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London: Wo die Wände wispern

Kensington Palace in London ist renoviert. Dort haben sich große und kleine Dramen der Royals zugetragen – und jetzt sichtbar gemacht.

„Ich habe mich entschieden“, schrieb die junge Königin Victoria 1839 in ihr Tagebuch, „und Albert heute morgen informiert.“ Sie hatte ihrem deutschen Cousin einen Heiratsantrag gemacht. Vier Tage zuvor hatten sie sich im steinernen Treppenhaus von Kensington Palace begrüßt. Was als Verkuppelungsversuch durch Verwandte begann, wurde zur Wirbelwindromanze. Der Raum hinter dem Roten Salon, in dem Victoria als 18-jährige Königin zum ersten Mal ihren Beraterstab versammelte, ist unter dem Titel „Falling in Love“ ihrer Liebesgeschichte gewidmet. Liebesworte zieren Spiegel, Miniaturen der Verlobten hängen an den Wänden. Das Armband und die Strümpfe, die sie einander schenkten, ruhen in Vitrinen. Rasant ging es weiter mit den Jungvermählten; bald hatten sie neun Kinder.

Pechschwarz ist der Raum, der vom Ende des Glücks erzählt. Teppich und Wandbehänge tragen Trauer, es ist fast finster. Victorias Tagebuch enthüllt die letzten Momente. Als „kleines Frauchen“ gab sie sich dem an Typhus erkrankten Albert zu erkennen und wünschte sich einen „Kuss“. Die ungenierten deutschen Zitate belegen auch, dass England sich mit dem Migrationshintergrund seiner Königsfamilie ausgesöhnt hat. Ein schwarzes Trauerband liegt bis heute an der Stelle, an der sein Tod ihre gemeinsame Zeit beendete. Von nun an sollte Victoria 40 Jahre lang Trauer tragen.

„Victoria Revealed“ lautet der Titel der Ausstellung, die in ihren einstigen Gemächern das Leben der dienstältesten Monarchin in der Geschichte Englands enthüllen will und sie dabei immer wieder selbst zu Wort kommen lässt. Sie ist Teil einer umfassenden architektonischen und inhaltlichen Neugestaltung. Die der Öffentlichkeit zugänglichen historischen State Apartments bezeichnete man früher aufgrund der Tatsache, dass die Besucher vom Eingang in vorgeschriebener Route durch die Räume geschleust wurden, gerne als „Sausage machine“. Nun ist die Wurstmaschine modernisiert. Zwölf Millionen Pfund hat die gemeinnützige, von Staat und Krone unabhängige Stiftung Historic Royal Palaces dafür aufgebracht. Es hat sich gelohnt. In der ersten Woche kamen 23 000 Besucher – mehr als früher in manchem Monat.

Die auf neun Räume verdichtete Biografie Victorias soll neben den Queen’s und King’s State Apartments, die die Schicksale diverser Monarchen darstellen, auf Dauer das Bild des Palasts formen. Zum einen, weil Victorias Jugend eng mit dem Palast verbunden ist, in dem sie 1819 geboren wurde. Sie lebte hier mit ihrer Mutter, bis sie die Krone erbte und in den Buckingham Palace umzog.

Ein weiterer Grund mag sein, dass auch Elizabeth II. im Juni ihr diamantenes Jubiläum begeht. Zwar hat sie, anders als Victoria, kein Weltreich erobert. Doch ist es ihr gelungen, eine der ältesten Monarchien der Welt ins 21. Jahrhundert zu steuern.

Erbaut wurde der Kensington Palace 1605 als schlichtes Landhaus. Der aus Holland importierte William III. und seine englische Gattin Mary II., die als Cousin und Cousine königlicher Abkunft und protestantischen Glaubens beide Anspruch auf die Krone hatten und somit gemeinsam regierten, kauften „Nottingham House“ im Jahr 1689 – der guten Luft wegen, die das Haus im seinerzeit außerhalb gelegenen Kensington wohltuend vom muffigen Whitehall Palast an der Themse unterschied. Stararchitekt Christopher Wren baute es für sie um.

Das Herrscherpaar begründete nicht nur den Ruhm Kensingtons als königlichen Wohnsitz, es löste auch das Dilemma, in das Charles II. sein Reich gestürzt hatte. Der Vater von 16 unehelichen Kindern hatte vermutlich einfach nicht die Zeit gefunden, einen legitimen Erben zu zeugen. Sein Bruder James II., der ihm auf den Thron folgte, besaß die für die Stuarts typische Schwäche für die römische Kirche, die seine Absetzung zugunsten seiner Tochter Mary und ihres holländischen Gatten 1688 dringend geboten erscheinen ließ. Ein paar Pünktchen am Arm der 32-jährigen Mary, die sich als Pocken entpuppten, bereiteten indes den frohen Tagen im Palast ein jähes Ende.

Ein Dutzend kleiner Holzstühle erzählt in den Queen’s Apartments die Geschichte des letzten Thronfolgers der Stuarts: des kleinen William. Er war das einzige überlebende Kind der unglücklichen Queen Anne, die von 1702 bis 1714 regierte. Mit siebzehn Schwangerschaften hatte diese Königin alles Menschenmögliche unternommen, um der protestantischen Linie der Stuarts den ersehnten Erben zu schenken. Doch bei der Party aus Anlass seines elften Geburtstags, an die die Kinderstühle erinnern, tanzte William sich zu Tode. So will es die Legende. Wahrscheinlicher ist, dass er an Pocken erkrankte. Eine Woche später war er tot.

Es sind Geschichten wie diese, die den Besuchern immer wieder den Atem stocken lassen – zumal es den neuen Ausstellungen gelingt, die Menschen hinter den historischen Daten und Fakten sichtbar zu machen. In jedem Raum hängen scheinbar tagesaktuelle Zeitungen, die neueste Geschehnisse aus dem Palast verbreiten. Vernehmliches Flüstern vom Band ist zu hören: Mutmaßungen über den Gesundheitszustand des Thronfolgers. Die in den Räumen positionierten Guides sprudeln bei der leisesten Anfrage über vor Details aus dem Leben der einstigen Bewohner. Staubige Geschichte sind hier einzig die Zeiten, als wenige Besucher vor roten Kordeln standen und auf stumme Möbel, schweigende Porträts blickten.

Dass der Palast zudem hinter Bäumen und hohen Zäunen verborgen lag, hatten weder William und Mary noch die später wiederum in Ermangelung eines protestantischen englischen Thronfolgers aus Hannover importierten Könige George I. und II. im Sinn gehabt, die ebenfalls Kensington zum glanzvollen Zentrum ihrer Regentschaften machten. Hatte die deutsche Königin Caroline, Gattin von George II., Garten und Park noch ganz als typisch englische Landschaft gestaltet, mit grünen Flächen und weiten Aussichten, zogen es spätere Bewohner vor, sich hinter dichtem Grün und hohen Gittern zu verschanzen. Im 19. und 20. Jahrhundert fanden Kinder und Kindeskinder Victorias I. hier ein Zuhause und schufen mit dem Rosengarten Distanz zum Park, in dem sich seit 1898 das Volk erging. Spätere Bewohner suchten Neugierige auszusperren: Erst Prinzessin Margaret, die aparte Schwester der heutigen Königin, die hier in den 60er und 70er Jahren glanzvolle Partys gab; seit den 80ern auch Charles und Diana, die als Jungvermählte einzogen. Nach der Trennung gab Diana hier ihr berüchtigtes Fernsehinterview; nach ihrem tödlichen Unfall 1997 versank der Palast fast in Blumenfluten.

Das alles ist vorbei. „Wir haben 60 Bäume gefällt und alle Zäune entfernt“, erklärt zufrieden Todd Longstaffe-Gowan, der leitende Gartenarchitekt. „Jetzt ist der Palast wieder mit dem Park verbunden.“ Der Blick öffnet sich bis zum Hyde Park. Zum Ausgleich für den Kahlschlag wurden 250 junge Bäume gepflanzt, die die neue Aussicht rahmen. Kinder purzeln auf den Rasenflächen umher. „Betreten verboten“ – so etwas gibt es hier nicht. Das Volk darf König sein.

„A Palace for Everyone“ lautete auch das Motto der Umgestaltung: Ein Palast für alle. Es spiegelt die Dynamik eines Königshauses, das früh erkannte, dass es nur unter Zustimmung der Bevölkerung fortbestehen kann. Der schmale Grat zwischen Nähe und Entzauberung, auf dem die Familie der derzeitigen Monarchin oft mühsam balanciert, ist für die vier Ausstellungen eher Chance denn Gefahr.

Denn sie setzen ganz auf die saftigen Details, die aus staubiger Historie packende Geschichten machen. In den King’s Apartments ist zu erfahren, dass George II., der zweite König aus dem Haus Hannover, mit 76 Jahren im Kensington Palast einem Infarkt erlag – auf der Toilette. Der anschauliche Ohrenzeugenbericht eines Dieners und die eher würdelosen Umstände dieses Abgangs machen die deutschen Wurzeln der Windsors englischen Untertanen womöglich erträglicher. Dass nach allen Ausschweifungen, Intrigen und Skandalen bis heute Angehörige des Königshauses im Palast wohnen – ab 2013 der übernächste Thronfolger William, der mit Kate ins Haus seiner Kindheit zurückkehrt –, kann zugleich als Beweis dafür gelten, dass es keine menschliche Unzulänglichkeit gibt, die diese Monarchie nicht überdauern würde.

So konnte die vierte Ausstellung, die nur bis Anfang September zu sehen ist, der unsterblichen Prinzessin Diana gewidmet werden. Etwas anderes hätte das Publikum womöglich auch nicht akzeptiert. Fotos auf dem Kaminsims fassen ein Leben im Blitzlichtgewitter zusammen: Diana mit den Prinzen William und Harry daheim in Kensington Palace; ein farbiges Kind herzend; beim öffentlichen Auftritt in einem Meer von Union Jacks; als Landadelige in Wachsjacke und Stiefeln. Ein Satz an der Wand berichtet von ihrer Kampagne gegen Landminen. Der Rest sind Kleider.

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