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Meisterwerke aus Granit. Die Zeugen der Megalithkultur auf Korsika dürften 5000 Jahre alt sein.

© Beate Schümann

Mittelmeer: Sprechende Säulen

Die Steinfiguren von Filitosa – Schlüssel zur korsischen Frühgeschichte.

Sein Blick geht stoisch über die weite Hügellandschaft des Tavaro-Tals. Tiefschwarz sind die Augen, hellwach wirken sie. Die runde Nase ragt markant aus dem ovalen Gesicht, der Mund steht offen, als wollte er gleich etwas sagen. Die Haut ist so porös, wie eine Oberfläche nach 5000 Jahren nur sein kann. Der Kopf gehört Filitosa IX, der schönsten Menhirstatue aus der Megalithkultur auf Korsika, ein Meisterwerk aus Granit.

Filitosa IX ist ein stummer Zeuge der Frühkultur. Archäologen haben ihn so genannt, weil der Menhir in der Reihe der in Filitosa gefundenen Skulpturen der neunte war. Das ausdrucksvolle Steingesicht gruppiert sich mit fünf weiteren auf einem Steinwall, der ein Hochplateau besetzt und von uralten, prächtigen Olivenbäumen umrahmt ist; sie heißen Filitosa VIII, XI, VII, X und XIII. Das Wort Menhir stammt aus der bretonischen Sprache und bezeichnet eigentlich einen hochkant aufgerichteten Megalithen, was „langer Stein“ bedeutet. Doch hier stehen nur Torsi, Kopf und Schultern, offenbar vom Rumpf getrennt. Erhöht auf dem Wall, genießen sie einen Traumblick über Blumenwiesen und Olivenhaine, Bäche und Gebirge, wie man ihn selber gern jeden Tag hätte. Der Steinwall und die Steinköpfe umrahmen das sogenannte Zimmer, das Zentralmonument einer Kultstätte der frühen korsischen Bewohner.

Filitosa war ein unbedeutendes Dorf im Südwesten der Mittelmeerinsel. Bis 1946, als Charles-Antoine Cesari beim Urbarmachen seines Landes zufällig auf die ersten Menhire stieß. Der Schafzüchter entdeckte in seinem Acker fünf von Menschenhand bearbeitete Granitblöcke, die Gesichter, Schwerter und Symbole zeigten. „Mein Großvater wusste erst nicht, was es mit diesen Paladinen aus Granit auf sich hatte“, sagt Daniel Cesari, Enkel von Charles-Antoine Cesari und Leiter der Site Préhistorique de Filitosa. „Er war fasziniert und grub weiter.“ Tatsächlich fand sein Großvater noch mehr und wollte mehr über sie wissen. Cesari, der in der Gegend bald „l’homme de pierre“ (der Stein-Mann) hieß, informierte 1954 den Pariser Archäologen Roger Grosjean über den Fund.

Grosjean, der auf die prähistorische Megalithkultur spezialisiert war, stufte den Fund als bedeutend ein und begann zwei Jahre später mit systematischen Ausgrabungen auf dem Land der Cesari-Familie. Der Wissenschaftler entdeckte auf dem 50 Hektar großen Terrain eine außergewöhnliche Zahl von Menhiren in Form bewaffneter Krieger, Skulpturen, Kultstätten, Steinhütten und Wehranlagen, die die Zivilisationen des Neolithikums und der Bronzezeit belegen. Er identifizierte die Funde als Überreste der megalithischen und torreanischen Kultur und lüftete das Geheimnis einer 8000 Jahre alten Zivilisation. Filitosa ist der Schlüssel zur korsischen Frühgeschichte.

Der französische Staat bot 1968 einige Millionen, doch wollte Cesari sein Land und die seltenen Druidensteine um keinen Preis Frankreich überlassen. „Was korsisch ist, muss korsisch bleiben“, erinnert Cesaris Enkel die stolze Haltung des Großvaters, und es ist wohl auch seine eigene. Obwohl auf Korsika die Liebe zu Frankreich nur schwach ausgeprägt ist: Immerhin verdankte Cesari dem französischen Recht, dass, was auf Privatbesitz gefunden wird, auch in Privatbesitz bleibt.

Am eindrucksvollsten wird es am Abend

Charles-Antoine Cesari überließ sein Land dem Ausgrabungsleiter Roger Grosjean, der in Filitosa bis zu seinem Lebensende 1975 forschte. Für die Fundstätte, die 1980 als Nationales Monument klassifiziert wurde und heute zu den bedeutendsten Denkmälern der Frühgeschichte im Mittelmeerraum gehört, gründete der alte Cesari eine Stiftung, um ihren Erhalt dauerhaft zu gewähren. Nach seinem Tod waren sich die Cesaris darin einig, das Erbe in diesem Sinne fortzuführen. „Die Erhaltung ist sowohl Respekt vor dem Großvater wie auch vor der korsischen Kultur“, sagt Daniel. Für ihn ist es eine patriotische Verpflichtung, zu zeigen, wo die ersten Korsen gelebt haben. „Jeder Korse kann hier seinen Ursprung datieren und nachvollziehen. Das hat eine große Magie.“ Eine neue junge Generation, die doch vom gleichen Wunsch beseelt ist.

Das einstige Ausgrabungsgelände ist heute ein archäologisches Freilichtmuseum, in dem auf einem ausgeschilderten Rundgang sich Cesaris Fund als Gesamtkunstwerk begreifen lässt. Gleich zu Beginn wird der Besucher von Filitosa V empfangen, dem wohl imposantesten Statuenmenhir Korsikas. Er ist gut zweieinhalb Meter hoch, trägt über der Brust ein langes Schwert und einen Dolch am Gürtel. Auf der Rückseite haben die primitiven Skulpteure anatomische Andeutungen von Rippen und Wirbelsäule eingemeißelt. Eine „sprechende Säule“, wie sie an allen zentralen Punkten steht, spult auf Knopfdruck in vier verschiedenen Sprachen Informationen ab. Auch auf Deutsch, das aber, besonders wenn der Wind dazu weht, ein bisschen wie Chinesisch klingt. Dennoch ist zu erfahren, dass der steinerne Megalithiker aus der Zeit um 3000 vor Christus stammt. Nach der Deutung von Grosjean stellen die bewaffneten Menhirstatuen Feinde der megalithischen Korsen dar. Sie verewigten im Stein symbolisch ihre Kraft und Stärke, damit sie auf alle Ewigkeit gebannt seien.

Zu den nüchternen Informationen ertönen zwischen Olivenbäumen und Wiesen eigenwillige melodische Klänge, die bei längerem Hören eine fast hypnotische Wirkung ausüben. Sie passen zum Ort. Fast hat man den Eindruck, als ob die steinernen Säulen nun wirklich mit einem reden. Die Cesaris haben an den zehn Stationen Lautsprecher aufgestellt, um den historischen Raum akustisch zu füllen. „Musique dans le Silence“ (Musik in der Stille) heißt die Performance von Marc Tomasi, der die sphärische Musik für Filitosa komponiert hat. Da ergreift auch den im Neolithikum wenig bewanderten Wanderer Respekt vor der Vergangenheit und lässt er sich in eine andere Epoche führen.

Entlang einer lauschigen Baumallee zieht sich der Weg an einem zyklopischen Steinwall entlang, der den Olivenhain mit den vor sich hinträumenden Eseln begrenzt. Man kann verschiedene Wege zu den einzelnen Monumenten einschlagen. Unter dichtem Laubdach geht es zu den Steinhütten aus der Bronzezeit und den Steintürmen. Eine morastige Senke des Barcajolo-Bachs führt zu der Ebene, wo mehrere megalithische Statuen aufgestellt sind, die vermutlich Phallussymbole darstellen. Hinter der Brücke des Sardelle-Bachs ersteigt man den Hügel mit dem von den Torreanern errichteten Kultmonument, das vermutlich Bestattungs- und Opferritualen diente.

Weil Grosjean auf diesem Terrain oft zerschlagene Menhire fand, schloss er daraus, dass in Filitosa zwei sich feindlich gesonnene Kulturen aufeinandertrafen. Die Korsen der megalithischen Steinkultur wurden vermutlich um 1600 vor Christus von den überlegenen Torreanern, einem kriegerischen Seevolk, verdrängt. Die Torreaner zerstörten die Kultur der Besiegten, zerkleinerten die Statuenmenhire und verwendeten sie für die Konstruktion der eigenen Kulturdenkmäler. Nirgendwo sonst auf Korsika sind an derselben Stätte Überreste von beiden Kulturen zu finden.

Auf dem großen Terrain hat man Stunden zu tun, um es zu erschließen. Am eindrucksvollsten wird es gegen Abend. Wenn das späte Nachmittagslicht auf das sonst so maskenhafte Gesicht von Filitosa IX fällt, erhalten seine Züge durch das Schattenspiel eine beeindruckende Zartheit, eine menschenähnliche Anmutung. Filitosas Monumente sind von berührender Art.

Beate Schümann

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