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Vorsichtige Annäherung. Auf der vor Vancouver Island versenkten Boeing 737 hat sich wie auf einem natürlichen Riff eine erstaunliche Vielfalt von Leben entwickelt.

© Lisa Graham/Seadance Photography

Vancouver Island: Ein Krake im Cockpit

Vor Vancouver Island bescherte man Tauchern ein künstliches Riff. Eine ausgemusterte Boeing 737 wurde versenkt.

Die erste Morgensonne taucht den kleinen Hafen von Chemainus in ein warmes Licht. Hölzerne Segeljollen und betagte Fischkutter schaukeln friedlich auf den seichten Wellen. Nur ein paar vereinzelte Regenwolken hängen schwer über dem Örtchen im Südosten von Vancouver Island. Mit seinen verspielten viktorianischen Holzhäusern wirkt Chemainus urgemütlich. Aus dem Book Nook Literaturcafé duftet es verführerisch nach Espresso und frisch gebackenen Muffins. Der Sommer ist kurz auf dieser Insel im Nordwestpazifik, die etwas größer als Belgien ist und uns mit ihren urwüchsigen Kaltregenwäldern beeindruckt, durch die noch immer Schwarzbären und Pumas streifen.

Wir sind mit Peter Luckham an seinem knallgelben Boot „Divemaster“ verabredet. Der kleine Mann mit grauem Vollbart, wachen Augen und schelmischem Blick begrüßt uns mit einem erfrischenden „Howdy doody?“. Ja, danke, gut geht es, sehr gut sogar. Schließlich steht heute die weltweit einzige Boeing 737 auf dem Programm, die man betauchen kann. „Seine“ 737.

Happy Landing. Der ausgemusterte Canadian-Jet wurde 2006 versenkt.
Happy Landing. Der ausgemusterte Canadian-Jet wurde 2006 versenkt.

© Peter Luckham

Denn Peter war der Chef der spektakulären Versenkung des ausgemusterten Passagierflugzeugs im Januar 2006. Initiator, Organisator, Spendensammler, Mädchen für alles, sozusagen. Der Mann, der durch Mund-zu-Mund-Propaganda und über den Äther eine halbe Insel, die ganze Artificial Reef Society in Vancouver und unzählige freiwillige Helfer für dieses Mammutprojekt gewinnen konnte.

Schon tuckern wir über die ruhige Salish See. Peter spricht den Tauchgang minutiös mit uns durch. Keiner kennt die Boeing 737-200, Nr. 20958, besser als er. Niemand ist öfter ein- und ausgecheckt.

Keine Angst vor Monstern

Mit einer Rolle rückwärts tauchen wir ein in diese fremde und geheimnisumwobene Welt des Nordwestpazifiks mit seinen Riesenkraken, gleiten an einem Tau in diese grüne Finsternis. Die wirkt schon etwas unheimlich. Doch bevor wir uns in solch trüben Gedanken verlieren, werden wir von einem Heer winziger Skelettgarnelen umzingelt. „Monster der Mikrowelt“ nennt sie der Volksmund. Sie attackieren uns zu Hunderten, haben es insbesondere auf unsere Hände und Arme abgesehen. Nicht verwunderlich. Leben sie doch am Tau und verteidigen – einem inneren Instinkt folgend – nur ihr Revier. Kein Problem für uns, sie krallen sich zwar richtig fest, unsere dicken Neoprenanzüge können sie jedoch nicht durchdringen.

Peter Luckham war 2006 der Chef der Versenkung der Boeing 737.
Peter Luckham war 2006 der Chef der Versenkung der Boeing 737.

© Marc Vorsatz

Zehn Meter unter null. Wir lösen uns vom Seil und schweben der Boeing entgegen. Die Sicht ist mit nur sechs Metern eher bescheiden. Das ist der Preis für die verhältnismäßig warmen 14 Grad Wassertemperatur im ausklingenden Sommer. Die besten Sichtweiten mit bis zu 25 Metern im Winter bleiben den Hartgesottenen vorbehalten.

Aber was ist das denn? Ein fast mannsgroßes, undefinierbares Etwas nähert sich uns langsam, doch unaufhaltsam. Formen, die sich ständig verändern. Im Scheinwerferkegel unserer Xenonlampen leuchten sie gelblich rot. Eine Warnfarbe in der Natur. Zu Recht. Wir geben der Arktischen Löwenmähne freie Bahn. Zwar sind nur Teile unseres Gesichts ungeschützt, doch wollen wir schmerzhafte Verbrennungen durch die Nesselzellen der Feuerqualle unbedingt vermeiden.

Märchenwald aus einer fernen Galaxie

Schön, dass Sie mit uns geflogen sind!
Schön, dass Sie mit uns geflogen sind!

© Lisa Graham/Seadance Photography

Plötzlich zeichnet sich unter uns schemenhaft ein überdimensionales, abstraktes Gesicht ab. Helle Konturen, dunkle Augen. Muss wohl das Cockpit sein. Ja, die großen Augen sind die Fensteröffnungen. Dahinter saß einst die Crew. Mit drei kräftigen Flossenschlägen sind wir nah dran. Die Außenhaut des Fliegers ist fast vollständig mit kleinen Muscheln, vereinzelten Anemonen und filigranen Federsternen bewachsen.

Im Führerhaus haben einige handgroße Klippenbarsche das Ruder übernommen. Dachten wir zumindest. Wir stecken die Köpfe durch die Fenster – und bekommen einen Mordsschreck. Herr im Haus ist jemand anderes. Zwei kalte Augen fixieren uns regungslos. Distanz: grade mal ein Meter. Sie stecken in einem pitbullgroßen Schädel aus lebendigem Granit. Eine reale Schrecksekunde und eine gefühlte Ewigkeit später hat uns das Freiwasser wieder. Unser Tauchbuddy neben uns lacht herzhaft. Na klar, war doch nur ein Wolfsaal. Das einzig Gefährliche an diesem Urviech ist sein Äußeres. Vor Millionen von Jahren hat ihn anscheinend die Evolution einfach vergessen. Ein wahrhaft archaisches Bild gibt dieser Zeitgenosse ab.

Wir gleiten zur rechten Tragfläche. Sie ist komplett mit weißen und orangefarbenen Riesenseenelken überwuchert. Diese dicht gedrängten Anemonen erinnern mich an einen Märchenwald aus einer fernen Galaxie. Die kalte Welt überrascht mit ihren faszinierenden Farbspielen. Wir entdecken zwei Opaleszierende Nacktkiemer. Die daumengroßen Nacktschnecken sind ein Wunderwerk an Farbe und Form. Sie leuchten rot, orange, blau. Diese Pracht sucht ihresgleichen weltweit.

Kein Ort für Klaustrophobiker

Wo immer sich etwas Platz findet, haben sich Seesterne und Schneekrabben breit gemacht. Es wimmelt nur so von Leben an diesem künstlichen Riff. Das war nicht immer so. „Mehr als 100 Jahre lang hatte ein Sägewerk den Küstenstreifen von Chemainus nachhaltig geschädigt und den Meeresboden in eine schlammige Einöde verwandelt“, wird Peter nach dem Tauchgang erklären. „Mit unserer Boeing kamen langsam auch die Tiere und Pflanzen wieder. Heute ist sie das Zuhause von 123 wissenschaftlich dokumentierten Spezies. Tendenz steigend.“

Besuche im Cockpit, hier sind sie möglich.
Besuche im Cockpit, hier sind sie möglich.

© Lisa Graham

Vom Heck her dringen wir in den Passagierraum. Unser Ziel ist der vordere Ausgang am Cockpit, der sich irgendwo im Trüben verliert. Durch die beiden Fensterreihen dringt beidseitig diffuses Restlicht in die perforierte Röhre. Das Spiel von Licht und Schatten ist irritierend schön. Mit Lampen tasten wir unwillkürlich suchend und wider besseres Wissen die offenen Gepäckablagen ab. Ob vielleicht doch jemand etwas vergessen hat? Nein? Nein. Denn vor der Versenkung haben Freiwillige alles aus- und abgebaut, was später Taucher gefährden könnte. Sämtliche Türen beispielsweise, aber auch die Sitzreihen. Trotzdem kein Ort für Klaustrophobiker.

Hier drinnen, im Halbdunklen, ist die Vegetation recht spärlich. Auf dem Boden haben tellergroße Bogenkrabben Quartier bezogen. Wir bleiben dicht beieinander. Wenn jetzt irgendetwas passieren sollte, müssen wir uns gegenseitig helfen, die Situation an Ort und Stelle meistern. Langsam, aber sicher kriecht auch die Kälte in uns hoch. Was tut man sich nicht alles an für so einen Tauchgang der Extraklasse? Irgendwie fühlen wir uns befreit, als wir wieder nach draußen, ins gedämmte Licht schweben. Zugegeben, ein bisschen Stolz ist auch dabei.

Wir werfen einen letzten Blick auf die Boeing. Dann sind wir wieder zurück in unserer Welt, die wärmende Sonne strahlt uns ins Gesicht. Wie schön sie doch ist. Und im Book Nook Café duftet es verführerisch nach Espresso und frisch gebackenen Muffins. Zeit fürs Frühstück.

Marc Vorsatz

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