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Kibbuz: Oft totgesagt – und doch hundertjährig

Der Kibbuz, eine bedeutende gesellschaftliche Innovation, feiert Geburtstag.

Israel feiert. Was am 28. Oktober 1910, also vor 100 Jahren, am Ufer des Sees Genezareth mit Degania als soziales Experiment begann, bildet heute ein spannendes, vitales Kaleidoskop differenzierter Formen des Zusammenlebens im ländlichen Raum. Auch wenn der Kibbuz heute nicht mehr das ist, was er einmal war.

„Leider“, meint Schalom im privatisierten Kibbuz Einat nahe von Tel Aviv. „Gott sei Dank“, findet hingegen Ariella, deren Familie vor Jahrzehnten aus Givat Brenner, dem mit 1700 Einwohnern größten Kibbuz, auszog. Vielleicht, so meint sie, ja wahrscheinlich würde sie immer noch dort leben, wenn damals der Kibbuz so gewesen wäre, wie er sich heute präsentiert.

Degania, Merchavia (der gleichaltrige zweite Kibbuz) und die nachfolgenden Kibbuzim waren als basisdemokratische Gemeinschaftssiedlung auf freiwilliger Basis von zionistischen und sozialistischen Idealisten aus Osteuropa angelegt. Doch heute sind die ursprünglichen Ideale und Ideologien vielfach bis zur Unkenntlichkeit geschrumpft und wohl nur noch bei den Älteren vorhanden. Wer von den nachfolgenden Generationen im Kibbuz geblieben ist oder jetzt wieder in diesen zurückdrängt, der sucht Lebensqualität abseits der Hektik der Städte.

Leonardo, Sekretär von Einat, führt denn auch die derzeitige Erfolgsstory seines Kibbuzes genau darauf zurück: „Für viele hat sich nun die einmalige Gelegenheit ergeben, mit ihrer Familie in einer fairen gesellschaftlichen Atmosphäre zu leben, ihren Kindern beste Erziehung und viel Kultur zu bieten. Das sind Menschen, die nicht klein denken, sondern große Vorstellungen vom Leben haben.“

In den vergangenen 20 Jahren ist kein einziges neues Mitglied nach Einat gekommen. Im Gegenteil, nicht nur die erwachsen gewordenen Kinder sind abgewandert, sondern ganze Familien. Vor einigen Jahren folgte man dem Beispiel vieler anderer Kibbuzim und privatisierte Einat weitgehend: weniger Gemeinschafts-, viel mehr Privatbesitz, abgestufte Gehälter nach Position und Leistung anstatt Einheitslohn. Die jahrzehntelang umstrittenen Kinderhäuser, wo die Kinder gemeinsam nach Altersgruppen aufgeteilt aufwuchsen und auch schliefen, gehören in allen Kibbuzim der bewältigten Vergangenheit an, ohne dass die hohe Qualität der Erziehung Schaden genommen hätte.

Heute ist Einat der Kibbuz mit dem prozentual größten Wachstum. Auf den Feldern zwischen den älteren Häusern, dem landesweit berühmten Friedhof und Israels einziger Maut-Autobahn Nr. 6 entstehen neue Wohnviertel für die Familien heimkehrender Kinder sowie 30 Neumitglieder und deren Angehörigen. „Noch sind wir weniger als 200 Mitglieder. In zwei Jahren werden wir 350 Mitglieder sein“, sagt ein hörbar stolzer Leonardo.

Noch immer tragen ehemalige Kibbuzkinder und -mitglieder politische, militärische und wirtschaftliche Verantwortung an höchsten Stellen im Land: Vom legendären ersten männlichen Kibbuzkind Moshe Dayan bis hin zum heutigen Verteidigungsminister Barak. Nicht zuletzt, oder wohl vor allem, dank dem Willen aller Kibbuzim, den Kinder nur die beste Erziehung angedeihen zu lassen, was nicht nur Bildung, sondern auch die Vermittlung von Verantwortungsbewusstsein bedeutet.

Ohne die Kibbuzim sähe heute die Landkarte des Nahen Ostens anders aus, denn viele, ja die meisten der frühen Kibbuzim bildeten seinerzeit so etwas wie einen Schutzwall für den entstehenden Staat, liegen also heute entlang der Grenzen zum Libanon und Gazastreifen, im Jordantal und an anderen exponierten Stellen.

Früher, von den späten vierziger bis in die frühen sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, bildeten die Kibbuzniks noch rund sieben bis acht Prozent der Gesamtbevölkerung. Heute leben in den 250 säkularen und 16 religiösen Kibbuzim rund 120 000 Israelis, weniger als zwei Prozent der Gesamtbevölkerung. In den ursprünglich klassenlosen, reinen Agrargemeinschaften sind blühende Betriebe, hochmoderne Unternehmen, basierend vielfach auf Hightech, entstanden. Die wiederum von weitblickenden Direktoren (immer Kibbuzmitglieder) und auch von außenstehenden Beratern geleitet werden und neben Kibbuzniks insbesondere Arbeitskräfte aus der Umgebung beschäftigen.

Bar’am, in Hoch-Galiläa direkt an der „heißen“ Grenze zum Südlibanon gelegen, ist so etwas wie der letzte Kibbuz wie er eigentlich nur noch im Geschichtsbuch existiert. Und trotzdem, oder gerade deshalb, in praktisch jeder Hinsicht äußerst erfolgreich. Während am nördlichen Rand der an der 1949 gegründeten Siedlung vorbeiführenden „Nord-Straße“ über Jahre die gelbe Hisbollah-Fahne wehte, bauten die heute etwa 250 Mitglieder (plus 200 Kinder) Bar’am zu einem Musterkibbuz aus. Sie waren die letzten, die das „gemeinschaftliche Schlafen“, also die Kinderhäuser, abschafften, aber auch diejenigen, die besonderen Wert auf die Qualität ihrer Produkte legten – und für diese höchste Preise erzielen. Bar’am steht deshalb seit Jahrzehnten für die besten Äpfel im Lande, weil nur von Mitgliedern und nicht von bezahlten Arbeitskräften sortiert, und für hochwertigste, aber auch sündhaft teure Kunststoffprodukte für den medizinischen Bereich.

Man lebt gut hier auf den kargen galiläischen Hügeln. Amram und Jochi, vor mehr als 50 Jahren aus der Schweiz eingewandert, können sich kein Leben anderswo in Israel vorstellen: „Sag mir, wo gibt es ein sinnvolleres Leben als hier? Wo sorgt man für alle Bedürfnisse aller, auch von uns Älteren? Wo hat man mehr Zeit für sich und seine Familie, ohne große existenzielle Sorgen, mit sozialer Sicherheit?“ Charles A. Landsmann

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