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Minutengeschichten: Warten mit Niveau

Man sitzt in der Wartegemeinschaft am Flughafen. Noch immer eine Viertelstunde bis zum Einstieg in den Flieger. Was tun in dieser Zeit? Lesen. Aber nur das Allerbeste.

Für Literaturliebhaber gibt es jetzt gut portionierte Gourmetkost. Fünf-, Zehn-, 15- und 20-Minuten-Geschichten hat die Edition Büchergilde in je einem Bändchen publiziert. Weltliteratur im Brieftaschenformat. Hat man zehn Minuten Zeit, beginnt man vielleicht mit Maxim Gorkis „Die Nachtigall“. Und ist unversehens nicht mehr in der Wartehalle, sondern sitzt auf einem Raddampfer. „Auf der Wolga ist es still und frisch“, schreibt Gorki. Ein paar Passagiere sitzen an Deck und hören plötzlich den Gesang einer Nachtigall. Es klingt wunderbar. Dann aber stellt sich heraus, dass nur der Schiffsjunge gesungen hat, der die Stimme des Vogels täuschend echt nachahmen kann. Was dieser Umstand nun bei den Passagieren auslöst, beschreibt Gorki meisterlich. Eine kleine Philosophie ist entstanden, ein Zehn-Minuten-Geschenk an den Leser.

Fünf Minuten nur braucht man für Mark Twains Geschichtchen „Die Ameise“. Weltweit wird dies Tierchen aufgrund seines Fleißes gerühmt. Dass sie aber „hohlköpfig“ ist, erkennen wir erst nach des Dichters amüsanten Beobachtungen. Denn was macht die Ameise? „Sie rennt gegen einen Kieselstein, und anstatt ihn zu umgehen, klettert sie rückwärts hinauf, zerrt ihre Beute hinter sich her, kugelt auf der anderen Seite hinunter (...)“. Eine Pflanze auf dem Weg umgeht sie nicht etwa, „nein, sie muß hinaufklettern bis oben in die Spitze und noch dazu ihren ganz wertlosen Besitz hinter sich dreinziehen, was ungefähr so klug ist, als wenn ich einen Sack Mehl von Heidelberg nach Paris über den Straßburger Kirchturm schleppen wollte“. Die Ameise ist kompromittiert. „Ihr vielgepriesener Fleiß ist nichts als Eitelkeit und hat keinerlei Zweck, da sie nie etwas nach Hause trägt, was sie herumschleppt“, konstatiert Twain. Köstlicher als mit dieser Lektüre kann man eine Mini-Wartezeit kaum überbrücken.

Hinter jeder Story steckt ein großer Name. Franz Kafka ist dabei, Siegfried Lenz, Guy de Maupassant, Katherine Mansfield, Truman Capote und ähnlich namhafte Schriftsteller sind in den winzigen Bändchen versammelt. Auch für einen Platz auf dem (Hotel-)Nachttisch eignen sie sich hervorragend. Falls ein Autor Leseappetit auf mehr gemacht hat, helfen die Quellenhinweise am Schluss. Dann kann man sich ein größeres Werk vom ausgesuchten Schriftsteller vornehmen, für einen Tag auf der Strandliege oder den langen Winterabend im Ferienhaus.

— Diverse Autoren: 5-, 10-, 15-, 20-Minutengeschichten aus der Weltliteratur, Edition Büchergilde Gutenberg, 2010, je rund 127 Seiten, 4,90 Euro pro Bändchen

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