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Kammermusik an Bord: Eine Kabine für die Stradivari

„Mein Schiff 1“ war im östlichen Mittelmeer Schauplatz einer beglückenden Begegnung der Wiener Philharmoniker mit ihren Fans.

Er dreht einfach nicht ab. Die Bosporus-Brücke kommt näher und näher, und auf dem Vorderdeck der „Mein Schiff 1“ halten sie langsam den Atem an. Denn eigentlich hatte Kapitän Dimitris Papatsatsis von einer Sondergenehmigung gesprochen, mit der er sich der Brücke ausnahmsweise bis auf 500 Meter nähern dürfe. Unterqueren kann ein Schiff von dieser Größe die Straßenverbindung zwischen Europa und Asien nicht. Und jetzt sind die Autos und Laster, die da oben im Stau stehen, schon fast zum Greifen nah. Weniger als 180 Meter habe er heranfahren dürfen, verkündet der stolze Kapitän des Tui-Kreuzers „Mein Schiff 1“ kurz darauf, als er das Wendemanöver schließlich doch noch beginnt.

Dass Sicherheit hier großgeschrieben wird, wissen die Gäste eigentlich seit der Seenotrettungsübung vor dem Auslaufen in Malta. Die Akribie, mit der sie ablief, ist mit viel anerkennendem Gemurmel im Theater quittiert worden, aus dem sich immer wieder der Satz herausformt „Gut, dass wir auf einem deutschen Schiff sind“. Freilich ist es diesmal anders als sonst. Normalerweise fahren tatsächlich überwiegend deutschsprachige Gäste mit. Diesmal jedoch sind Musikverehrer aus aller Welt herbeigepilgert, um die Wiener Philharmoniker auf der Themenreise „Meer und Musik“ zu begleiten.

Das Ehepaar aus Taiwan, seit knapp 30 Stunden unterwegs, versteht das Wort „Musterstation“ nicht und lässt es sich von den Sitznachbarn genau erklären. Es wird das letzte Mal sein, dass sie in diesem Theater etwas nicht verstehen, denn in den kommenden sieben Tagen geht es hier nur um Musik. Neben Kammerkonzert, Liedermatinee und anderen musikalischen Höhepunkten finden hier auch die öffentlichen Proben der Wiener Philharmoniker statt, und es werden mehr, als anfangs angekündigt war. Die Wiener sind zwar stolz auf eine bewusst kultivierte „Schlampigkeit“, wie sie es selber nennen, und doch bekennen sie sich zu einer „Liebe auf den ersten Blick“ zu dem für seine Akribie bekannten Herbert Blomstedt. Im vergangenen Jahr hat er im Alter von 83 Jahren das Orchester zum ersten Mal dirigiert, nun ist er mit an Bord.

Die Rettungsübung endet bei den Booten, freilich ohne dass öffentlich die Frage erörtert worden wäre, wie genau man eine Stradivari evakuiert. Konzertmeister Rainer Honeck bewahrt das kostbare Instrument in seiner Kabine auf.

Nur 20 Prozent der Gäste sind ohne „Musikpaket“ an Bord gekommen und können an den Proben und Konzerten nicht teilnehmen. Zu ihnen gehört der füllige Herr mit grauem Schnauzbart. Während das Schiff den Hafen von Istanbul bei einem schmerzlich schönen orangeroten Sonnenuntergang verlässt, vorbei an Minaretten und Kuppeln, erkundigt er sich nach den Vorgängen im Theater so vorsichtig, wie man sich nach einer fremden Religion erkundigt. Das Ehepaar aus Taiwan und der japanische Neurologe mit seiner Frau sind noch ganz beseelt von Josef Haydns Sinfonie „Die Uhr“, die am Nachmittag im Auditorium Anadolu in Istanbul aufgeführt wurde. Um 20 Uhr 30 soll es schon weitergehen mit der nächsten Orchesterprobe. So schön kann kein Sonnenuntergang über dem Mittelmeer sein, dass sie sich die entgehen lassen würden.

Tatsächlich ist das Theater immer voll. Während sonst die Passagiere vorsichtig erst mal die hinteren Reihen bevölkern, um zu schauen, ob ihnen die Musicals und Shows überhaupt gefallen, die auf der Bühne gegeben werden, stehen sie bei dieser Reise schon eine halbe Stunde vor Öffnung an um die besten Plätze.

Auch für die „Mein-Schiff“-Gastgeberinnen Ann-Kathrin und Janina ist diesmal alles anders. Sie managen den Einlass und achten darauf, dass keine Gäste in die Probe platzen und stören. Wann mussten sie denn schon mal alte Damen überreden, doch unbedingt zum Mittagessen zu gehen, zu den Buffets, die sich biegen unter frischen Früchten und Salaten, ganzen Enten und Räucherfisch, von den Süßspeisen gar nicht erst zu reden? „Wir wollen aber doch nichts verpassen“, ist das Argument der Frauen, lieber im Theater zu bleiben.

Es gibt auch tatsächlich viel zu verpassen, gleich am ersten Tag das Rezital von Pianist Rudolf Buchbinder, der Schuberts Impromptu spielt und die Sonaten Nr. 3 und Nr. 21 von Beethoven, eine Stunde lang, alles auswendig, in höchster Perfektion. Nach den Bravorufen formiert sich eine lange Schlange auf der Geschäftsstraße „Neuer Wall“ auf Deck 7, aber kaum jemand hat Blicke für Blumen und Juwelen, für die sonst so populären Bord-Souvenirs oder die maritime Mode in den Läden links und rechts. Alle wollen nur ein Autogramm des Virtuosen.

Man erschrickt fast ein bisschen, wenn einem so jemand dann im Fahrstuhl wieder begegnet, und plötzlich trägt er Shorts und Polohemd und sieht viel kleiner aus als auf der Bühne. Und man ist auch überrascht, wie er sich für eine offenbar besonders erlesene Flasche Whisky, die er in der Kabine vorgefunden hat, ganz weltlich bedankt bei Michael Springer, der diese Musikreise organisiert hat. „Es geht auf solchen Reisen auch darum, die unsichtbare Mauer zwischen Podium und Publikum zu überwinden“, erklärt der Solist. Vermutlich gibt es dümmere Fragen an den 84-jährigen Maestro: Ob es nicht furchtbar anstrengend sei, jeden Tag so lange zu stehen, auf den Proben, beim Anspiel, beim Konzert? Doch seinem fassungslosen Blick nach zu urteilen, kann die Auswahl nicht groß sein: „Wir – musizieren doch“, sagt er langsam, und die ehrfürchtige Art, wie er das Wort „musizieren“ intoniert, als spräche er von einer heiligen Handlung, offenbart die Seele dieser Reise.

„Sogar die Grillen haben im Takt gezirpt“

Der Dirigent Herbert Blomstedt feierte auf der musikalischen Schiffsreise seinen 85. Geburtstag mit einem Konzert in Athen.
Der Dirigent Herbert Blomstedt feierte auf der musikalischen Schiffsreise seinen 85. Geburtstag mit einem Konzert in Athen.

© Martin U.K. Lengemenn, dapd

Ja, das tiefblaue Meer, die malerischen Inseln mit den grünen Hügeln, die geschichtsträchtigen Städte und das Schiff mit seinen eleganten Bars, den vielen Restaurants von Sushi bis Gourmet und den liebevoll gestalteten Kuschelecken sind ein schöner Rahmen. Aber es geht um etwas anderes, es geht um das, was einem Herrn aus Böhmen immer wieder die Tränen in die Augen treibt.

Doch, auch der Passagier mit dem grauen Schnauzbart und die anderen 20 Prozent ohne Musikanbindung bekommen im Laufe der Woche eine Ahnung, worum es bei dieser Reise geht, und warum niemand der Musikfreunde noch einen Fotostopp will an der Stadtmauer von Istanbul. Man könnte stets Wichtigeres verpassen. Kommen einem die Musiker nicht bei der Rückkehr von der Stadtrundfahrt bereits im Stresemann entgegen?

Die Bläsergruppe der Philharmoniker um den Trompeter Hans-Peter Schuh spielt in legerer Kleidung an einem frühen Nachmittag auf dem Pooldeck Bach und Debussy und Mozart, und wegen der 20 Prozent sagen sie netterweise auch immer dazu, was sie gerade spielen. Da verstummen auch die Kinder, und die Paare in den Whirlpools fangen an, ganz träumerisch zu gucken. Nach diesem Schnuppergenuss streben die 20 Prozent zum Indoor-Cycling oder zu den lauschigen Entspannungsmuscheln, während auf die 80 Prozent wieder ein Höhepunkt im Schiffsbauch wartet. Zhang Hong Yan, Meisterin auf der Pipa, dem traditionellen chinesischen Instrument, gibt ein Konzert mit alten Melodien. „Bei uns heißt das Instrument Biba“, flüstert die Japanerin, die klassische Tänzerin war, bevor sie vier Kinder bekam. Sie und ihr Mann waren auch auf der vorherigen Philharmoniker-Reise dabei, aber da gab es weniger Proben.

Auf das Open-Air-Konzert in Ephesus freuen sich alle, und dann wird es doch für manche eine kleine Katastrophe. Zunächst erzählen die Führer auf der antiken Ausgrabungsstätte von den legendären Auseinandersetzungen, die der Apostel Paulus mit den Priestern der Artemis hatte. Sie zeigen die Überreste der Häuser und natürlich die Tempel. Und dann ist es endlich soweit. Schubert auf der Agora. Erst steht die Unvollendete auf dem Programm, dann die Große Sinfonie. Von den 500 Externen aus der Umgebung mal abgesehen, haben sie ja fast alle die Proben gehört, das „Tim.Tim.Tim“ des schwedisch-amerikanischen Maestros, wenn er Takt 30, Takt 70, Takt 221 anstimmt, hier muss ein Pianissimo noch leiser werden, dort müssen die Hörner mehr singen, und im Takt 257 „wäre es schön, wenn wir das Crescendo nicht zu früh machen …“

Und dann ist da beim Konzert ein leises Knistern in den Lautsprechern, das den Taktgourmets fast unerträglich ist. So fein hat er es herausziseliert mit seinem unvorstellbar sensiblen Gehör. Und jetzt das! Noch lange wird es den örtlichen Tontechnikern höchst dissonant in den Ohren klingen. Dabei spielt natürlich auch die mit Geschichte vollgesogene Umgebung eine wichtige Rolle bei diesem Hochamt für die Kultur des Abendlandes mitten in Anatolien. „Auf der Bühne hat es gut geklungen“, sagt der Maestro am nächsten Morgen zu Beginn der Probe. Viele lachen verständnisvoll. Jemand flüstert: „Sogar die Grillen haben im Takt gezirpt.“

Für die Gastgeberinnen und die anderen Helfer an Bord sind die Konzerte durchaus eine Herausforderung. So viele Menschen müssen normalerweise nicht gleichzeitig schnell an- und abtransportiert werden, aber sie bekommen auch viele lobende Worte für die gute Logistik. Ansonsten ist es für die Besatzungsmitglieder eine vergleichsweise ruhige Reise. Die Chefin des Fitnessteams, die sonst schon mal Wartelisten verwalten muss, lässt sogar den Zumba-Kurs mangels Nachfrage ausfallen. Man könnte sich in der bordeigenen Schönheitsklinik die Falten wegmachen lassen, aber nicht ausgerechnet bei dieser Tour.

Schon probt Blomstedt mit den Philharmonikern Beethovens Eroica, und es hat sich herumgesprochen unter den 80 Prozent, gerade bei den Faltenreichen, dass der Maestro in Athen seinen 85. Geburtstag feiert. „Ich habe immer schon von den Wiener Philharmonikern geschwärmt“, sagt er. Das Angebot „mit 1700 Freunden und diesen herrlichen Musikern zu feiern, die so tief fühlend sind, gleichzeitig so locker und so ernst“, sei für ihn eine Art Himmelsgeschenk.

Auch den Musikern gefällt die Atmosphäre auf dem Schiff, dass man sich immer sieht, beim Frühstück, beim Abendessen, dass man in Kontakt kommt mit den Zuhörern, Rückmeldungen erhält. Sie werden aber auch sehr geliebt, zum Beispiel von dem Wiener Passagier, der seit 1971, als er Besitzer eines Abonnements wurde, nur ein einziges Konzert verpasst hat – wegen hohen Fiebers.

Die Gästebetreuer studieren dieses ungewohnte Publikum mit dem liebevollen Interesse von Ethnologen, denen ein fremdes, aber durchaus sympathisches Volk begegnet. Ihnen ist völlig klar, dass sie in diesem Kreis nicht punkten können mit der Info, dass die Golfbälle aus Fischfutter sind und also viele was davon haben, wenn mal einer über Bord geht. Bei der nächsten Tour im westlichen Mittelmeer, da wird „Mein Schiff 1“ wieder die erste Geige spielen, da werden sich rasch die Hängematten und die Schaukelsessel füllen. Dann werden wieder alle dem Kapitän lauschen, der immer wieder ausführlich auf besondere schöne Landstriche hinweist. Aber in diesen Tagen erscheinen selbst zum Shuffleboard gerade mal vier Personen. Es gibt andere Ziele. Der Flügel in der Blaue-Welt-Bar ist normalerweise für Gäste tabu, aber der japanische Passagier spielt so schön …

Die „Eroica“ in der Megaron-Halle wird ein Triumph. Auch Mozarts Violinkonzert Nr. 5, gespielt von Rainer Honeck auf der Stradivari, ist bei dieser Akustik ein Erlebnis. Für die zweite Zugabe bittet der Konzertmeister um Unterstützung: „Wir spielen in d-Moll“. Das „Happy Birthday“ für den Maestro schallt voller Inbrunst aus knapp 2000 Kehlen. Das Orchester hat alles gegeben, um diesen Abend in ein Geschenk zu verwandeln. Eine gemeinsame Schiffsreise hat etwas ungemein Verbindendes.

Gut, dass es wieder Verhandlungen mit den Wiener Philharmonikern gibt, und zwar für den Sommer 2014. Clemens Hellsberg kann noch nichts versprechen, aber immerhin einen Hoffnungsschimmer aufleuchten lassen. Das Paar aus Japan wird wohl wieder dabei sein, wie andere auch, die nach einer intensiven Woche im Hafen von Malta von Bord gehen – beglückt und ganz ohne Sonnenbrand.

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