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Dramatische Szenen am Berg. Das Theaterstück gleicht einem Heimatfilm, der sich über einzelne Stationen abspult. Und nebenbei wird gewandert.

© Dagmar Gehm

Niedertal als Bühnenbild: Friedl mit der leeren Tasche

An jeder Biegung ändert sich die Szenerie: Im Tiroler Ötztal können Wanderer großartiges Theater am Weg erleben.

Wie hat er das hingekriegt? Wie hat der Regisseur das Schaf so dressieren können, dass es genau in dem Moment ins Spielgeschehen läuft, als Anna, die Magd, ihren Friedl aus den Klauen dieser höfischen Furie befreien will? Hat er nicht, beteuert Hubert Lepka. Und wie zum Beweis kreuzt immer mal wieder so ein Schaf den Weg – völlig undressiert – und wird Teil der Szene und der Szenerie. Zumal am 14. September der spektakuläre Übertrieb von 2000 Schafen grenzübergreifend von Tirol nach Südtirol, vom Ötztal ins Schnalstal über den Similaungletscher stattfindet. Schon Tage vorher werden sie zur Martin-Busch-Hütte getrieben, von wo aus sich der lange Tross dann in Bewegung setzt und die auch wir jetzt ansteuern. „Magie ist auch, dass man in der Natur nicht alles planen kann“, sagt Lepka. „Beim Testfilm wollten einige Haflinger-Pferde sogar die Kamera ablecken. Wir mussten erst mal das Stativ retten.“

Ein Weg als Theaterbühne – was für eine irre Idee! „ ,Friedl mit der leeren Tasche‘ ist im Kern ein Zweipunkt-Theater“, erklärt Lepka. „Einmal will ich eine Geschichte erzählen, zum anderen ist es eine Ganztageswanderung. Ein Heimatfilm, der sich über einzelne Stationen abspult.“ Ein Stück als Weltneuheit. Die Darsteller tragen kleine Punktmikros, der Ton wird den Wanderern, die bei jedem Spielort Halt machen, über Funk-Ohrknöpfe eingespielt. So kann jeder seine eigene Position wählen, von der er das Schauspiel verfolgt. „Wie bei einem Spionagegerät lassen sich sogar Szenen, die hundert Meter weiter weg stattfinden, per Fernhören verfolgen.“ Die Tonknöpfe werden aber nur aktiviert, sobald die Darsteller eine Szene spielen. Ansonsten herrscht Ruhe.

Hubert Lepka
Hubert Lepka

© Dagmar Gehm

Kein Autohupen, kein Handygeklingel. Wie anno 1416, als Herzog Friedrich IV. von Tirol aufs „falsche Pferd“, Gegenpapst Johannes XXIII., setzt. Auf dem Konzil in Konstanz wird der Pontifex jedoch demontiert und der Herzog von Kaiser Sigismund von Luxemburg unter Reichsacht gestellt. Um der Gefangenschaft zu entgehen, verdingt er sich eine Zeit lang als Knecht auf den Rofenhöfen bei Vent, Österreichs höchstgelegener Hofsiedlung auf gut 2011 Metern. Seiner Ländereien beraubt und nur mit dem Spottnamen „Friedl mit der leeren Tasche“ im Gepäck, setzt der Tiroler von dort aus seine Flucht nach Meran fort.

In Sichtweite der Rofenhöfe beginnt auch das Wandertheater durch das Niedertal. Selbst ohne das Roadmovie wäre der Weg als Teilstück der Via Alpina inmitten der unberührten Landschaft ein großartiges Naturschauspiel. Hier stimmt das Klischee „der Weg ist das Ziel“, denn markante Punkte wie die prähistorische Hirtenstation Hohler Stein, ein urzeitliches Freilandlager und die 800 Jahre alte Schäferhütte, die im Frühjahr von einer Lawine niedergewalzt und inzwischen wiedererrichtet wurde, bereichern die Tour. Immer begleitet von der Venter Ache, deren Wildheit man spürt, obwohl sie meist tief unten durch die Schlucht jagt.

Nur drei Darsteller und keine Kulissenschieber. Das Niedertal als Bühnenbild ist ohnehin nicht zu toppen. An jeder Biegung ändert sich die Szenerie. Gewinnt an Tiefe, an Höhe und bis hin zum Marzellgletscher parallel zur Handlung an Dramatik. Ausgeleuchtet von einem riesigen Sonnenscheinwerfer, der von ganz oben die jeweilige Szene bestrahlt. Der manchmal harte Konturen und am Nachmittag wunderbar weiches Licht zaubert, das die Gesichter der Darsteller schimmern und das Weiß des Wollgrases wie Lampen leuchten lässt.

Auf Mountainbikes zum Ziel

Natur statt Theatersaal. Wer mit den Schaupielern zieht, kann was erleben.
Natur statt Theatersaal. Wer mit den Schaupielern zieht, kann was erleben.

© Dagmar Gehm

Vor unberührter Berglandschaft entstehen starke Bilder. „Die Wiese ist ein superguter Tanzboden“, meint Lepka und zeigt auf Anna, die im wahren Leben ausgebildete Tänzerin ist. Kaum ein Symbol der Neuzeit stört das archaische Bild. Nur den gut gepflegten Weg bis zur Martin-Busch-Hütte gab es damals noch nicht, den hat erst „Gletscherpfarrer“ Franz Senn, Tourismuspionier und Gründer des Alpenvereins, um 1865 gebaut.

Zeitgenössische Gesänge über den Knopf im Ohr helfen, die Brücke zu bauen ins Mittelalter, zu vergessen, wie viele Jahrhunderte uns trennen zwischen echtem und fiktivem Geschehen. Damit wir nicht völlig verloren gehen in der Tiefe der Zeit, erinnert der Erzähler mit kleinen, feinsinnigen Einsprengseln an das Hier und Jetzt. Das tun auch die E-Bikes, mit denen die Schauspieler die Wanderer überholen, um sie am nächsten Spielort bereits wieder im Kostüm zu empfangen. Andreas Haun, der von der Hälfte der Aufführungen an die Rolle des Friedls übernimmt, hat sie irgendwo aufgestöbert oder extra genäht. Selbst beim Essen im Hotel Gstrein häkelt er noch an der Spitze für die feine Dame.

Nur der nimmermüde Hubert Lepka müht sich auf einem Mountainbike etappenweise bis zum Ziel – über 600 Höhenmeter auf einer Strecke von rund zehn Kilometern. Auch die Wanderer müssen die Tour bewältigen. Trotz Rast bei den Szenen und Einkehr auf dem Rückweg in der Martin-Busch-Hütte ist Kondition gefragt.

Alle drei Darsteller – Anna Maria Müller als Magd, Ekke Hager als Friedl und Marion Hackl als Fremde Frau – haben schon in den Bergen gespielt, bei „Hannibal“ am Rettenbachferner in Sölden, eine der aufwendigen Großraum-Inszenierungen, für die Regisseur Hubert Lepka bekannt ist. Doch der 54-jährige Salzburger und sein Künstlernetzwerk lawine torrèn können auch leise. Nicht vor Tausenden von Zuschauern, sondern „nur“ vor jeweils bis zu hundert Wanderern. Bis zum 21. September will er 14 Mal den Fluchtweg des Herzogs Friedrich IV. von Tirol nachzeichnen und bei entsprechender Resonanz im kommenden Jahr fortsetzen.

Die Ötztaler Mundart, 2010 von der Unesco in die Liste immateriellen Kulturerbes aufgenommen, hat sich Friedl-Darsteller Ekke Hager aus Vorarlberg erst aneignen müssen. Er schätzt die angeklemmten Mikros: „Obwohl die Landschaft weit ist, lassen sich die Darsteller deshalb nicht verleiten, wie im Freilichttheater so übertrieben zu deklamieren.“

„Am Ende“, sagt Hager, „verlässt Friedl, hin- und hergerissen zwischen Pflichtbewusstsein, Wut, Angst und den Gefühlen für Anna, das Ötztal, um weiter nach Meran zu ziehen. Am Ende, sagt Hager, hätte er als Friedl sich für Partnerschaft statt für Pflichtbewusstsein entschieden und wäre im Niedertal geblieben. Doch am Schluss verstehen auch wir, die Wanderer, diesen Friedl noch immer nicht so ganz.

Dagmar Gehm

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