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Krün: Kanada in Bayern

Das Dorf Krün an der Grenze zu Tirol ist umgeben von unberührter Natur, wie man sie in Deutschland gar nicht mehr vermutet.

Der Lift am Barmsee ist wohl der bescheidenste, den man sich vorstellen kann. Wir wollen keinen Eid darauf schwören; doch mehr als 50 Meter Höhenunterschied dürfte er kaum bewältigen. Als wir das Skifahren lernten, hat es ihn noch nicht gegeben. Man stieg gemütlich den Hang hinauf, fuhr so schnell es eben ging wieder hinunter; und dann alles von vorne. Zehnmal, zwanzigmal. Sollte Abwechslung sein, wurde eine Sprungschanze aus Schnee zusammengebacken und alle Mutigen sind darübergehoppelt, zwei, drei, fünf Meter bestenfalls. Der Lift am Barmsee ist alles, was das Dorf den Skifahrern bieten kann. Wer mehr braucht, vergnügt sich vorzugsweise im nahen Olympiaort Garmisch-Partenkirchen.

Das Dorf heißt Krün, liegt ganz im Süden Bayerns, im Oberen Isartal, nahe der Grenze zu Tirol, und ist von mächtigen Gebirgen umgeben – auf der einen Seite vom Wetterstein mit der Zugspitze, auf der anderen Seite vom Karwendel. Höher hinauf geht es in Deutschland nirgendwo. Und weil man diese Berge im Winter nicht besteigen kann, lässt sich ihre verschneite Schönheit umso entspannter genießen. Zumal sie den Menschen nicht so bedrohlich nahe rücken, sondern Platz für eine weite Hochebene lassen, in der schneebedeckte Wiesen, kleine Buckel, dunkle Nadelwälder und ein paar zugefrorene Seen locker miteinander abwechseln.

Die Hochebene bietet reichlich Raum für anfängerverträgliche Loipen unterschiedlicher Länge und Super-Panoramablicke. Ein Tipp für alle, die schon etwas sicherer auf ihren Langlaufbretteln stehen: die Runde entlang des zugefrorenen, im Sommer als Badeoase attraktiven Barmsees zum Weiler Gerold am gleichermaßen vereisten Wagenbrüchsee. Gerold ist nicht allein als Wendepunkt des Rundlaufes bemerkenswert. Auch ein Kiosk hat sich hier etabliert, in dem der Gerolder Toni seine Würstl, Glühwein, Jagertee und andere Leckereien für Langläufer bereithält. Aufregenderes ist von diesem Ort nicht zu berichten. Doch Tonis Stärkungen sind schon sehr begehrt.

Wer weiter in Richtung Garmisch will, sollte wissen, dass es bald ziemlich mühsam wird. Denn dann bewegt man sich auf einem Gelände, das nur Hochleistungssportlern richtig Freude macht. Zum Beispiel Biathleten, für die bei Kaltenbrunn, dem nächsten Weiler, ein Wettkampfgelände eingerichtet wurde. Denen wollen wir keine Konkurrenz machen. Zurück also zum Barmsee, wo ein nettes Wirtshaus auch die Fußgänger zur Einkehr lockt, die auf bequemen Wegen von Krün oder Wallgau hierherspazieren. Es gehört der Familie Kriner, was aber nicht viel besagt: Fast jeder zweite Krüner heißt Kriner, und warum, muss nicht lange erklärt werden.

Auch in die entgegengesetzte Richtung geht es in eine besonders schöne, besonders ursprüngliche Landschaft. Das weite Bett, das die Isar sich im Lauf ihres langen Lebens gegraben hat, ist von der Zivilisation kaum berührt und erinnert an skandinavische oder kanadische Wildnisse, reduziert auf die Dimensionen Mitteleuropas. Nur ein schmales Forststräßchen verbindet Krün über Wallgau mit Vorderriss, sozusagen dem Vorposten der Zivilisation am anderen Ende. Sonst herrscht hier überall die große Einsamkeit. In Vorderriss verbrachte der bayerische Schriftsteller Ludwig Thoma die ersten Kinderjahre. Ganz dramatisch werden seine Erinnerungen, wenn er berichtet, wie sein Vater als Förster es mit verwegenen Wilderern zu tun hatte; zugegangen ist es da im Isartal bei Vorderriss wie in den Indianergeschichten von Karl May. Im Gasthof Post in Vorderriss bestellen wir am liebsten Schweinswürstl mit Kraut oder Leberkäs mit Ei, bevor wir uns auf den Rückweg machen. Andere oder gar bessere Einkehrmöglichkeiten gibt es an der 20 Kilometer langen Loipe nicht.

Es versteht sich, dass Krün alles hat, was man heute zum Überleben braucht: Ein Internet-Terminal, eine Locanda Italiana, einen Supermarkt. Doch die Krüner haben am „Lifestyle“ noch keinen Schaden genommen. Sie trinken ihr Bier wie eh und je in der „Schöttlkarspitze“ oder anderswo, gehören der Wallgauer Gebirgsschützenkompanie an, und sonntags gehen (fast) alle in die Kirche mit dem schmucken Zwiebelturm, viele Frauen in der Tracht. Anders gesagt: Die Kirche ist im Dorf geblieben, es gibt noch Bauernhöfe, aus deren Ställen es muht und intensiv nach Kuhmist riecht. Das kann kein Nobelort und kein Skigroßraum bieten, nicht für viel Geld. Freilich gibt es auch kein Musikgedröhn, nicht einmal die kleinste Schirmbar, weshalb nachts auch niemand auf der Straße krakeelt.

Nächster Tag: Der Weg zur Fischbachalm ist genau genommen eine Forststraße und gilt im Sommer als ein bisschen langweilig. Aber im Winter! Bei Sport-Holzer leihen wir uns Schneeschuhe und stapfen gemächlich durch den Wald. Das lauteste Geräusch macht der Schnee, wenn er mit dumpfem „Plopp“ von den Fichtenzweigen fällt. Die Alm liegt im tiefen Winterschlaf, keine Spur von Service hier oben. Auf einem Stapel von Holzbrettern, die wir erst vom Schnee befreien müssen, machen wir uns über die mitgebrachte Brotzeit her und halten das Gesicht in die Sonne. Doch wer im oberbayerischen Hochwinter so richtig sonnensüchtig ist, spaziert auf der anderen Seite des Dorfes die Hochstraße hinauf. Sanft steigt sie durch die verschneiten Buckelwiesen bergan und irgendwie dem Himmel entgegen. Sensible Typen mögen hier schon den Sog des Südens spüren. Hinter den Bergen liegt ja, wie jeder weiß, das Land, wo die Zitronen blühen, und der Himmel, den wir in der Ferne sehen, gehört vielleicht schon zu Italien.

Am späteren Nachmittag dann Eisstockschießen auf dem Natureisplatz im Gries: ein klarer Tag, klirrende Kälte, knirschender Schnee unter den Stiefeln. Wenn die Dämmerung heraufzieht, beginnen Wälder und Felsen sich farbig- frostig zu färben. Manchmal trifft man sie hier noch, vermummt und gegen Fußkälte unempfindlich, die Kriner, Holzer, Neuner, die Mayr und Simon, die im Dorf das Sagen haben und deren Familiennamen man auf den hölzernen Kreuzen auf dem Friedhof lesen kann. Wenn die ihr Ziel anvisieren, abwägend maßnehmen und den Stock mit kraftvollem Schwung in die Bahn bringen, sind sie die Ruhe selbst und eins mit der Natur. Fast könnte man meinen, dass hier die Welt noch ganz in Ordnung ist.

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