatte es Naturführer Pietro Antolini am Vorabend auf den Punkt gebracht und von dem orangefarbenen Augenpaar berichtet, dem er sich unvermutet gegenübersah, als er einst allein im Wald der Emilia Romagna unterwegs war. Schwarz sei die Nacht gewesen, genau wie heute. Nein, Angst habe er keine gehabt, erinnerte sich Pietro. Aber Respekt, großen Respekt.

So kreisen die Gedanken, während sich die Augen vergeblich an die Dunkelheit zu ge wöhnen versuchen. Tagsüber waren im Regionalpark Corno alle Scale dicht bewachsene Berge zu sehen, die Buchenwälder gelb gefärbt, dazwischen wilde Kirschbäume in rotem Herbstlaub, Lärchen und Schwarz eschen. Die Blaubeeren sind abgeerntet. Jetzt tragen die stacheligen Wachholderbüsche Früchte, in den Restaurants der Region riecht es nach Trüffeln, Steinpilzen und gerösteten Kastanien.

Seit fünf Jahren erforscht der Biologe Davide Palumbo hier im nördlichen Apennin die Wölfe, „sein“ siebenköpfiges Rudel im Regionalpark Corno alle Scale kennt er ganz genau. Piadino zum Beispiel, den ehemaligen Alpha-Wolf. Großfuß hat er ihn getauft, weil seine Spuren in Schnee oder Schlamm einen Durchmesser von stattlichen 13 Zentimetern haben. Doch es hat lange nicht geregnet, heute verrät keine noch so kleine Tatzenspur, wo sich die Wölfe gerade aufhalten. Aber Davide hat etwas gerochen.

Mit der Taschenlampe sucht der Biologe den grasbewachsenen Boden einer kleinen Lichtung ab. In der Mitte prangt eine wölfische Hinterlassenschaft älteren Datums. Er kennt sie schon, zeigt Reste von Fell und Knochen – und schnuppert. „Hier hat ein anderer Wolf seine eigene Duftmarke hinterlassen, und zwar vor nicht allzu langer Zeit“, erklärt er. Bis zu 60 Kilometer lange Streifzüge unternimmt ein Wolf pro Nacht, und die Reviere sind groß. Die Chance, während einer Wolfs exkursion einen Wolf zu sehen, ist daher fast gleich null, auch wenn ihre Zahl in Italien inzwischen auf mindestens 800 Exemplare angestiegen sein soll. Aber es mag einer zu hören sein.

Davide drückt die Play-Taste seines tragbaren CD-Spielers und hält ein Megafon in die Höhe. Zwei erwachsene Wölfe heulen auf Track 1, ihre beiden Welpen fallen eine Oktave höher ein. Ein klares Signal an jeden Artgenossen, der hier im Wald umherstreift: Antworte! Du musst dein Revier verteidigen! Die Menschen drängen sich dichter und kehren einander und nicht mehr dem sie umgebenden Wald den Rücken zu. Die Wölfe antworten nicht.

Öfter als vier- oder fünfmal pro Jahr werden Wolf-Howling-Exkursionen nicht angeboten, um das im Regionalpark lebende Rudel nicht in Stress zu versetzen. „Man weiß vorher nie, ob man einen Wolf hören wird“, hatte der Regionalpark-Mitarbeiter Pietro Antolini angekündigt, „wir sind hier nun mal kein Zoo. Dies hier ist die Realität, und Tiere sind unberechenbar.“ Als dann aber tatsächlich den ganzen Abend lang kein einziger Wolf zu hören ist, obwohl Davide Palumbo den Wagen fünf Mal anhalten lässt zwischen Monte Grande und Monte La Nuda, da ist der Wolfsforscher enttäuschter als seine acht Gäste.

Davide Palumbo hatte erwartet, neue Daten notieren zu können über Aufenthaltsorte und Wanderbewegungen des Rudels. Nur in zweiter Linie ist Wolf- Howling eine touristische Attraktion. Die italienischen Wölfe haben sich in den letzten 30 Jahren ebenso verändert wie ihr Lebensraum, also müssen neue Daten her. Davide sammelt Haare, um ihre DNA zu analysieren, er bestimmt ihre Nahrung anhand ihrer Exkremente. Noch vor drei Jahrzehnten war der Wolf in Italien vom Aussterben bedroht. Erst seit den 70er Jahren sind Wölfe streng geschützt und haben sich deutlich vermehrt. Auch in Deutschland sollen rund 40 erwachsene Wölfe leben, die meisten wanderten aus Polen ein. Diesen September wurde der erste im niedersächsischen Solling gesichtet. Doch die meisten Wölfe Westeuropas leben in Italien – genauer gesagt im nördlichen Apennin.

„Wir wissen hier alles über Wölfe“, sagt Alessandro Bonarelli und wischt sich die Hände an der Schürze ab. Gemeinsam mit seinem Nachbarn ist der Gastwirt aus La Cà der Letzte, der im Hochland der Region Corno alle Scale Vieh hält. Zwangsläufig beschäftigt er sich deswegen auch mit Wölfen. „Wir sind für die Wölfe hier der Supermarkt“, sagt er. Seinem amüsierten Grinsen nach scheint ihn das nicht weiter zu stören, auch wenn ihm die Wölfe sechs Ziegen und ein Schaf gerissen haben. Das war vor sieben Jahren. Seitdem sind Alessandros Tiere nachts im Stall.

Das Wildschwein, das er zu Ragout verarbeitet serviert, hat Alessandro selbst geschossen, Terrinen mit hausgemachten Nudeln dampfen auf dem Tisch, der Parmesankäse ist mit Balsamico garniert. Es gibt deftigen Bohneneintopf, Risotto mit Steinpilzen und Ravioli mit Fleischklößen, und irgendwann hört jeder auf, die Gänge zu zählen. Die Emilia Romagna wird als „Bauch Italiens“ bezeichnet, und anscheinend nimmt nicht nur die Qualität, sondern auch die Menge der Speisen proportional mit den Höhenmetern zu.

Auch in Fiumalbo, zu Füßen des höchsten Berges der Region, des 2 165 Meter hohen Monte Cimone, werden Wildschweinschinken, Wildschweinragout und Wildschweinwurst verkauft, und am nächsten Tag im Regionalpark Frignano hallen immer wieder die Schüsse der Jäger durch den Wald. Wildschweine haben sich im nördlichen Apennin ebenso rasant vermehrt wie Rehe und Hirsche. Die Folge: Wölfe finden so viel zu fressen, dass die Rudel wie auch die Tiere selber größer geworden sind. Und sie reißen in dieser Region kaum noch Schafe oder Ziegen, zumal es sowieso kaum noch Viehhaltung gibt – anders als etwa in den Abruzzen oder in Umbrien.

„Natürlich sind Wölfe faszinierende Tiere“, findet denn auch der Schweizer Kurt Jann, der in Umbrien Ferien auf dem Lande anbietet. Man hört schon das große Aber, das gleich folgen wird: Aber die Hälfte seiner kleinen Schafsherde sei von Wölfen gerissen worden, die restlichen 15 Tiere habe er schließlich billig verkaufen müssen. Geblieben sei ihm sein Olivenöl, Esel hielten neuerdings das Gelände nahe dem Lago Trasimeno sauber. „Ich konnte die Schafe nicht mehr ein paar Tage allein lassen wie früher“, sagt er, „seit es so viele Wölfe gibt, hätte man sie jeden Abend einsperren müssen.“ Größere Betriebe könnten sich viele Hunde halten zum Schutz ihrer Herden, aber auch die brauchten Betreuung und Futter. „Die Naturschützer mögen begeistert sein, aber alle, die nur wenige Tiere haben, leiden unter den Wölfen“, sagt Kurt Jann.

Etwa 100 Wölfe, so schätzt der Biologe Davide Palumbo, würden in Italien jährlich getötet, mit Gift oder Gewehren. Selbst hier, wo der Legende nach Romulus und Remus von einer Wölfin gesäugt wurden, geht man nicht zimperlich mit ihnen um. „Lupo“ heißt der Wolf, „lupara“ das Jagdgewehr. „In bocca al lupo“ sagt man, um „Hals und Beinbruch!“ zu wünschen. Wörtlich übersetzt heißt das „dem Wolf ins Maul“ und entsprechend antwortet man üblicherweise „Crepi il lupo!“ – „der Wolf soll krepieren!“

„Die Angst kam später“, erinnert sich Stefano Bonaiuti, der in Lizzano ein Hotel betreibt. Sein Haus liegt in dem Weiler Pozzo, zwei Kilometer von dem nächstgrößeren Ort Lizzano entfernt, und der Wolf überraschte ihn eines Nachts auf dem Weg vom Auto zum Haus. Es sei ein altes Tier gewesen, zerrupft und dürr, sicherlich ein aus gestoßener Alpha- Wolf auf seinen letzten Streifzügen. Ein Raubtier dennoch.

Davide ist gerade von der Unberechenbarkeit der Wölfe fasziniert. Sie seien zwar mit dem Hund verwandt, den Katzen aber ähnlicher, da sie ihre eigenen Wege gehen, möglichst weit vom Menschen entfernt. In Tansania und Südafrika hat sich Davide mit Löwen und anderen Großkatzen beschäftigt, demnächst möchte er Südchinas Tigern auf die Spur kommen. Aber eigentlich verbringt Davide seine Tage und oft genug auch seine Nächte im Gebirge der Emilia Romagna. Dort leben „seine“ Wölfe, die ihn, da ist sich Davide sicher, inzwischen viel besser kennen als er sie. „Sie wissen immer, wo ich gerade bin“, glaubt er. „Ich sehe sie zwar nur selten, aber ich weiß: Sie beobachten mich ganz genau.“

Und manchmal heulen sie dann auch.

Beate Köhne

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