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© Mauritius

Kanada: Wo bunte Kajaks auf dem Wasser tanzen

180 Kilometer lang ist die Sunshine Coast nördlich von Vancouver. Liegestühle sind rar. Die Küste besticht durch unberührte Natur

Wer sagt, dass Seesterne immer rot sein müssen? Das sind sie vielleicht in den Souvenirläden an der Nordsee. Aber am Pazifik sieht man ganz andere Exemplare. Kleine gelbe, orangefarbene mit Stacheln, violette, die so groß sind wie Tortenplatten – zu Hunderten kleben sie an den Felsen einer unbewohnten Insel vor der kanadischen Sunshine Coast. Von Weitem sehen sie wie eine undefinierbare, glibberige Masse aus. Erst als Ian Hobbes mit dem Boot heranfährt, können wir die Tiere als solche erkennen. „Bei Ebbe kommen sie aus dem Wasser, um Nahrung zu suchen“, erklärt er. „Und damit sie nicht austrocknen, bleiben sie so dicht zusammen wie möglich.“ Hobbes macht das Boot vor der Insel fest, lässt uns aussteigen und greift sich eins der Tiere. Als er den Seestern umdreht, zeigt sich, dass seine Unterseite voller kleiner Miesmuscheln ist. „Das hier ist ein Fleischfresser“, meint Ian, „aber es gibt auch Vegetarier unter den Seesternen, die sich von Algen und dergleichen ernähren.“

Die Begeisterung für die Tier- und Pflanzenwelt ist dem Hobbytaucher leicht anzumerken. Vor einigen Jahren hat er seinen gut dotierten Job als IT-Manager aufgegeben und sich eine zweite Existenz an der Sunshine Coast nördlich von Vancouver aufgebaut. Auf Sevilla Island, einer winzigen, felsigen Insel, auf der kaum zehn Häuser Platz haben, hat er mit seiner Frau das Sevilla Island Resort mit vier Suiten eröffnet. Morgens gibt es frisch gepresste Säfte, Omelettes und Scones mit hausgemachten Marmeladen, abends kommen eben gefangener Lachs und die für die Gegend typischen Riesengarnelen auf den Tisch.

Das Ausflugsprogramm ist breit gefächert. Soll es das Fischerdörfchen Lund mit seinem malerischen Hafen und dem legendären, hundertjährigen Lund Hotel sein, die Badeinsel Savory Island mit weißen Sandstränden oder eins der namenlosen Eilande, die dazu einladen, Robinson Crusoe zu spielen? Landschaftlicher Höhepunkt ist in jedem Fall der 8000 Hektar große Desolation Sound Marine Park, wo Malaspina Fjord und Homfray-Kanal zwischen steil abfallenden Felswänden zusammenfließen. Wem das noch nicht genug Stoff zum Träumen ist, der kann vor dem Schlafengehen noch in den Hot Pot, den mollig warmen Whirlpool unten am Ufer von Sevilla Island steigen.

Sunshine Coast, Sonnenscheinküste: Das klingt nach Costa del Sol. Endlose Strände, Sonnenschirme, Liegestühle und Massen von Bleichgesichtern, die nach Urlaubsbräune lechzen? Nein, an der 180 Kilometer langen Sonnenküste im Westen Kanadas sieht es ganz anders aus. Die Natur dominiert. Weitgehend unberührt und in Dimensionen, die Europäer sich kaum ausmalen können, stellt sie jegliche Zivilisation in den Schatten. Zumindest in Lund, dem nördlichsten Ort der Sunshine Coast, wo mit dem in Mexiko entspringenden Highway 101 die letzte Straße endet, scheint der Mensch keine Rolle mehr zu spielen. Tief zerklüftete Landstriche, Fjorde, Regenwälder, mehrere tausend Meter hohe Berge mit einzelnen Schneeflecken, Felsen, Wasserfälle und Seen drängen sich auf engstem Raum. Und vor der Küste wimmelt es nur so vor kleineren und größeren, vielfach unbewohnten Inseln.

Natürlich kann man hier auch baden und Sonne tanken. Aber auf mondänes Strandleben, Sehen und Gesehenwerden muss man verzichten. Anstelle von Sonnenanbetern kommen vor allem Segler, Surfer, Paddler, Taucher, Angler, Mountainbiker und Wanderer hierher. Oder solche, die sich für die einmalige Tierwelt interessieren.

Ian wirft vom Boot aus einen Fisch in die Luft, den sich sogleich ein Adler schnappt. „Auf den ist Verlass“, schmunzelt er. „Der wohnt schon lange da hinten in den Bäumen.“ In der Nähe lässt sich eine Familie von Robben umständlich ins Wasser gleiten. Doch die Küste hält noch andere Naturschauspiele bereit. Die Skookumchuck Rapids zum Beispiel, von denen wir erst nicht wussten, was sich hinter dem unaussprechlichen Namen indianischen Ursprungs verbirgt. Das Geheimnis wird gelüftet, als wir uns in der West Coast Wilderness Lodge bei Egmont einmieten.

Schon beim Blick von der Terrasse wird großes Kino geboten. Tief unten treffen vier Fjorde aufeinander, die das Land zerschneiden und sich ihren Weg durch Wälder, Felsen und Berge bahnen. „Ihr müsst euch vorstellen, dass hier täglich zwei Milliarden Liter Meerwasser hereingespült werden“, meint Paul Hansen, der Betreiber der Lodge. „Wollt ihr mal sehen, was passiert, wenn die Flut kommt?“ Dazu müssen wir eine knappe Stunde durch den Wald auf der anderen Seite der Lodge laufen, der verglichen mit deutschen Wäldern eine wahre Wildnis ist. Mächtige Douglasien, Rotzedern und andere Nadelbäume stehen dicht an dicht, dazwischen säumen umgefallene, von Farnen und Moos überwucherte Stämme den Weg. Plötzlich lichtet sich das Dunkel und gibt den Blick auf die Wassermassen frei. Reißend, wütend, schäumend strömen sie mit enormer Geschwindigkeit durch die Waldlandschaft und wirbeln bis zu zwanzig Meter hohe Strudel auf. Am Ufer stehen Schaulustige und betrachten das Spektakel ehrfurchtsvoll mit gehörigem Abstand. Aber einige junge Männer und Frauen kennen offensichtlich keine Furcht. Immer wieder versuchen sie, mit ihren Kajaks auf dem Wildwasser zu tanzen. Nur fünf, zehn, vielleicht zwölf Sekunden können sie sich eifrig rudernd auf den Strudeln halten, dann driften sie ab, lassen sich ans Ufer treiben und versuchen ihr Glück aufs Neue.

Noch abends in der Wilderness Lodge geben die Skookumchuck Rapids und die Helden des Wildwassers reichlich Gesprächsstoff, als wir im Panoramarestaurant bei Heilbutt, Safranreis und fruchtigem Chardonnay aus dem Okanagon Valley zusammensitzen. Dabei verspricht Paul Hansen seinen Gästen noch ganz andere Abenteuer. Wer will, könne einen halben Tag lang mit dem Motorboot durch den atemberaubenden Princess Louisa Inlet fahren, wo im Sommer bis zu sechzig Wasserfälle die Felsen herabstürzen. Möglich ist auch, sich per Hubschrauber über Inseln und Fjorde hinweg zum Frei Falls, dem größten Waterfall zwischen British Columbia und Alaska fliegen zu lassen.

Wir wollen lieber einen weiteren Tag die beschauliche Seite der Küste erleben. In Dörfern wie Sechelt auf den Spuren der First Nations, der kanadischen Ureinwohner, wandeln, im fast schon legendären Molly’s Reach in Gibsons Landing Fish and Chips essen und bei einigen der vielen Künstler und Kunsthandwerker vorbeischauen. Ja, und zwischendurch wollen wir auch ein bisschen Sonne an der Sunshine Coast tanken.

Marlies Gilsa

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