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Stolz aufs Monstrum. Susan Wilson, in Texas geboren, kam schon als Kind mit ihren Eltern nach Alaska. Später arbeitete sie als Blumenverkäuferin und Betriebsingenieurin bei der Trans-Alaska-Pipeline.

© Jessica Braun

Zug mit Frühstück: Schlafen auf Schienen

In Fairbanks, Alaska, hat sich Susan Wilson einen Traum erfüllt: ein Bed & Breakfast in ausrangierten Eisenbahnwaggons. Eine Ortsbesichtigung

Aus der geöffneten Tür des alten Eisenbahnwagens duftet es nach gebratenem Speck. Rue, die Labradorhündin, sitzt davor und hält ihre Nase schnuppernd in die Luft. Unten im Tal ist gerade die Spätsommersonne über dem Tanana River, einem Nebenfluss des Yukon, aufgegangen. Die Oberfläche des Flusses glänzt wie geschmolzenes Glas zwischen den Bäumen.

Susan Wilson winkt durch das Fenster des Abteils. Ihre Küche ist in einem der ausrangierten Eisenbahnwagen untergebracht, die auf einer Anhöhe in den Wäldern über Fairbanks stehen. Ihr Bed & Breakfast, der Aurora Express, ist eine der eigenwilligsten Unterkünfte im an Kuriositäten nicht armen US-Bundesstaat Alaska.

Mehrere Waggons, einen Caboose – ein für US-Züge typischer Begleitwagen, aus dem der Lauf des Zuges überwacht wird – , einen Kesselwagen und eine Lok der Alaska Railroad haben Susan und ihr Mann Mike in den vergangenen gut 20 Jahren aufgekauft und auf abenteuerliche Weise zu der Lichtung unterhalb ihres Wohnhauses transportiert. Bis auf die Lok sind alle restauriert. Der Triebwagen und drei Schlafwagen stehen als Unterkunft für Gäste bereit. Der Kesselwagen dient als Wassertank. Und im Salonwagen wird gekocht.

"Finde einen Caboose", sagte die Großmutter

„Guten Morgen“, begrüßt Susan die Neuankömmlinge, „nehmt euch Kaffee. Die Omeletts sind auch gleich fertig.“ Jeden Morgen steht die 63-Jährige auf, um ein echtes alaskisches Frühstück für die Gäste ihres B&B zuzubereiten: Sie schichtet wahre Rühreiberge auf, lässt Ahornsirup über Pfannkuchenplateaus fließen und vergräbt French Toast unter Sedimentschichten aus Zimt und Zucker. Währenddessen blubbert die Kaffeekanne wie ein Geysir. „Ich kann nicht für wenige kochen“, sagt Susan entschuldigend, als sie einem Paar aus Japan eine Schale Müsli hinstellt, die eine Großfamilie satt machen würde, „das habe ich nie gelernt.“

Im Frühstückswagen ist Platz für 16 Personen, doch gegen Ende der Saison sind selten alle Tische besetzt. Durch die Fenster des Abteils kann man den Fluss sehen, der sich in den Wäldern verzweigt.

Caboose. Mit dem Begleitwaggon fing’s an.
Caboose. Mit dem Begleitwaggon fing’s an.

© Jessica Braun

Aber auch drinnen gibt es einiges zu bestaunen. Auf dem Sideboard beleuchtet eine Stehlampe mit Totempfahlfuß die Ölporträts zweier rotwangiger Inuit-Mädchen. Von einem Schrank schaut ein Luchs mit Glasaugen herunter, den ein Kürschner in einen flauschigen Kopfschmuck verwandelt hat. Daneben steht eine mannshohe, in einen Poncho gehüllte Gestalt: ein ausgestopfter Kojote, dem Susan einen Strohhut aufgesetzt hat. Die Decke des Waggons ist in den Farben der Aurora Borealis, des grün-violetten Nordlichts bemalt, nach der das B&B benannt ist.

Die Einrichtung hat etwas Surreales. Vielleicht, weil Susan Wilson diesen Ort erträumt hat, bevor er Wirklichkeit wurde. „Eines Nachts erschien mir meine verstorbene Großmutter im Traum. Sie führte mich durch den Wald hierher“, erzählt Susan. „Ich erinnere mich genau, wie wir mit unseren Flanellnachthemden zwischen den Bäumen standen – und vor uns der Zug. ‚Finde einen Caboose‘, sagte meine Oma, ‚alles andere wird sich fügen.‘ “

Mit ihrer resoluten Art erinnert sie an eine Bärenmutter

Wer Susan gegenübersitzt, spürt: Diese Frau hat die nötige Willensstärke, um ihre Familie selbst durch den härtesten Winter zu bringen. Oder um in der Wildnis Alaskas Züge zu versetzen. Mit ihrer resoluten Art und dem tiefen Timbre in der Stimme erinnert die B&B-Besitzerin an eine Bärenmutter. Sie trägt eine graue Strickjacke über einem schwarzen T-Shirt. Ihre dichten grauen Haare hat sie auf Schulterlänge gekürzt.

Susan wurde in Texas geboren, kam mit ihren Eltern nach Alaska, als sie noch ein Kind war. Als junge Frau lebte sie im Dorf eines indigenen Stammes und arbeitete als Blumenverkäuferin, bis Mitte der 70er Jahre der Bau der Trans-Alaska-Pipeline begann. Für das gigantische Projekt wurden tausende Arbeiter gesucht. Zu Löhnen, die um ein Vielfaches höher waren als zu dieser Zeit üblich.

Susan bewarb sich und wurde als Betriebsingenieurin in ein Camp am Yukon geschickt. „Wir waren acht Frauen – davon vier Prostituierte – und 600 Männer“, erinnert sie sich. Es gibt ein Foto von ihr aus dieser Zeit: Eine attraktive blonde Frau posiert auf der Kühlerhaube eines Trucks, der auf dick verschneiter Straße steht. Über ihrem Kopf verläuft die Pipeline, eine haushohe silberfarbene Röhre. Sie reckt lachend die Arme nach oben, so als wolle sie das Monstrum tragen. Susan, die Unerschrockene.

Mike Wilsons schüchterne Art gefiel ihr

Bordello – Schlafkoje wie im Rotlichtbezirk.
Bordello – Schlafkoje wie im Rotlichtbezirk.

© Jessica Braun

Das Leben im Camp sei für sie und ihre Kolleginnen nicht ungefährlich gewesen, sagt sie. Aber unter den Arbeitern war einer, dessen schüchterne Art ihr gefiel: „Ich sagte zu ihm: ‚Wilson, du solltest mit mir zusammen sein.‘ “ Bis heute nennt sie ihren Mann Mike bei dessen Nachnamen.

Nachdem der Bau der Pipeline abgeschlossen war, kaufte das Paar ein Waldstück über Fairbanks, etwa 20 Minuten von Alaskas zweitgrößter Stadt entfernt. Sie bauten ein Haus, das sich als viel zu groß für sie und die beiden Kinder erwies. Sie begannen, Zimmer zu vermieten. Doch viele der Reisenden, die Fairbanks besuchten, buchten lieber Unterkünfte im Stadtzentrum. Bis sich Susans verstorbene Großmutter in die Träume ihrer Enkelin einmischte.

„Mein Traum wurde für meinen Mann zum Albtraum“, sagt sie und lacht. Nur wenige Telefonate und sie hatte ihren Caboose, den Begleitwagen gefunden: Ein Anwalt aus Fairbanks hatte seiner Frau das 20 Tonnen schwere Gefährt zum Hochzeitstag geschenkt. „Ich rief ihn an und sagte: Verkaufen Sie mir das Ding für 3000 Dollar und schenken Sie Ihrer Frau von dem Geld einen Pelzmantel. Dann übersteht Ihre Ehe vielleicht die nächsten zehn Jahre. Am nächsten Tag bekam ich einen Anruf seiner Frau. Sie bedankte sich bei mir und bat mich, den Wagen so schnell wie möglich abzuholen.“

Der Waggon rostete, vollgestopft mit Müll, auf einer Brache vor sich hin. Doch die Wilsons ließen sich nicht abschrecken. Mike postierte an jedem Ende einen Gabelstapler. Unter Susans Regie bugsierten er und ein Freund die Fracht damit aus der Stadt, zwölf Kilometer den Berg hinauf. Fünf Stunden dauerte die Fahrt. Dann stand der Begleitwagen auf der Lichtung, dort, wo Susan ihn sich erträumt hatte.

Pausbackige Putten und geblümte Kissen

Der Begleitwagen mit der Nummer 1068 ist in knalligem Blau und Gelb gestrichen, den Farben der Alaska Railroad. Mike Wilson hat ihn und die anderen Waggons auf Schienen gestellt, damit das B&B aussieht wie ein eben eingefahrener Zug.

Susan war für die Einrichtung zuständig. Am Nachmittag, als die anderen Gäste unterwegs oder abgereist sind, bittet sie zur Besichtigung. Sie öffnet die Stahltür des Wagens, mit dem alles begann. „Es war magisch“, sagt sie, „was immer mir dafür fehlte, fand sich irgendwie.“ Fragt man ihre Tochter Kaitlin, die im B&B mitarbeitet, fällt die Antwort pragmatischer aus: Susan sei flohmarktsüchtig, schleppe ständig neue Fundstücke nach Hause.

Die Einrichtung der Gästezimmer, eine Mischung aus Hippie-Schick und Boudoirstil, spiegelt das wider. Unter der goldfarben gestrichenen Kassettendecke des Caboose beleuchten Art-déco-Lampen ein Doppelbett mit geblümten Kissen. Der Boden ist mit rotem Teppich ausgelegt, Vorhänge trennen den Schlafbereich von Bad und Sitzecke. Letztere ist in dem Aufbau untergebracht, in den früher das Zugpersonal kletterte, um die Aussicht zu bewundern. Heute sei das der perfekte Platz, um die Aurora zu beobachten, sagt die Gastgeberin.

Jeder Raum des B&B ist anders. Im „National Emblem“, einem Pullmanwagen aus den Fünfzigern, sind die Sitze noch erhalten und mintgrün bezogen. Auch die Schlafkojen des einst luxuriösen Wagens sehen mit ihren Chromlampen und -armaturen aus wie früher. Im „Immaculate Conception“-Zimmer, benannt nach einer Kirche in Fairbanks, wachen eine Gottesmutter und pausbackige Putten über die Schläfer. Das „Bordello“ daneben erinnert mit Aktgemälden und Kristalllüstern an das mittlerweile verschwundene Rotlichtviertel der Stadt, das sich in direkter Nachbarschaft zur Kirche befand.

Sechs Tage schufteten sie, dann fielen die Wagen in eine Schneewehe

Susans Großmutter sollte recht behalten: Nur wenige Tage nachdem die Wilsons den Begleitwagen nach Hause gebracht hatten, bekamen sie telefonisch ein Angebot. Im 200 Kilometer entfernten Denali Nationalpark standen zwei Pullmanwagen zum Verkauf. Der Park hatte diese als Ferienunterkünfte genutzt und wollte sie nun loswerden. Für einen Dollar das Stück. Bedingung: Bis Februar mussten die Wagen verschwunden sein.

Weil sie sich kein Transportunternehmen leisten konnte, engagierte Susan einige Arbeitslose, die sie in einer Bar am Tresen aufgabelte – unter der Prämisse, dass diese sich für die Dauer der Aktion vom Alkohol fernhielten. Es war Winter, das Thermometer zeigte 40 Grad minus. Schnee lag auf den Straßen. Als die Wilsons mit ihren Helfern im Park ankamen, waren die Wagen festgefroren.

Sechs Tage schufteten sie, um die 25 Meter langen Pullmans flottzumachen und für den Transport mit Eisenplatten zu verschweißen. Dann hievten sie den ersten auf einen Truck, um damit nach Fairbanks zu fahren. Doch die Serpentinen im Nationalpark waren zu steil, der Boden zu eisig. Der Wagen kippte in eine Schneewehe. „Es dauerte eine weitere Woche, beide Wagen ins Tal zu bringen“, erinnert sich Susan. Auf die Frage, ob ihr Mann jemals Zweifel an dem Projekt geäußert hätte, antwortet sie: „Wahrscheinlich dachte er, ich will ihn umbringen. Aber je schwieriger eine Aufgabe ist, desto mehr legt er sich ins Zeug.“

Susan ist auf die Lok geklettert, ihren Neuzugang. Auch diese möchte sie in ein Gästezimmer verwandeln. „Noch schöner als die anderen“, sagt sie. Doch ihr Mann hat gesundheitliche Probleme, kann nicht so anpacken wie früher. Der Umbau muss warten, bis es ihm wieder besser geht. Susan lehnt sich auf das Geländer des Rangiertritts und blickt stolz ihren Zug entlang. Ganz am Ende, hinter dem Begleitwagen, steht ein haushohes Gerüst. „Mein Mann hatte die Idee, einen Berg mit einem Tunnel zu bauen“, erklärt sie.

Ein neues Großprojekt für das Paar. Wenn der Winter nicht zu früh kommt, könnte es noch in diesem Jahr fertig werden. „Wilson schafft das schon“, sagt seine Frau zuversichtlich. Sie glaubt an ihn. Wer einen 20 Tonnen schweren Caboose mit zwei Gabelstaplern transportieren kann, der kann sicher auch Berge versetzen.

Der Sommer wird blumig

BESTE REISEZEIT
Angenehmste Reisezeit für Sommerurlauber ist von Ende Juni bis Ende August. Allerdings ist dann Hochsaison, mit hohen Preisen und vielen Touristen. Daher bieten sich Mai, Anfang Juni und September als gute Alternative an. Allerdings muss im September gerade im Norden schon mit viel Schnee gerechnet werden.

ANREISE
Günstigste Variante derzeit (rund 900 Euro) mit Condor von Frankfurt/Main bis Seattle und weiter mit Alaska Air bis Fairbanks.

MIT DEM ZUG
Auf schmalen Gleisen unterwegs stoppt der Zug etwa in Seward, Anchorage, Denali und Fairbanks. Im Sommer täglich, im Winter nur an den Wochenenden. Eine Tour mit der Alaska Railroad lässt sich gut mit anderen Programmen kombinieren. Es gibt Ein-Tages-Programme sowie mehrtägige Arrangements. (Internet: alaskarailroad.com)

B&B AURORA
Ein Doppelzimmer Bed & Breakfast Aurora kostet ab 130 Euro inklusive Frühstück. Adresse: 1550 Chena Ridge Rd, Fairbanks, AK 99709, USA, Telefon: 001907/474/0949,

im Internet unter:

AUSKUNFT

Internet: anchorage.net

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