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Reise: Mali: Legenden in Lehm

Kekelen hat uns auf seinem Eselskarren nach Teli mitgenommen – sieben Kilometer Langsamkeit auf staubiger Piste. Die Hitze flirrt.

Kekelen hat uns auf seinem Eselskarren nach Teli mitgenommen – sieben Kilometer Langsamkeit auf staubiger Piste. Die Hitze flirrt. Wir zuckeln durch ausgetrocknete Flusstäler und wippen vorbei an knorrigen Affenbrotbäumen, die aussehen, als hätte Gott sie verkehrt herum in die Erde gesetzt. Kekelen ist guter Dinge. In Bandiagara hat er mit Erfolg Touristen werben können, um ihnen das Dogonland zu zeigen. „In letzter Zeit verdiene ich als ‚guide‘ ganz gutes Geld“, sagt Kekelen und lacht. Er freut sich über die steigende Zahl von Besuchern, die kommen, um die „Kinder der Sonne“, wie die Dogon sich selbst gern nennen, kennenzulernen.

Der Stamm, der noch rund dreihunderttausend Seelen zählt, lebt im Südosten Malis und überrascht jeden, der sich in den ausgedörrten Sahel wagt. Marcel Griaule, ein junger französischer Ethnologe, der erstmals 1931 auf die Dogon stieß, war begeistert von der Kultur und Religiosität des Volkes. Sein gesamtes Forscherleben hat er diesem Stamm gewidmet. Mit seinem Werk „Dieu d’ eau“ (Wassergott) hat er die Dogon berühmt gemacht.

„I ni tile, Saoudatou! Here tilenna wa?“ (Guten Tag, hast du den Tag in Frieden verbracht?). Für die Begrüßung nimmt man sich ausgiebig Zeit in einem Dogondorf. Das Ritual ausgetauschter Höflichkeitsfloskeln zwischen dem 17-jährigen Kekelen und dem Dorfältesten dauert über die gereichten Hände hinweg mehrere Minuten und klingt weich und wohltuend in unseren Ohren: „Somogow ka kene wa?“ (Wie geht es der Familie?).

Die Männergemeinde hat sich in der Mittagshitze im Schatten der Toguna, dem nach allen Seiten hin offenen Palaverhaus, versammelt. Man mustert uns verstohlen. Wir bemühen uns um Etikette, und natürlich haben wir ein Gastgeschenk mitgebracht. Dem Stammesältesten haben wir ein paar der begehrten Kolanüsse überreicht. Die Männer kauen sie, so heißt es, um gleichmütig zu werden, um Durst und Hunger zu vergessen. Das allgemeine wohlwollende Murmeln unter dem Dach aus geschichtetem Knüppelholz und Hirsestängeln deuten wir richtig – wir sind akzeptiert und dürfen uns im Ort umsehen.

Ein Dogondorf ist voller Rätsel – und als Fremder kann man leicht ins Fettnäpfchen treten. Rasch ist ein Tabu gebrochen, wenn man die Symbole der unsichtbaren Welt nicht kennt oder gar deren Anordnung durcheinanderbringt. „Alle Dinge wurden von den Ahnen auf die Erde gebracht“, sagt Kekelen, „der Korb, der Speicher, das Haus, das Dorf.“ Jede Störung der einmal festgelegten Ordnung könne den Unwillen der Unsterblichen hervorrufen und großes Unheil bringen, fügt er erklärend hinzu.

Das Ratshaus beispielsweise muss acht Säulen haben, weil acht Stammesahnen das Schicksal leiten. Selbstverständlich bergen auch die Getreidespeicher acht Vorratsbehälter. Die Zahl ist Programm. Und so wundert es nicht, dass ein Dogon acht Zwiebelbeete hat. Es gilt, den unsichtbaren Wesen die Laune nicht zu verderben.

Kekelen deutet auf das Mauerwerk eines Gehöftes und sagt: „Die Nischen dort müssen immer offen bleiben, damit die Ahnen atmen können.“ Die geschnitzten Statuen, die wie zufällig an den Lehmwänden der Häuser lehnen, erzählen ganze Legenden. Selbst profane Dinge wie Steine und Metalle haben einen tieferen Sinn. In der Welt der Dogon ist alles bedeutsam und sakral. Angesichts dieser tiefen Religiosität kommen wir uns als Europäer rational und nüchtern vor.

Auf schmalen Pfaden entdecken wir das Dorf, bewegen uns behutsam und bescheiden. Die Architektur der kubischen Lehmhäuser, die jeweils einen Hof umschließen und die hohen viereckigen Vorratsspeicher mit den kegelförmigen, manchmal bizarr geneigten Dächern aus Holz und Gras, verbreiten die Atmosphäre von Afrika. Der Schmied, Herr des Feuers und im Dorf gefürchtet, schärft die Sicheln für die Hirseernte. Der Bildhauer des Dorfes schnitzt eben eine jener Figuren, die in den Museen der Welt gezeigt werden als Beispiele afrikanischer Kunst. Der Gerber färbt und verziert im dünnen Schatten einer knorpeligen Akazie die von den Fulbe, den nomadischen Hirten, erworbenen Häute. Er fertigt daraus Sandalen, Taschen und Gürtel. „I ni tile …“ von Begrüßung zu Begrüßung werden wir weitergereicht.

Die Ortschaft liegt wie alle der etwa vierhundert Dörfer der Gegend am Fuße eines Felsabbruchs, der „Falaise von Bandiagara“. Der Übergang aus der Ebene des Sahel ist abrupt und überraschend. Die rotbraune Wand aus Sandstein wirkt wie der Bug eines gigantischen Schiffes, das, einhundertvierzig Kilometer lang und dreihundert Meter hoch, das Dogonland zerschneidet. Die Landschaft richtet sich auf ins Vertikale.

Im Schatten der Moschee aus Lehm könnte man jetzt verweilen, dem Alten am Webstuhl zuschauen oder mit ein paar Späßen den Kindern den eher tristen Alltag bunt gestalten. Uns aber reizt ein Aufstieg nach oben, sozusagen in den Dogonhimmel. Wie Schwalbennester kleben geheimnisvolle Bauten in schwindelerregender Höhe an der Felswand der Falaise. Wir steigen durch enge Felsspalten und Grate zweihundert Meter hinauf in ein Reich aus bewohnbaren Höhlen, aus Speichern, Wohnhäusern und Ställen, Ruheplätzen und Altären. Es gibt noch die kunstvoll geschnitzten Türen und Fensterläden, die die turmgleichen Speicher verschließen. Sogar Reliefs von Krokodilen entdecken wir. Einer Legende nach waren es diese Tiere, die die Dogon auf ihrer Flucht vor den islamischen Reitern der Mande hierherführten. Doch das ist siebenhundert Jahre her. Heute leben in der Felswand die Alten, die vom Leben nicht mehr viel erwarten. Und hier, in tiefen Grotten, ruhen auch jene Dogon, die das Zeitliche gesegnet haben.

Die Falaise über dem Dorf Songo ist atemberaubend. Die Felsüberhänge am Ritualplatz des Ortes sind übersät mit Zeichnungen aus der Mythologie des Volkes, heilige Totemtiere, maskentragende Wesen und Schlangen. Noch heute werden die Jungen nach dem schmerzhaften Beschneidungsritual an der Bildergalerie von Songo in die Geheimnisse der Mythen eingeführt.

Kekelen zeigt uns den Platz der „Bewährungsprobe“. Vor nicht allzu langer Zeit hat er sie selbst durchlebt. Schmerzen durfte er nicht zeigen. In der langen Zeit, in der die Wunden heilten, erzählten ihm die Erwachsenen von Ammo, dem Schöpfergott, und seinen Taten. „Ammo knetete die Dogon einst aus Lehm bei Sonnenschein. Als Kinder der Sonne sind sie schwarz gebrannt. Die Weißen aber schuf er im blassen Schein des Mondes – deshalb sind sie so bleich wie Larven.“ Kekelen lacht.

Wilfried Langer, ein Missionar der „Weißen Väter“, kennt sich gut aus in der Mythologie des Volkes. Der Gottesmann lebt seit Jahren im Dorf Tirelli und hat stets vorgesorgt für die erschöpften Besucher, die es auf ihren Touren durch das Dogonland hierher verschlägt. Er verfügt über ein Dutzend Schlafmatratzen auf dem Dach der Missionsstation und einen ausreichenden Vorrat an gekühlter Cola, Sprite oder Flag, dem ausgezeichneten Flaschenbier.

Fasziniert ist Wilfried Langer seit jeher von den Maskentänzen der Dogon, die Aufschluss über die Verbindung des Stammes mit dem Universum und der mythischen Welt geben. Und er weiß von einem Mysterium, auf das es bis heute keine Antwort gibt.

Alle sechzig Jahre nur tanzen die Totemmasken, die die Seelen der Verstorbenen aus der sichtbaren Welt befreien. Der Zyklus des Festes orientiert sich an Sigui (Sirius A), dem hellsten Stern des Himmels, und Po, seinem Begleiter. Der blinde Jäger Ogotemmeli verriet dem verblüfften Ethnologen Marcel Griaule 1950, dass Po sehr alt, sehr klein, hell und ungeheuer schwer ist. Zudem erzählte er dem Völkerkundler, dass Po sich in elliptischen Bahnen um Sigui bewegt. Alle sechzig Jahre aber, wenn der Schatten des Trabanten auf Sigui fällt, wird das große Maskenfest gefeiert – ganze sieben Jahre lang. Griaule war überrascht, denn die Dogon kannten offenbar einen für das bloße Auge unsichtbaren Stern schon seit zweitausend Jahren, lange bevor er als Sirius B überhaupt in das Blickfeld moderner Teleskope geriet. „In ihren Mythen berichten die Dogon von kosmischen Vorgängen, von verborgenen Sternen, elliptischen Bahnen, vom Urknall und Galaxien. Woher sie ihr astronomisches Wissen haben, konnte auch der blinde Jäger dem Forscher Griaule nicht erklären.“

Wilfried Langer deutet in Richtung der unzugänglich erscheinenden rotbraunen Felswand: „Vielleicht könnte der Hogon, der heilige Mann, helfen, die Sache zu erhellen. Nur darf er, der Wächter der Mythen, seinen Unterschlupf nie verlassen. Irgendwo dort oben an der Falaise klebt sein Versteck. Vielleicht finden sich Antworten auf die ungeklärten Fragen in den Malereien an den Wänden seiner Hütte.“ Vielleicht. Denn niemals würde ein Dogon einem Fremden das mit Tabu belegte Haus, in dem der Schamane wie in einem Kerker haust, zeigen.

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