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Cape Cod

© laif

Neuengland: Baden mit den Kennedys

Indianersiedlungen und viktorianische Häuser: In Neuengland reist man durch die Geschichte der Vereinigten Staaten.

Lenkrad festbinden, auf die Rückbank legen, schlafen. Der weite Westen der USA mit Distanzen zwischen zwei Städten von bis zu 500 Kilometern kann Autofahrer erschöpfen. Da lobt sich mancher doch die Ostküste. Hier geht es zügig voran. Kaum ist New York City im Rückspiegel verschwunden, hat man schon vor Sonnenuntergang ganze Staaten gesehen: New Jersey, Connecticut, Rhode Island, Massachusetts. Gleichwohl, der Reisende tut gut daran, sich für Neuengland viel Zeit zu nehmen.

Bereits in Connecticut macht der Ortsname „Mystic“ eine Pause erforderlich. Nicht nur wegen seines verführerischen Klangs. Auch wegen Hollywood. „Mystic Pizza“ heißt der 1987 hier und in Nachbarorten gedrehte Film mit der jungen Julia Roberts. In Deutschland kam er unter dem schlichteren Namen „Pizza, Pizza“ in die Kinos. Die Geschichte um drei Hummerfischertöchter, die als Kellnerinnen in der Dorf-Pizzeria arbeiten und einigen Ärger mit Männern zu meistern haben, spielt im blitzsauberen und gar nicht mystischen Dorf Mystic.

Julia ist weg, doch die Kulisse stimmt noch: Mystic Seaport, ein nachgebauter historischer Hafen mit mehr als 40 Gebäuden und zahlreichen Schiffen – insgesamt das wohl größte Meeresmuseum der Welt unter freiem Himmel – sowie die tatsächlich existierende Pizzeria „Mystic Pizza“ sind noch da. Na gut, den Filmemachern war die Pizzabude zu klein, außerdem wollte der Besitzer nicht für Monate schließen. So wurde für Innenaufnahmen eine Extra-Dekoration gebaut. Profitiert hat der Pizzabäcker dennoch. Nachdem 1988 der Film in den Kinos lief, wollte ganz Amerika die Pizza mit der „Geheimsauce“ (secret sauce). Heute gibt’s die runden Teigscheiben in mehr als tausend Geschäften in ganz Neuengland zu kaufen.

Er ist leicht zu übersehen, der Miniatur-Staat Rhode Island. Zumindest auf der Landkarte. Wir lassen uns jedoch vom Highway I-95 in eine Stadt locken. Providence. Der Name „Vorsehung“ weckt schließlich Erwartungen. Providence erweist sich indessen als ebenso schmuck wie übersichtlich. Wie ein Geschenk Gottes kommt einem dieser Flecken Erde wohl vor allem vor, wenn man – wie die Stadtgründer unter Führung von Roger Williams – gerade nach einer unerfreulichen Auseinandersetzung über religiöse Themen aus der Kolonie in Massachusetts verbannt wurde. Das war 1636, und seitdem ist Religionsfreiheit hier Pflicht.

Massachusetts, höchste Zeit für einen längeren Aufenthalt – weil Cape Cod mit seinen Stränden, dem quirlig-schrägen Provincetown und den bunten Bilderbuchorten zu schön ist, um hindurchzubrausen. Und überhaupt: In Hyannisport urlaubt schließlich bis heute der Kennedy-Clan. Der noch immer günstige Dollar erlaubt auch normalen Europäern, ein wenig am süßen Küstenleben teilzunehmen. Also gönnt sich der Reisende an der von viktorianischen Häusern gesäumten Main Street von Falmouth etwas typisch neuenglisches: Jakobsmuscheln und Hummer in butteriger Knoblauchsoße.

Heißen die Ausfahrten in Connecticut oft wie berühmte Universitäten, tragen sie in Massachusetts Namen direkt aus dem Geschichtsbuch. Plymouth etwa, wo die erste dauerhafte englische Siedlung entstand, gegründet von gottesfürchtigen Puritanern. Damit sich jeder vorstellen kann, wie die Kulturen bei diesem folgenschweren Landgang aufeinander prallten, ist einige Kilometer vom Originalschauplatz entfernt im Freilichtmuseum „Plimoth Plantation“ hinter einem Palisadenzaun das Dorf der ersten Siedler sowie die benachbarte Siedlung der Indianer, die hier natürlich auf keinen Fall so genannt werden dürfen, nachgebaut worden. Hier ist für immer 1627. Den Part der englischen Puritaner spielen Laiendarsteller, die Fische pökeln und arglose Besucher in frühneuenglischen Wendungen fragen, auf welchem Schiff sie die Passage überstanden haben; den der Ureinwohner übernehmen „Native Americans“, wie es heute politisch korrekt heißt.

Ein Schild mahnt Eltern, ihren Kindern „Indianergeheul“ zu untersagen. Auch Fragen nach der Abstammung der Akteure sind unerwünscht – weil sie die Intimsphäre derer verletzen, die hier in traditioneller Kleidung erläutern, wie man Zelte winterfest macht und was die Menschen anbauten (Mais), als von den Vereinigten Staaten noch niemand etwas ahnte. Der Abgrund zwischen Kulturen ist allem Anschein nach bis heute nicht überwunden, und so nähern sich die Besucher den „Dorfbewohnern“ recht verhalten – weniger ihrer archaischen Kleidung wegen als aus Angst, Gefühle zu verletzen. Im englischen Dorf – auf einem Hügel mit Meerblick gelegenen – fühlt man sich ein wenig wie in der Schule, als eine Frau mit Haube und niederländischem Akzent fragt, was es Neues vom Spanischen Krieg gebe. Oh, wie war das noch gleich?

Ein Besuch auf der nachgebauten „Mayflower II“ im Hafen des modernen Plymouth beweist, dass der Wunsch nach einem Neuanfang groß sein musste, um sich derartig beengt der Überfahrt mit ungewissem Ausgang auszusetzen. Nur der „Plymouth Rock“, ein Findling, der die Stelle des Landgangs der Pilgerväter markiert, ist nicht zu sehen. Jahrhunderte ehrfurchtsvollen Handauflegens haben ihm zugesetzt. Er wird restauriert, soll aber im September wieder zu bestaunen sein.

Der Geist der Gründerväter ist auch weiter nördlich lebendig geblieben. „Live Free or Die“ fordern die Nummernschilder der Autos im Staat New Hampshire. Da ist es kaum verwunderlich, dass eine Glaubensgemeinschaft wie die Shaker 1792 in New Hampshire ein Refugium für ihre exzentrische Spiritualität fanden. Anderswo waren sie wenig beliebt, sah ihre Religion doch vor, ekstatisch zu tanzen oder mitten im Gottesdienst laut zu reden, wann immer der Heilige Geist dem Gläubigen dies eingebe. Inmitten von Hügeln und Wäldern, ein gutes Stück vom Highway und sichtbarer Zivilisation entfernt, liegt Canterbury Shaker Village: ein Dutzend blitzsaubere Gebäude, die im Originalzustand belassen wurden, seit Sister Ethel, das letzte Gemeindemitglied, 1992 im gesegneten Alter von 96 Jahren verstarb.

Gemeindehaus, Küchentrakt, Essraum und Krankenstation erzählen vom Alltag der Shaker, die zölibatär lebten, Waisenkinder aufzogen und die Gleichberechtigung von Mann und Frau pflegten, als der Platz der Amerikanerin am Herd noch so fest gefügt war wie der Sockel der Freiheitsstatue. In Maine sollen heute noch vier Shaker leben – ansonsten hat diese Glaubensrichtung wohl keine Anhänger mehr. Die gepflegten Gebäude von Canterbury Shaker Village sehen aus wie Filmkulissen: als würden sie weggeschoben, wenn der letzte Besucher das Gelände verlassen hat.

Trotz großer historischer Momente – New Hampshire erklärte 1776 sechs Monate vor den Bundesgenossen seine Unabhängigkeit – wird auch die alltäglichere Vergangenheit gewürdigt. Im Freilichtmuseum „Strawberry Banke“, das den ursprünglichen Namen des heutigen Küstenstädtchens Portsmouth trägt, ist das historische Zentrum wieder aufgebaut worden. 40 Häuser spiegeln den amerikanischen Alltag bis in die 1950er Jahre. Uralte Möbel und ebensolche Heinz-Konserven demonstrieren, wie Kolonialwarenhändler, Kapitäne und Einwanderer lebten – meist unspektakulär; in der Kneipe Pitt Tavern soll immerhin während des Unabhängigkeitskriegs George Washington den einen oder anderen Drink genommen haben.

Außer der Liebe zur Freiheit, die stärker ist als der Tod, zeichnen den Staat die Abwesenheit von Einkommenssteuer und viel Natur aus – fast 90 Prozent der Landschaft bedecken Wald und Seen. Bei East Andover erstreckt sich eine malerische Seenplatte. Die Europäer kommen am liebsten im Herbst, um den Farbwechsel der Laubwälder zu sehen, Amerikaner im Sommer zum Wandern und Kajakfahren, im Winter zum Skilaufen. Nur wenige aber wissen, dass das Frühjahr, wenn vor der Schneeschmelze aus dem Saft des Zuckerahorns Ahornsirup hergestellt wird, eine schöne Reisezeit sei, erklärt Pecco Beaufays. Der gebürtige Sauerländer hat nach Jahren als Gastronom in Manhattan mit seiner Frau Gail in einem 1767 erbauten Holzhaus ein behagliches Bed & Breakfast eröffnet.

Einer der Söhne, seine Freundin, Peccos aus Deutschland angereiste Mutter und ein Paar aus Kalifornien sitzen an der abendlichen Tafel. Pecco erzählt, wie er einstmals in New York Helmut Kohl bewirtete und auch Gerhard Schröder. Gleichzeitig erklärt er seinem Sohn, wie man Sachertorte Festigkeit verleiht, als seine tragende Stimme sich im Ohren betäubenden Bellen der beiden Hunde verliert. Auf der Wiese vor dem großen Fenster ergreift ein Elch die Flucht: Die Natur ist hier stets nahe. In der Nacht stört nichts die tiefe Stille.

Nur Vermont ist noch ländlicher. Eine halbe Million Menschen teilen sich die grünen Berge, die dem Staat den Namen gegeben haben. Trotzdem ist dies nicht die Heimat von Hinterwäldlern. In Neuengland ist es nie weit zum nächsten College oder Museum, und die regionalen Büchertische in den Buchhandlungen erwecken den Eindruck, hier sei fast jeder Schriftsteller. Weil die Landschaft inspiriert und Ortsungebundene sich gerne hier niederlassen.

Manchester, das zwischen Bergen gelegene Städtchen, ist seit dem 19. Jahrhundert ein prosperierender Ferienort. Als Besucherattraktion muss es sich neben 100 Designer-Outlets behaupten, die dezent ins von weißen Häusern mit Veranden geprägte Stadtbild gefügt und Ziel sorgfältig geplanter Beutezüge sind.

Der Himmel hat das unwahrscheinliche Blau, das den ersten Siedlern den Eindruck vermitteln musste, auf diesem Land liege die besondere Gunst des Schöpfers. Es wäre schön, weiter zu reisen: durch endlose Wälder und idyllische Kleinstädte. Doch der Kofferraum fasst keine weitere Einkaufstüte, und bis New York City sind es fünf Stunden.

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